Endlich wieder zeitgemäße Kapitalismuskritik
Jean-Philippe Kindlers „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ plädiert für die Wiederentdeckung des politischen Menschen
Von Dafni Tokas
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt Menschen, die ihre Arbeitskraft jahrzehntelang gegen einen stagnierenden Lohn tauschen, um am Ende des Monats bestenfalls bei Null herauszukommen, und es gibt Menschen, die von Kapitalerträgen wie etwa Dividenden nicht nur leben können, sondern in ihren oft exponentiell wachsenden Aktiendepots auch noch genug Erspartes für ihre Kinder und Enkel zur Seite legen können. Es gibt Menschen, die ihre Miete gerade einmal so bezahlen können, und es gibt solche, die Häuser besitzen und behaupten, „Vermieter“ sei ein Job.
Nun aber zu glauben, Erstere könnten durch harte Arbeit und Disziplin zu Letzeren werden, ist zynisch und realitätsfern – so zumindest würde es Jean-Philippe Kindler sehen, dessen neues Buch Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf im November 2023 erschienen ist. Es handelt von uns allen, es meint uns alle, und zwar als ein „Wir“, nicht einzeln. Die Message: Nehmt die Gurkenmasken ab, erwacht aus der Meditation und verbündet euch wieder – jetzt ist Zeit für Revolte!
Mit seinem Buch fordert Kindler uns auf, insbesondere sechs Bereiche zu repolitisieren: Armut, Glück, Klimakrise, Demokratie, Linkssein und das gute Leben. Alle Begriffe klingen, als seien sie bereits politisch genug. Doch Kindler erläutert, inwiefern ihre politische Kontextualisierung dem Programm individueller Glücksmaximierung zum Opfer gefallen ist. In dem Buch geht es darum, wo genau die Schwachstellen einer Gesellschaft liegen, in der die steigende „Obsession mit dem eigenen Selbst“ – im Grunde eine pervertierte Folge des ohnehin irreführenden American Dream – das Gefühl für kollektive politische Verbundenheit und Verantwortung schwächt.
Anders gesagt neigen Menschen aller Generationen, insbesondere aber jüngere Menschen, mehr und mehr dazu, sich hinter spirituellen und selbstbezogenen Konzepten und Methoden zu verstecken, anstatt sich ein kritisches politisches Bewusstsein zu erarbeiten und dieses kollektiv zu erhalten: „Oder, um es polemisch zu sagen: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie wegzuatmen.“ Vom „Rückzug in die eigene Innerlichkeit“ mittels Meditation, Yoga, Achtsamkeitsübungen und Coaching hält Kindler nicht viel, weil sich auch in diesen Praktiken wieder einmal die Ideologie neoliberaler Eigenverantwortung institutionalisiere.
Die Diagnose: Während vorzugsweise ältere Menschen behaupten, durch harte Arbeit ließe sich alles erreichen und jüngere Menschen hätten einfach nicht genug Disziplin, verstecken sich viele ebendieser jüngeren Menschen hinter – sich selbst. Und ziehen sich damit nicht nur vor der Welt zurück, sondern auch vor kollektiver, wirksamer Veränderung. Sie machen es also im Grunde ganz so wie die Älteren. Individualismus, Identitätspolitik und Selbstliebe als Gegenprogramm zur konservativen, neoliberalen Scheindemokratie des „alten weißen Mannes“? Kindler hält dies für keine gute Antwort, denn beide Seiten begehen den gleichen Fehler: Erzählungen des sozialen Aufstiegs haben immer nur ein selbstwirksames Individuum als Protagonisten, aber nie eine soziale Gruppe, nie ein Kollektiv, nie ein System.
Was egalitär erscheint, ist also eigentlich nur wieder ein Effekt neoliberaler, konservativer Leistungsideologie: Wer wirklich glaubt, alle Menschen hätten die gleichen Chancen auf Erfolg, wenn sie sich nur genug anstrengen und ausreichend an sich arbeiten, der hat, so würde Kindler behaupten, den Sinn für die politische Realität verloren. Weder unser individuelles Glück noch unser Reichtum oder unsere Selbstwirksamkeit hängen allein von uns selbst ab.
Arbeitslosigkeit, Armut und die Ausbeutung von Mensch und Natur kann man also nicht im stillen Kämmerchen bekämpfen, indem man besser spart oder eine disziplinierte Morgenroutine einhält. Denn all diese Probleme folgen aus verfehlter Sozialpolitik und einer dysfunktionalen Demokratie, die vorgibt, die Bevölkerung veritabel an politischen Prozessen teilhaben zu lassen. Tatsächlich sind Armut und Reichtum „politisch geschaffen“, sie resultieren aus jahrhundertelangen Klassenkämpfen. Alle vier Jahre wählen zu gehen und zu ignorieren, dass es genügend Nichtwähler gibt, die den Glauben an demokratische Teilhabe längst verloren haben, hilft deshalb nur denen, die bereits über politische Macht und Kapital verfügen.
Eine besonders gute Beobachtung Kindlers ist es, dass auch Identitätspolitik(en) die Linke immer weiter auseinandertreiben und eine starke, politisch wirksame Gruppenbildung verhindern. Richtig sprechen, richtig essen, richtig sein – das alles scheint wichtiger als der Klassenkampf geworden zu sein. Doch es gibt nun einmal „alte weiße Männer“, die kaum Privilegien genießen, und es gibt Frauen mit Migrationshintergrund, die in Chefetagen sitzen. Das heißt nicht, dass es keine strukturelle Diskriminierung und marginalisierte Gruppen gibt. Es heißt aber, dass Identitätspolitik keine hinreichende Antwort auf die Probleme unserer Zeit bietet. Der Autor findet, persönliches Glück sollte keine Ware, kein Tool für den Einzelnen sein, um sozial aufzusteigen – schon allein deshalb, weil Glück ein subjektiver, inkonsistenter Begriff ist.
Eine weitere bemerkenswerte Kritik, die Kindler artikuliert, liegt in der Existenz ehrenamtlicher Vereine. Indem der Staat seine eigenen sozialpolitischen Aufgaben an die Zivilgesellschaft auslagert, die diese Aufgaben dann auch noch kostenlos übernimmt, kann er sich auf deren Leistungen ausruhen und muss nichts systematisch ändern. Besonders scharf kritisiert Kindler in diesem Zuge auch einige namhafte konservative Politiker, die sich gern mit den Leistungen Ehrenamtlicher schmücken, dann aber politisch weiterhin so verfahren, dass die Ehrenämter überhaupt nötig sind.
Kindler räumt mit vielen Märchen, die konservative Parteien verbreiten, sauber recherchiert auf und hält Fakten dagegen. Diskutiert wird beispielsweise gerne, wer sich auf dem Bürgergeld ausruht und wie ungerecht dies für diejenigen sei, die von niedrigen Löhnen und unzureichenden Renten leben – hier werden Arme gegen Arme ausgespielt, und das auf dünnem Eis. Und die potenzielle Faulheit jener Erben, die durch ihre reichen Eltern gleich ganz anders in das Leben starten als jemand aus der Arbeiterklasse, wird in unserer Gesellschaft deutlich seltener, um nicht zu sagen: so gut wie nie debattiert. Kindler hat für diese diskursive Schieflage in der Debatte zahlreiche Erklärungen, die lesenswert sind.
An anderer Stelle argumentiert Kindler ebenso sauber dafür, dass sich die Klimakrise nicht durch bekannte Marktmechanismen lösen lässt. Es ist wichtig, durch individuelle Handlungen und den eigenen Lebensstil Veränderung anzustoßen und vorzuleben, doch wenn die herrschenden Klassen behaupten, Nackensteak und Verbrennungsmotoren könne man weiterhin nutzen und der Markt könne das dann schon regeln, dann ist, so Kindler, das Vertrauen in diesen Markt irrational groß.
Kindler ist nun aber mitnichten ein individualistisches, genderverrücktes, linksradikales Schreckensgespenst der Konservativen – im Gegenteil: Er kritisiert seine eigene Generation scharf, so etwa die Warenförmigkeit der Liebe und die immer loser werdenden romantischen Beziehungen, in denen Commitment komplett ausgeklammert wird. Das aufgeblähte, sich selbst bemitleidende Ich unserer Zeit schafft es also sogar bis ins Schlafzimmer: Niemand will sich zu etwas oder jemandem bekennen, an etwas oder jemanden binden oder gar für jemand anderen politisch einsetzen. Denn wir scheinen betroffen, verletzt, übersensibel geworden zu sein. Ein wahrhaft politischer Mensch ist Kindler zufolge aber jemand, der von seinen eigenen Erfahrungen, Gefühlen und seiner persönlichen Situation abstrahieren kann und die Belange des Gegenübers so ernst nimmt wie die eigenen.
Was dem Buch aber aufgrund seines politischen Impetus und seiner klaren Lösungsorientiertheit fehlt, ist etwas Mitgefühl für jüngere Generationen: Tatsächlich könnte man es doch auch als ein Symptom sehen, dass junge Menschen überfordert von der Welt scheinen und sich immer mehr in sich selbst als einziges Residuum für Glück, Kontrolle und Sicherheit zurückziehen, anstatt sich an politische Schicksalsgemeinschaften oder wenigstens einen festen Partner zu binden. Es sind nicht Faulheit und Ignoranz, die so viele Menschen dazu bewegen, das Märchen von der individualistischen Glücksmaximierung zu glauben, sondern Erschöpfung und Überlastung angesichts pathologischer politischer Entwicklungen. Die verwestlichte Spiritualität und der neoliberale Traum von der Selbstoptimierung könnten demnach schlichtweg aus einem politischen Defaitismus resultieren. Denn gerade angesichts ihrer politischen Ohnmacht entscheiden sich mehr und mehr Menschen, sich eben in das einzige zurückzuziehen, auf das sie sich noch einigen können: sich selbst.
Das Buch erinnert in seiner Vorwurfshaltung gegen identitätspolitische Ideologien jüngerer, ichbezogener Generationen stark an Sahra Wagenknechts Die Selbstgerechten von 2021. Konservative und Neoliberale werden sich auch hier wieder an vielen Stellen freuen, dass individualistische, junge „Gutmenschen“ implizit zur Zielscheibe politischer Kritik werden. Zu hoffen bleibt, dass diese Leser gleichzeitig auch verstehen, wie sie selbst diese politische Apathie bei den Jüngeren hervorgebracht und befeuert haben. Sich wie viele junge Menschen nun auf das Ich zu besinnen und sich engagierten zwischenmenschlichen und politischen Beziehungsgeflechten zu entziehen, ist nicht die eigentliche Pathologie, sondern nur eine Komorbidität des bestehenden Kapitalismus. Es ist nicht ganz klar, ob Kindler das anerkennt.
Fraglich ist auch, ob die benachteiligten sozialen Klassen, an die das Buch unter anderem adressiert ist, den Appell überhaupt verstehen und hören wollen. Progressive und linke Bewegungen haben einen deutlich konstatierbaren Hang zu überreflektierter Selbstzersetzung, sodass verunsicherte Wähler lieber zu vermeintlich vielversprechenderen Parteien des konservativen und rechten Spektrums tendieren. Diese Parteien treten oft geschlossener auf und konstruieren einfache Feindbilder: Flüchtlinge und Sozialhilfeempfänger etwa. Konsistente Systemkritik ist deshalb leider gerade oft den Benachteiligten ein Fremdwort, die sie am dringendsten verbalisieren müssten.
Hat das Buch also eine Chance, politisch wirksam zu werden? Realistisch betrachtet nicht. Doch es ist gut, dass Kindler seine mutige, kompromisslose Kritik publiziert hat. Anders als der Verlag überspitzt behauptet, ist das Buch nicht „wütend“. Es hat nur einfach recht. Angesichts des gesellschaftlich immer noch dominanten, komatösen und veränderungsresistenten Konservatismus erscheint vielleicht jeder radikale Vorschlag emotional – doch Kindlers Buch ist durchaus vernünftig, rational und schließlich dringend empfehlenswert.
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