Drei Erzählungen aus der Maardamer Welt
Mit „Ein Fremder klopft an deine Tür“ kehrt der schwedische Bestsellerautor Håkan Nesser noch einmal in vertraute Gefilde seines literarischen Kosmos zurück
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMaardam heißt jener fiktive europäische Ort, der dem schwedischen Bestsellerautor Håkan Nesser seit dem ersten Auftreten seines Kommissars Van Veeteren in Das grobmaschige Netz (1993, deutsch 1999) häufig als geografischer Hintergrund seiner Romane und Erzählungen gedient hat. Jetzt hat Nesser unter dem Titel Ein Fremder klopft an deine Tür „drei Fälle aus Maardam“ gebündelt, in denen Van Veeterens Nachfolger bei der Maardamer Kriminalpolizei, die Kommissare Reinhart und Jung, gelegentlich auftauchen, ohne die Texte zu dominieren. Deren Gemeinsamkeit besteht in der Rätselhaftigkeit des jeweils Erzählten und in der Tatsache, welche ungeheuren, über Leben oder Tod entscheidenden Wirkungen eine kleine, fast nebensächliche menschliche Entscheidung nach sich ziehen kann.
Wenn beispielsweise just am Valentinstag eine anonyme Nachricht von einem „heimlichen Bewunderer“ eintrifft – darf man sich dann geschmeichelt fühlen? Die 35-jährige Schulsekretärin Anna Kowalski zumindest tut das. Denn der bei der Nachricht liegende Schließfachschlüssel, der sie zu einer Rose und einem Fläschchen Sekt führt, verspricht Abenteuerliches für die Zukunft. Und weil es in Annas Ehe mit einem biederen Kartonfabrikanten bereits seit Jahren nicht mehr so richtig prickelt, glaubt sie, sich berechtigte Hoffnungen auf eine Änderung ihrer persönlichen Situation machen zu können. Dabei ist nicht einmal klar, ob Nachricht und Schlüssel überhaupt für sie bestimmt waren. Denn der Umschlag, den sie ohne zu zögern an sich genommen hat, lehnte genau auf der Hälfte zwischen ihrer und der Wohnungstür ihrer um zehn Jahre jüngeren Nachbarin Wilma Verhoven an der Treppenhauswand. Und dass Wilma eine heiße Nummer ist und keine Gelegenheit auslässt, ist Anna nur zu bewusst.
Wenn Geschichten so beginnen, legt man sie natürlich nicht beiseite. Da zudem das galante Zeitalter weit hinter uns liegt, wir im nüchternen 21. Jahrhundert leben und es obendrein mit einer Erzählung des schwedischen Bestsellerautors Håkan Nesser zu tun haben, ist das Weitere schon erahnbar, lange bevor es tatsächlich eintritt. Und Nesser enttäuscht uns auch diesmal nicht. Denn kurz darauf – inzwischen hat sich ein zweiter Brief mit einem Rendezvous-Vorschlag eingefunden – findet die Polizei Wilma Verhoven ermordet in ihrer Wohnung. Worauf Anna sich nicht nur fragen muss, ob die beiden Briefe, der Schließfachschlüssel und alles andere nicht doch für Wilma bestimmt waren, sondern auch, ob ihr nun nicht das Gleiche bevorsteht wie der unglücklichen Nachbarin.
Bewunderung heißt diese erste von drei Erzählungen im vorliegenden Band. Sie behandelt ein Thema, das sich auch in den beiden anderen Texten finden lässt: die Diskrepanz zwischen Hoffnung und Erfüllung, Erwartung und Enttäuschung. Denn Anna Kowalskis Sehnsucht nach dem großen, lebensverändernden Abenteuer jenseits der Tristesse ihres Alltags endet natürlich in einer Katastrophe.
Für den namenlosen 65-Jährigen, der im Mittelpunkt der zweiten Erzählung des Bandes mit dem Titel Buße steht, liegt der Tiefpunkt seines Lebens bereits lange Zeit zurück, ohne dass er über jene Tragödie, die ihn seine Familie kostete, je hinweggekommen scheint. Aktuell hat er sich jedenfalls ein abgeschiedenes, auf dem Land liegendes Bauernhaus gekauft, zwei Pferde von einem verstorbenen Nachbarn übernommen und sich damit abgefunden, dass sich in seinem Leben nicht mehr allzu viel ereignen wird. Die in sich versunkene Gymnasiastin, die ihm auf seinen regelmäßigen Busfahrten in die nächstgelegene Kleinstadt immer wieder begegnet, interessiert ihn zunächst nur, weil sie ihn an die Tochter erinnert, die er einst hatte. Doch als er merkt, dass jene Fremde unglücklich ist und jeder Weg zurück zu ihrem einsam gelegenen Wohnort sie große Überwindung kostet, fasst er einen mörderischen Entschluss, um sie aus der Gewalt von zwei Männern zu befreien, die offensichtlich die Ursache ihres Unglücks darstellen.
Bleibt noch Judith Miller. Die 45-jährige Fremdsprachenlehrerin hat einmal in ihrem Leben eine spontane Entscheidung getroffen. Deren Ergebnis ist ihre in einem Monat volljährig werdende Tochter Nora. Die hat mit dem Fragen nach der Identität ihres Erzeugers in dem Moment aufgehört, als die Mutter ihr versprach, an ihrem 18. Geburtstag dieses gut gehütete Geheimnis zu lüften. Dass der ominöse Vater kurz vor diesem Datum in einer Haftanstalt verstirbt, scheint das notwendige Geständnis für Judith auf den ersten Blick leichter zu machen. Doch der Mann hat der Frau, die ihm einst ohne zu fragen Unterschlupf für eine Nacht gewährte, einen wertvollen Schatz hinterlassen: die bis dato noch nicht gefundenen Goldbarren aus einem brutalen Überfall. Eine riskante Erbschaft, denn jener Felix Sandor hatte zwei Komplizen, als er seine Tat beging. Und einer der beiden will partout nicht einsehen, warum er, der jahrelang im Gefängnis stillgehalten hat, jetzt um seinen Anteil an der Beute gebracht werden soll.
Mit Ein Fremder klopft an deine Tür kehrt Håkan Nesser in die Welt jener Romane zurück, mit denen er sich weltweit einen Namen machte. Die drei Geschichten, die er rund um jenes Maardam erzählt, das inmitten einer Gegend liegt, der Nesser die Züge mehrerer europäischer Länder gegeben hat, so dass eine genaue geografische Zuordnung nicht möglich ist, haben nichts Spektakuläres an sich. In allen drei treten Personen auf, die beruflich mit dem Maardamer Erasmus-Gymnasium zu tun haben: Anna Kowalski arbeitet dort halbtags als Sekretärin, die männliche Hauptperson aus Buße hat, bis er auf tragische Weise seine Familie verlor, dort unterrichtet und Judith Miller versieht am gleichen Ort seit siebzehn Jahren eine Stelle als Lehrerin für Englisch und Französisch.
Dass Nesser hier eine kleine private Anspielung versteckt hat, da er, bis es ihm die Einkünfte aus seinen Van-Veeteren-Romanen erlaubten, nur noch für das Schreiben zu leben, ebenfalls als Lehrer tätig war, darf man getrost vermuten. Und wenn Judith Winter an einer Stelle darüber raisoniert, ob es wohl intelligent wäre, „in Pension [zu] gehen als eine ehrenwerte, aber abgearbeitete, alte Sprachjungfer, die sich entschieden hatte, bei ihren Leisten zu bleiben, weil sie sich niemals dazu hatte aufraffen können, nach etwas Besserem zu suchen“, sind das sicher auch Gedanken, die ihren Erfinder einstmals umtrieben. Denn was wäre das schon für ein Leben, dessen allzu gerade Bahnen man nicht ab und zu auch einmal verließe?
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