Das Land, in dem die Sterne vom Himmel fielen

Adam Soboczynski verteidigt in „Traumland“ die liberalen Werte unserer Demokratie

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erfolgreich bedient der Germanist, Schriftsteller und Journalist Adam Soboczynski das Genre des erzählerischen Sachbuchs. Der Untertitel seines 2023 erschienenen Buchs Traumland lautet Der Westen, der Osten und ich. Mit wenigen Worten ist das Programm umrissen: Der in Polen geborene Autor blickt aus der Ostperspektive auf „den“ Westen entlang der Lebensstationen, die ihn von seiner Geburtsstadt Toruń an der Weichsel über Koblenz und Bonn schließlich nach Berlin und Hamburg geführt haben.

Das Sehnsuchtsziel der Familie, ihr Traumland, ist Niemcy, Deutschland, genauer: Westdeutschland. „Wenn jemand von Niemcy sprach, dann meinte er selbstverständlich die Bundesrepublik. Die seltsame DDR war der Stasi- und Polizeistaat dazwischen, viel rigider als Polen, viel ärmer als Niemcy.“ Bedrückt vom Stillstand, wenn nicht sogar einem unaufhaltsamen Abstieg im eigenen Land, erscheint Niemcy als das Paradies: Niemals mehr Schlange stehen! Aufgrund deutscher Vorfahren der Mutter erhalten die Eltern mit ihren beiden Kindern eine Ausreisegenehmigung. Im September 1981 brechen sie aus Polen auf. Da ist der Autor gerade sechs Jahre alt, sein Bruder nur wenige Monate. Ein Taxi – kein Fiat Polski, ein Mercedes, was für ein Omen! – bringt sie zum Bahnhof. Mit dem Zug geht es nach Posen, und von dort aus weiter nach Deutschland. „Wir sind nicht geflohen“, schreibt Soboczynski, „es gibt in dieser Geschichte keine Helden.“

Das Buch setzt jedoch nicht mit der Ausreise aus Polen ein, dem eigentlichen Beginn der Ost-West-Geschichte des Autors. Einleitend skizziert Sobiczynski die Weltlage im September 1981. Er führt die „stümperhaft“ ausgeführte Flugzeugentführung in Jugoslawien auf, den Tod von Albert Speer und Jacques Lacan, die Wiedervereinigung von Simon & Garfunkel und ihr Konzert vor 500.000 Zuschauern im Central Park, New York, sowie den Erfolg Chinas in der Weltraumforschung; auch vergegenwärtigt er der Leserschaft, dass der damalige Präsident der Vereinigten Staaten Ronald Reagan war und Leonid Breschnew der Generalsekretär der KPdSU.

Charakteristisch für Soboczynski ist, dass er den Blick auf die große Politik eng führt mit Nachrichten aus der populären Musikszene oder einem Ereignis, das im besonderen Aufmerksamkeitsfokus der Yellow Press stand: „Unglücklicherweise hatte Lady Di Prinz Charles geheiratet. Sie galten damals als das Traumpaar der Welt.“ Hinsichtlich der Aufzählung der ironisch kommentierten Fakten beruft sich der Autor auf neutrale Quellen: Mit „Die Chroniken für den September 1981 berichten“ beginnt der erste Satz des ersten Kapitels. Damit wird von Anfang an die Spannung aufgezeigt, die das Genre des erzählerischen Sachbuchs ausmacht, ein Ineinandergreifen von Bericht, subjektivem Erleben und Bewerten des Zeitgeschehens. Im Schlusskapitel, „Der Anfang“ betitelt, wiederholt sich das Verfahren. Der erste Satz nimmt die Formel auf, die das Buch eröffnet hat: „Die Chroniken für den Februar 2022“. So schließt sich für den Autor der biographische Kreis: „In meiner Kindheit war der Freiheitskampf der Polen viel unblutiger gewesen“, schreibt Soboczynski, „aber meine Eltern und meine polnische Familie wollten genauso wenig im Einflussbereich eines brutalen, wirtschaftlich wie kulturell hinfälligen Imperiums leben wie heute die Ukrainer, die Belarussen und Georgier.“

Zurück zum ersten Kapitel des Buchs, an dem sich exemplarisch Soboczynskis Vorliebe für das Verschränken verschiedener Zeitebenen und Perspektiven nachvollziehen lässt. An das Resümee aus den Chroniken für den September 1981 schließt sich eine Vorschau auf die Ereignisse an, die Polen nur drei Monate nach der Ausreise der Familie erschüttern sollten: Militärputsch, Verhängung des Kriegsrechts, Terror gegen das aufbegehrende Volk. Erst nach dieser Vorschau, die dem Leser die Dramatik der damaligen politischen Situation in Polen vor Augen führt, folgt die kurze, oben bereits erwähnte Darstellung des Aufbruchs der Eltern, die wiederum in eine Rückblende mündet: Schon 1970 war der Vater im Alter von 21 Jahren als Teilnehmer an den Streiks auf der Danzinger Leninwerft Zeuge der Brutalität des Eingreifens des Militärs während der Unruhen gewesen. Der Rückblick gilt auch den alltäglichen Lebensumständen in der Heimat, die man im Begriff ist zu verlassen, der 48 qm großen Dreizimmer-Wohnung mit Heizung und Innen-WC in einem viergeschossigen Plattenbau einer Arbeitersiedlung der Chemiefabrik Elana, in der der Vater als Maschinenbautechniker arbeitete. Für die Eltern, die „elenden Dörfern am westlichen Rand der masurischen Seenplatte entkommen waren“, stellte diese Wohnung einen gewissen Luxus dar.

Die Ankunft in Deutschland bedeutet zunächst, in einem Aufnahmelager im niedersächsischen Friedland zu leben, der Sechsjährige hell empört über die Schlangen an der Essensausgabe. Doch dann, als die Familie nach Koblenz zieht und einen eigenen Hausstand in einer geräumigen Wohnung gründet, wird das Märchen Niemcy Wirklichkeit: Da ist der orange glänzende Ford Capri, wenn auch nur ein Gebrauchtwagen, der rasch ersetzt werden muss, da sind die Pommes, die Tiefkühlpizzen, der Toast Hawaii, die Chio Chips Paprika, das Fürst-Pückler-Eis. Man erinnert ein im Jahr 2000 erschienenes Buch, Generation Golf von Florian Illies, eine „Inspektion“ der 1980er und 90er Jahre aus westlicher Perspektive, die vergleichbar an Konsumikonen orientiert war. Nutella, Playmobil, Adidas-Allround-Turnschuhe und nicht zuletzt der die Generationen verbindende Golf prägten die Kindheit und das Erwachsenwerden des Autors. Nicht erwähnenswert waren für Illies eine funktionierende Müllabfuhr, warmes Wasser oder Elektrizität; aus östlicher Sicht ist diese im Westen selbstverständliche Infrastruktur Teil des Märchens Niemcy, das erst recht wahr wird beim Anblick von belebten Fußgängerpassagen und vollen Warenauslagen, „ein Rausch der Sinne“, scheibt Soboczynski. Mit zunehmender Erfahrung bekommt die schöne Fassade Risse:

Im Westen signalisierten die Gedenktafeln, die Prothesenträger und die Mahnmale, die Straßen- und die Schulnamen sowie die eilig errichteten Nachkriegsbauten, dass kriegerische Zeiten in einer fernen Vergangenheit lagen. Doch wenn man aus Polen kam und für Besuche in die Heimat wieder die hoch gesicherte Grenze passierte, ahnte man schon als Kind, dass der Krieg nur eingefroren war.

Wenn auch immer wieder von Rückblenden, Vorgriffen und Reflexionen der Schreibgegenwart unterbrochen, erzählt der Autor weitgehend in chronologischer Reihenfolge von seiner Schulzeit, seinem Studium der Germanistik und Philosophie in Bonn, dem beruflichen Sich-Etablieren in Berlin und Hamburg sowie seinen Reisen in die alte Heimat der Eltern, nach Paris, London, Moskau, Spanien oder Georgien, dabei das Zeitgeistige in vielen detailreichen Beobachtungen veranschaulichend, verspottend und gleichzeitig von unterschiedlichen Zeitebenen aus relativierend. Es ließe eine endlose Reihe peinlicher, grotesk-komischer Beispiele aus der „Hallo-Herr-Kaiser-Welt“ im Westen aufzählen, das „Draußen-nur-Kännchen“-Reglement oder der gehäkelte Klopapierhut im Auto oder die weißen Socken zu Herrensandalen wie auf einem Foto des Ehepaars Kohl am Wolfgangsee oder nach dem Mauerfall die „Gruselhymne von den Skorpiens namens ‚Wind of Cange‘“. Die ländlichen Gebiete im Osten sind mit der Überfülle von Speisen auf dem Tisch bei den Familienfesten charakterisiert, dem Aal in Aspik mit “Konterwodka“ und „Konterbier“ zum Frühstück oder dem „Herzen, Küssen und Gedrücktwerden“ beim Abschied, die Städte mit wilden Werbeschildern, aufblinkenden bunt-grellen Leuchtreklamen, „Kebap ohne Türken“ und „Schawarma ohne Araber“. Es ist der Blick für das Surreale, der das Buch ausmacht, dazu tief gehängte, knappe Statements, etwa wenn der Autor von seiner Ankunft auf dem Flughafen in Moskau im Juni 2016, zwei Jahre nach der Annexion der Krim, erzählt:

[…] und als wir landeten inmitten dieser so flachen Landschaft, war der moderne Flughafen groß und leer und hell. Der Überfall auf die Ukraine schien dem Tourismus doch ordentlich zu schaden. Vereinzelt nur rollten Passagiere ihre Koffer über die ausgeleuchteten Gänge. In der Eingangshalle stand ein großer Automat mit Putin-Souvenirs: Putin-Schirmmützen und Putin-T-Shirts, die ihn im Hawaiihemd und mit Cocktail in der Hand auf der Krim zeigten, und ich war mir für einen Moment nicht sicher, ob die vulgäre Vermarktung des Präsidenten nicht doch ein subversiver Akt war. Wahrscheinlich nicht.

Schon für das 2006 erschiene Buch Polski Tango hat sich Soboczynski auf die Suche nach Zeugen seiner Vergangenheit begeben und so die Ost-West-Perspektive aufgefaltet. Unter den Erfahrungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine kommt in sein neues Buch Traumland ein anderer Ton hinein. Durchgängig ist der Krieg im Buch präsent und bestimmt die Schreibsituation: „Während ich an diesem Kapitel schreibe, attackiert Russland Kraftwerke in der Ukraine, bombardiert Zivilisten und schmeißt seine Soldaten als Kanonenfutter an die Front“. Was vorher nur skurril gewirkt haben mag oder schlichtweg verdrängt worden ist, die Klischees, die sowohl die Ost- wie auch die Westperspektive geprägt haben, die Fokussierung auf den wirtschaftlichen Erfolg, die das politische Handeln im Westen viele Jahre bestimmt hat, erweist sich im Licht der aktuellen Ereignisse als Verhängnis. Alle, schreibt Soboczynski, hätten gewusst, dass sie am Rande eines gewaltbereiten Imperiums lebten.

So vergnüglich sich das Buch wegen der Wieder-Erinnerung an zeitgeschichtliche Absurditäten, der pointierten Formulierungen und der Selbstironie des Autors liest, das Lachen bleibt im Halse stecken. Wäre da nicht eine tiefe Überzeugung der Unabdingbarkeit von menschlicher Freiheit und vernunftbegründeter Handlungsfähigkeit. Der Autor bezieht sich auf eine Vorlesung über die Aufklärung während seines Studiums an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, die ein Professor „mit etwas längeren Haaren, vergleichsweise lässig gekleidet, jedenfalls krawattenlos“ gehalten habe. Sein Name bleibt im Buch ungenannt, doch ist er unschwer als der aus Irvine und Davis, Kalifornien, in die rheinische Provinz zurückgekehrte Germanist Helmut J. Schneider zu identifizieren, der in diesem Jahr, 2023, seinen 80. Geburtstag gefeiert hat. Er habe, schreibt Soboczynski, Lessing, Nathan der Weise, mit einem einzigen Satz aus dem Drama erklärt:

Ein Mann wie du, bleibt da
nicht stehen, wo der Zufall der Geburt
ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt,
bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern.

Die Kultur, so die Ausführung des Professors, triumphiere in Lessings Werk über die Herkunft. „Das waren Gedanken, die mir auf Anhieb gefielen“, kommentiert Soboczynski, „handelte Lessings Drama doch letztlich von meinem eigenen Lebensweg und dem meiner Eltern, vom blinden Aufbruch aus Polen, dem sozialen Aufstieg durch Arbeit und Bildung, dem Entrinnen des Zufalls der Geburt.“ Mehrfach kommt der Autor auf das Lessing-Zitat zurück, so auch, wenn er von einer Reise nach Georgien erzählt, beeindruckt vom Freiheitsdrang der jungen Menschen dort: „Man bleibt da nicht stehen, wo der Zufall einen hingeworfen hat.“

Eine Anmerkung zur Buchgestaltung am Schluss. Auch bei nur 17 Kapiteln wäre ein Inhaltsverzeichnis willkommen gewesen, stattdessen Verlagswerbung auf drei freien Blättern, einseitig bedruckt, schade.

Titelbild

Adam Soboczynski: Traumland. Der Westen, der Osten und ich.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023.
176 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783608986389

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