Überrollt von der Macht der Menge
Juan Gabriel Vásquez‘ Roman „Wenn es an Licht fehlt“ rückt den Revolutionär und Filmregisseur Sergio Cabrera ins Zentrum
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseObwohl ihn Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren hochgelobt hat und seine Romane schon in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez hierzulande noch weitestgehend unbekannt. In deutscher Übersetzung waren zuvor der Roman Die Reputation (2016) und die Erzählungen Lieder für die Feuersbrunst (2021) erschienen. Sein neuer Roman Wenn es an Licht fehlt verknüpft eine Familiengeschichte mit der Weltpolitik – mit dem China während der Kulturrevolution und den politisch instabilen, von blutigen Kämpfen geprägten Verhältnissen in Kolumbien.
Es geht um das Leben des einstigen Revolutionärs und Filmregisseurs Sergio Cabrera, den Autor Vásquez getroffen hat und dessen Vita er in Romanform rekonstruiert. Nicht immer nur den Fakten, manchmal auch der dichterischen Intuition folgend. „Das hat für mich eine enorme Verantwortung bedeutet, das Leben von jemandem zu erzählen, der noch lebt, aber es wie einen Roman zu erzählen“, hatte der 50-jährige Juan Gabriel Vásquez in einem Interview erklärt. Es ist ein Leben im Rückspiegel, und der Roman beginnt mit Sergios Besuch einer Retrospektive seiner Filme. Der spanische Originaltitel „Volver la vista atrás“ (Den Blick zurück richten) bringt die Handlung erheblich treffender auf den Punkt.
Der Roman weicht in ausschweifenden Rückblicken weit über Sergios Leben hinaus, beschäftigt sich auch mit dem Leben seines Vaters Fausto, eines bekannten Schauspielers und fanatischen Kommunisten. Er war einst vor Franco aus Spanien nach Kolumbien geflohen, hatte dort das Fernsehen mit aufgebaut und war als „Experte“ in den 1960er Jahren zu Besuch in China. Ein Einschnitt im Leben der Cabreras, denn Fausto verfällt dem Maoismus, sein Sohn Sergio und dessen Schwester Marianella werden im chinesischen Schulsystem und mit der außerschulischen, beinahe para-militärischen Ausbildung groß.
Sie wachsen (unter dem starken Einfluss ihres Vaters) heran, der seine Kinder für die Guerilla-Bewegung im Untergrund Kolumbiens ausbilden lassen will. „Die Macht der Menge überrollte ihn“, heißt es über den jungen Sergio, der mit 15 Shakespeare gelesen und Verdi gehört hat und in seiner Jugend ein aufreibendes Leben zwischen den Extremen geführt hat.
Autor Juan Gabriel Vásquez hat den kurvenreichen Weg vom großen Idealismus in den politischen Fanatismus nachgezeichnet – die Etappen zwischen Weltverbesserer und Revolutionär. Sergio und seine Schwester Marianella kehren 1968 nach Kolumbien zurück – dort zunächst genauso fremd wie in China. Zwei Kinder, die von ihrem Vater ideologisch ins Verderben getrieben wurden.
Am Ende sind die Kinder desillusioniert, arrangieren sich (schweren Herzens) mit den korrupten Verhältnissen in Kolumbien und bleiben als Verlierer zurück, als Individuen, deren Jugend „verbrannt“ wurde – irgendwo zwischen Weltverbesserer-Eifer und blindem Fanatismus.
Es ist äußerst schwierig, all die Handlungsfäden, die verschiedenen Orte und Nebenfiguren unter einen Hut zu bekommen, aber bei Vásquez passt es vorzüglich. Er hat viele politische Strömungen und unterschiedliche Ideologien in dieser Rückschau eingefangen, ohne den moralisierenden Zeigefinger zu erheben. Vásquez bewahrt auch eine wohltuende Distanz zu seinem Protagonisten.
Wenn es an Licht fehlt ist kein literarisches Fast-Food-Menü, man muss sich darauf einlassen, Muße mitbringen und einige Erzählschlenker tolerieren. Dieser Roman ist wie eine Fahrt auf dem Riesenrad der Weltgeschichte, es geht ständig auf und ab, wir erleben Höhen und Tiefen – und das mit atemberaubendem Erzähltempo.
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