Nach der Apokalypse

Der „Untier“-Autor Ulrich Horstmann legt eine „Auslese“ vor

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ulrich Horstmann ist ein Phänomen, und das nun schon seit einigen Jahrzehnten. Der mittlerweile pensionierte Professor für Englische und Amerikanische Literatur an der Universität Gießen hat seine Beschäftigung mit Texten immer dreifach betrieben, als Philosoph (sein zweites Studienfach war die Philosophie), als Literaturwissenschaftler (darunter als Herausgeber und Übersetzer) und als Schriftsteller. Nach der 1975 erschienenen Dissertation Ansätze zu einer technomorphen Theorie der Dichtung bei Edgar Allan Poe folgten kaum noch zählbare Buchveröffentlichungen in allen drei Sparten, von Aufsätzen und Artikeln ganz zu schweigen. Am berühmtesten ist immer noch – Horstmann wird so wie einst Goethe unter dem Ruhm des „Werther“ darunter gelitten haben und womöglich auch noch leiden – Das Untier: Konturen einer Philosophie der Menschenflucht. Auf das zunächst 1983 in einem kleinen Verlag mit dem passenden Namen Medusa erschienene Bändchen wurde der seinerzeit den Ton im Diskurs über Literatur und Wissenschaft angebende Suhrkamp-Verlag aufmerksam und druckte es 1985 in der Reihe „suhrkamp taschenbuch“ nach. Die späte Wiederauflage 2004, wieder in einem kleinen Verlag, hat das vergriffene Bändchen den neuen und alten Fans noch einmal zugänglich gemacht.

Horstmanns Plädoyer für eine „mythisch-anthropofugale Weltwahrnehmung“ hat zu erhitzten Diskussionen in den Feuilletons und zwischen den Intellektuellen der Zeit gesorgt (bspw. im Spiegel) und er hat diesen Schwung klug genutzt, sich unter den Pseudonymen Horst-Ulrich Mann und Klaus Steintal zwei Alter egos geschaffen und das letztere sogar höchst eigenschriftlich umgebracht. (Wer mehr darüber wissen möchte, wird auf einer Horstmanns Werk gewidmeten Internetseite fündig.) Der Selbstmord der Figur Steintal korrespondiert mit der Forderung im Untier, der Mensch möge doch konsequent seine Entwicklung zum bitteren Ende führen und sich endlich selbst abschaffen, sich der „Vernichtung überantworten, die aller Not ein Ende bereitet“. Fortan wird gerätselt: Hat er das wirklich ernst gemeint oder ist das Ganze nur eine kluge, immer weiter ausgebaute Satire, mit denen die Leser*innen wachgerüttelt werden sollen? Die Mehrheit der Leser*innen, zumindest der philosophisch und literarisch gebildeten, hat die zahlreichen intertextuellen Verweise auf Dichter und Denker der Jahrhunderte entdeckt und sich in der Regel für die letztere Position entschieden.

Das Horstmann-Universum zu erschließen kann nicht Aufgabe dieser kleinen Besprechung sein, zumal auch im Band nicht deutlich wird, ob die Auslese eine Auslese aus früheren Veröffentlichungen oder aus jüngeren Schreibarbeiten darstellt oder ob damit lediglich auf das metaphorisch gemeinte Auslesen des Flugschreibers angespielt wird – vielleicht ist es auch alles auf einmal. Die post-apokalyptische Tendenz, der sich Horstmann verpflichtet fühlt, wird dabei schon im Titel ebenso plakativ wie originell deutlich, denn wenn ein Flugschreiber gefunden wird, ist das Unglück geschehen und es kann nur noch um Ursachenforschung gehen.

Der Band ist unterteilt in drei Abschnitte: „Stimmenrecorder“, „Profilrecorder“ (ein anderes Wort für Flugschreiber) und „Ins Vogelfreie“. Gemixt werden Gedichte, kürzere – aphoristische – und längere Prosatexte. Zumeist handelt es sich um Reflexionen über die wahrnehmbare Realität aus einer radikalen Ich-Perspektive, auch über die eigene Autor-Position. Ironie ist das am häufigsten aufzufindende Stilmittel, das allerdings in Kombination mit unterschiedlichen Schreibstilen erzeugt wird, vom Kalauer bis zum Zynismus, vom saloppen Reim bis zur komplexen Anspielung auf Texttraditionen. Mit „Mach jetzt bloß / nicht schlapp, bring dich auf / Trapp, denn die Post, die geht ab“ klingt es einerseits beschwingt, um andererseits abgründig zu konstatieren: „Wegen absehbar / hoher Nachfrage entscheidet / das Los über das Los“. Der erste Eintrag des „Profilrecorders“ lautet lapidar: „Soviel, Herrschaften, zu meiner Mission: Auf hergelaufenen Kamelen transportiere ich den Sprit zum Betrieb des Generators zur Erzeugung des Stroms für die Verstärkerboxen des Rufers in der Wüste.“ Weniger ernst, aber nicht weniger hintergründig klingen Fragen wie: „Ob für das seelische Gleichgewicht die Seifenblase ebenso unverzichtbar ist wie das Luftbläschen für die Wasserwaage?“

Auch die derzeit tobenden Kriege und Konflikte finden Eingang in die Texte, etwa in das „Mainachtslied (2022)“. Dabei wird auch immer wieder, neben der Tradition (mit Schopenhauer oder Beckett), die eigene Schreib-Motivation angesprochen: „Die atomaren Verwüstungsszenarien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben mich in einen Erkunder und Forschungsreisenden der Menschenleere verwandelt […]“. Vor allem in der Dummheit der Menschheit werden die Wurzeln für deren Tendenz zur Selbstauslöschung ausgemacht: „Die Formulierung ‚sich entblöden‘ ist hoffnungslos veraltet. Also fehlen einem bei dem damit beschriebenen und keineswegs ins Hintertreffen geratenen Verhalten die Worte“. Der galoppierende „Größenwahn“ wird vor allem bei den Entscheidungsträgern festgestellt: „Es gibt Milieus, in denen die Hochstapler schmerzlich vermißt würden, zum Beispiel Parteitage oder Lagerhallen“. Sprachreflexionen werden häufiger mit der ironischen Formulierung „Deutsch als Fremdsprache“ eingeleitet.

Nicht ganz unproblematisch ist die mehrfach dezidiert und etwas gallig vertretene Position, das Gendern sei „Sprachverhunzung“. Hier fällt die feine bis grobe Ironie aus dem Rahmen und wird vielleicht ernster, als es ihr zusteht. Doch die spielerischen Sarkasmen sind bei Weitem in der Mehrzahl, darunter der folgende wunderschöne Neologismus: „Literaturbetriebsnudelholzwurmkur beantragt. Papierkram ohnegleichen“.

Horstmann schreibt seine meist klug abwägenden Aphorismen in der Tradition von Georg Christoph Lichtenberg bis Karlheinz Deschner und es gibt heutzutage kaum noch jemanden, der es mit ihm darin aufnehmen könnte. In einer ironiebefreiten Zeit und in der Nachsuhrkampliteraturära bleibt er der tapfere Rufer in der Wüste, dem eine Fangemeinde die Treue hält und der das Potential hat, immer wieder neu entdeckt zu werden, nicht als Vorarbeiter einer "Menschenflucht", sondern um den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, hinter dem ihr verkümmertes, aber – so lange es sie gibt – dennoch vorhandenes Potential deutlich wird.

Titelbild

Ulrich Horstmann: Nach Auffinden des Flugschreibers. Eine Auslese.
PalmArtPress, Berlin 2023.
178 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783962581466

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch