Poetisch Denken
Begründung einer poetologischen Anthropologie durch Marko Pajević
Von Wolfgang G. Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDiese Monographie, verfasst von einem Professor für Germanistik an der Universität von Tartu in Estland, definiert „poetisches Denken“ als Zentralbegriff einer neuen poetologischen Anthropologie. Ein vertieftes Denken über das, was den Menschen ausmacht, erscheint für den Autor gerade heute von höchster Dringlichkeit. Er ist sich zum einen darüber im Klaren, dass das zweckrationale, an den Natur-, Bio- und Wirtschaftswissenschaften und an einer technologischen Optimierung aller Lebensbereiche orientierte Denken dem Menschen einen beispiellosen Fortschritt und vielfältige neue praktische Lebenserleichterungen ermöglicht hat. Zum anderen stellt er aber fest, dass diese rasante und sich ständig beschleunigende Entwicklung die gesamte Menschheit in eine radikale Sinn- und Existenzkrise geführt hat, die nur durch ein möglichst sofortiges Umdenken und, das wird nicht explizit gesagt, Umsteuern gelöst werden kann. Der Ansatz des Autors schließt zwar an das in der Lyrik vielfach geübte Verfahren der Erkenntnisvermittlung an, aber seine Vorstellung von poetischem Denken ist anthropologisch vertieft und erweitert auf das Verhalten in allen Bereichen des Lebens, zu denen eben auch die Produktion und Rezeption von Dichtung gehört. Nicht umsonst zitiert der Autor ausgiebig Autoren wie Goethe, Shakespeare und Novalis. Literatur ist für ihn ein essentieller Bestandteil der Kultur, der heutzutage in der Tat gefährdet ist, wenn man sieht, dass im Freistaat Bayern, der sich viel auf sein Schulsystem zugutehält, Goethes Faust als Pflichtlektüre abgeschafft werden soll. Wenn dieses Werk als zu schwierig für Gymnasialschüler gehalten wird, verdeutlicht das einen besorgniserregenden Niedergang der Kultur. Problematisch ist auch, wenn angesichts der Lehrerknappheit die Universitäten aufgefordert werden, die Studienanforderungen zu senken und Abschlüsse zu erleichtern.
Pajević versucht, sein Verständnis poetischen Denkens zunächst in einem kulturkritischen Durchgang durch Wissens- und Wissenschaftsbereiche wie die Physik, die Hirnforschung, die Körpertechnologien und die biowissenschaftliche life science herauszuarbeiten. Dazu ist zu sagen, dass die einzelnen Bereiche teilweise recht knapp dargestellt werden und der Bezug zum Phänomen des poetischen Denkens nicht immer klar hervortritt. Das gilt für die von ihm erwähnten physikalischen Quantenmodelle, wo Phänomene der Unschärfe und Flüchtigkeit in der Bewegung der Teilchen zu beobachten sind, und die String-Theorie, die unbekannte Dimensionen von Strings, vibrierenden eindimensionalen Objekten, darstellen. Die Brücke von solchen Phänomenen zum Gedicht als eine Form als Ganzes zu schlagen, scheint mir verwegen, obwohl Entsprechungen zwischen der Quantenmechanik in der atonalen Musik (Schönberg) und der Kompositionsform postmodernen Romane (Céline, Beckett, Auster) gefunden worden sind.
Schon näher an das poetische Denken führt das Kapitel über Hirnforschung heran, dessen Hauptthese es ist, dass wir das Gehirn und seine Funktionsweise ständig formen können; es sei letztlich weniger biologisch als sozial determiniert. Der Mensch habe also die Möglichkeit, sein Gehirn durch die Art seiner Nutzung selbst zu programmieren. Wenn die Rede davon ist, die Spiegelneuronen könnten „aktiviert und eingesetzt werden“, ist das eine gewagte These. Aber Empathie und Sympathie können schon als Voraussetzung poetischen Denkens gelten.
Das sehr aufschlussreiche Kapitel „Leibdenken gegen Körpertechnologien“ präsentiert eine Opposition zwischen dem Körper, den wir haben und den wir, etwa durch plastische Chirurgie, verändern (lassen) können, und dem Leib, der wir sind und mit dem wir uns in der Welt integrieren müssen. Leibdenken, die Akzeptanz des Leibs und seiner Gefühlswirklichkeit, etwa des sogenannten Bauchgefühls, wird als eine Voraussetzung des poetischen Denkens bezeichnet.
Von großer Bedeutung für Pajevićs Theorie des poetischen Denkens sind die Ausführungen über die Lebenswissenschaften. Er bezieht sich auf Agambens Unterscheidung zwischen zoë, der einfachen Tatsache des Lebens, und bios, dem spezifischen Leben in Einheit mit einem Umfeld, und auf Foucaults Biopolitik, die Theorie der Regulierung des Lebens, die immer die Gefahr birgt, dass der Mensch nicht als ein einzigartiges Individuum betrachtet wird. Den objektivierenden Prozessen der Biopolitik setzt er die subjektivierenden Selbsttechniken entgegen. Wenn wir der Biopolitik etwas entgegensetzen wollen, so schreibt er, müssen wir poetisch denken. In diesem Zusammenhang ist die Sprache unerlässlich. In der Sprache erarbeite sich der Mensch seine Sicht auf die Welt; das geschehe immer im Austausch mit anderen Menschen, das sei der Kern des Kulturprozesses.
Für seine Theorie des poetischen Denkens ist das Sprachdenken und speziell das dialogische Denken von entscheidender Bedeutung. Er greift auf das Dialogizitätskonzept des Semiotikers Émile Benveniste zurück und auf Henry Meschonnic, der erklärt: „Subjekt ist, durch den ein anderer Subjekt ist“. Wichtig ist für ihn insbesondere die Auffassung vom Sprachdenken von Wilhelm von Humboldt, der festgestellt hat: „Sprache ist nicht Ergon (Werk), sondern Energeia (Tätigkeit)“. In der Fähigkeit, durch den sprachlichen Austausch zur Transformation der Beziehung des Menschen zur Welt zu gelangen, findet er das poetische Sprachdenken in seiner reinsten Form. Das poetische Denken soll laut Pajević das begriffliche Denken nicht bekämpfen, sondern dessen Exklusivitätsanspruch in Frage stellen.
Zentrale Bestandteile seiner Theorie sind die grundsätzliche Veränderbarkeit und der wesentlich potentielle Charakter des Geists und der Wirklichkeit. Ohne den potentiellen Charakter der Wirklichkeit gibt es, wie er argumentiert, keine Zukunft. Die neuronalen Verschaltungen des menschlichen Hirns prägen sich wie in der Entwicklung des Menschen als Gattungswesen so auch als Individualwesen aus, wobei zu fragen ist, ob man im Zusammenhang der Selbstentwicklung des Individuums, etwa Foucaults Selbstsorge, von Evolution sprechen sollte. Pajević meint, es handele sich „beim menschlichen Gehirn um eine relativ wenig genetisch vorherbestimmte, vielmehr um eine offene, immer wieder veränderbare Konstruktion.“ Im poetischen Denken sieht er „eine potentialistische Anthropologie: Der Mensch ist nicht ohnehin und immer schon menschlich, er wird es erst im Moment einer wahrhaften mitmenschlichen Ich-Du-Beziehung.“ Das Poetische hat in diesem Zusammenhang seine Funktion. Es muss dank seiner unversieglichen Innovationskraft einen Gegenpol zur vermeintlichen Beherrschbarkeit der Welt durch Wissen, Machbarkeit und Kalkulierbarkeit bereitstellen.
Aufgrund seines „potentialistischen“ Weltverständnisses ist poetisches Denken für Pajević die transformierende Kraft im Wechselverhältnis von Sprach- und Lebensform. Diese Kraft wirkt, wenn sich das Subjekt im kreativen Sprechen konstituiert. Damit verändern sich die Wahrnehmungs- und Denkweisen und das Verhalten zum Du und zur Welt. Es ist zu hoffen, dass dieses engagierte Buch eines Literaturwissenschaftlers, das aus der Sorge um den Zustand des Menschen in unserer Zeit geschrieben ist, viele Leser findet.
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