Es müssen nicht immer die Zitronen blühen

Zu Andrea Hahns Reiseführer mit literaturgeschichtlichem Mehrwert „Goethe in Schwaben. Wer braucht da noch Italien?“

Von Jens LiebichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Liebich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel von Andrea Hahns kleinem Büchlein kann wohl unterschiedliche Reaktionen bei der Leserschaft auslösen: Goethe in Schwaben. Wer braucht da noch Italien? Je nach Perspektive – die vom Wohnort abhängig sein mag – werden die einen, welche einen Zwiebelrostbraten mit Spätzle schlemmenden Goethe vor dem inneren Auge haben, gnädig schmunzeln; während die anderen mit Stolz emporgehobener Brust und einem Glas Most auf diese verheißungsvolle literaturgeschichtliche Liebeserklärung ans Ländle anstoßen. Wie so oft kann man weder der einen noch der anderen Haltung ihre Berechtigung absprechen, wenngleich ein subtiles Augenzwinkern natürlich mitgelesen werden darf.

In der Einleitung steckt Hahn zunächst den zeitlichen Rahmen ab, der wiederum strukturbildend für das Büchlein ist. Dieses teilt sich in zwei Kapitel, von denen sich das erste mit fünf Unterpunkten auf circa 35 Seiten der ersten Schwabenreise – pardon: Schwabendurchreise – widmet; das zweite umfasst zehn Abschnitte und ist mit 100 Seiten für den zweiten Schwabenbesuch deutlich umfangreicher. Interessant ist dabei der von Hahn betonte unterschiedliche Charakter der beiden Aufenthalte, welcher nicht allein in den fast zwei Dekaden Abstand begründet liegt, in denen sich das Land wie der Dichter verändert haben, sondern auch in den jeweiligen Anlässen. Reist Goethe im Dezember 1779 noch als Begleiter seines Dienstherren, des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, durch Schwaben, wodurch es ihn vornehmlich an die Fürstenhöfe zieht, ist er im Sommer 1797 nicht nur zu einer angenehmeren Jahreszeit, sondern zudem allein unterwegs. Dieser Umstand ermöglicht es, den Höfen fernzubleiben und den eigenen Interessen nachzugehen. Dabei entdeckt Goethe ein sehr viel moderneres Land als bei seinem ersten Aufenthalt und lässt sich gegenüber dem Bildhauer Johann Heinrich Dannecker zu einem Bekenntnis hinreißen, welches Hahn zum Titel inspiriert haben dürfte: „[…] nun habe ich Tage hier verlebt, wie ich sie in Rom erlebte.“

Wenn man einen Blick auf den beruflichen Werdegang der Autorin wirft, so erhellt sich umgehend die Frage, warum sich das Büchlein wie eine unterhaltsame Mischung aus Touristenführer und Geschichtsbuch liest: Die studierte Germanistin und Historikerin Hahn, die an der Münchner Goethe-Ausgabe mitwirkte, ist heute unter anderem als Journalistin und Lektorin tätig und beschäftigt sich vornehmlich mit Geschichte, Literatur und Kulturtourismus – und bringt dabei, so Ihre Homepage, „Schlösser, Burgen, Gärten und Klöster in die Presse und in Bücher“. Die Begeisterung und Leidenschaft für die genannten Themen sind im Goethebüchlein stets omnipräsent, nur Goethe gerät immer mal wieder in den Hintergrund. Dies ist jedoch kein Verschulden der Autorin, denn obwohl der Dichterfürst zwei Mal durch das heutige Baden-Württemberg zieht, gibt es insbesondere zum ersten Aufenthalt nur wenige Aufzeichnungen, der zweite hingegen ist wesentlich besser dokumentiert. Dabei stützt sich Hahn sowohl auf Tagebucheinträge und Briefe Goethes als auch auf die seiner Zeitgenossen, um beide Reisen bestmöglich nachzuzeichnen und mit Leben zu füllen. Durch diese Vorgehensweise ergibt sich erfreulicherweise ein weiter Panoramablick auf wechselseitige Einflüsse, denn nicht allein die Wirkung der beiden Reisen auf den Weimarer Dichter wird nachgezeichnet, sondern auch der Eindruck, den Goethe auf ausgewählte Begegnungen hinterließ.

Eine der bekanntesten und fruchtbringendsten ereignet sich an der Stuttgarter Karlschule, an welcher der junge Schiller zum ersten Mal den berühmten Dichter mit eigenen Augen sieht – Goethe nimmt von ihm freilich keine Notiz, erst wenige Jahre vor der zweiten Schwabenreise wird sich dies ändern. Eine weitere Persönlichkeit, die Hahn in ihren Ausführungen berücksichtigt, ist der von Goethe bewunderte Ludwigsburger Architekt und Maler Nikolaus Friedrich Thouret. Ihn möchte er gerne an den Weimarer Hof von Herzog Carl August holen. Thouret, der an der Hohen Karlsschule zum Hofmaler aus- und durch ein herzogliches Stipendium an der Académie des beaux-arts in Paris weitergebildet wird, studiert später auf Anregung Friedrich Weinbrenners noch Architektur in Rom und erlangt durch jene prägenden Auslandserfahrungen, die Goethe in einem Brief an Christian Gottlob Voigt als „einen Reichthum der Mittel und einen Geschmack der Zusammensetzung“ preist, die er im Weimarer Stadtschloss sich widerspiegeln sehen möchte. Als der lang Umworbene endlich mit Verspätung im Mai 1798 in Weimar eintrifft, erhält der Hofmarschall von Goethe die Anweisung „dem Professor Thouret Mittags das Essen aus der Hofküche verabfolgen zu lassen und zwar etwa: Suppe; Gemüse mit Beilage; Braten und Salat; eine Flasche Wertheimer. Die Portion wäre reichlich einzurichten“. Die gute Pflege trägt Früchte und Thouret baut nicht nur das Hoftheater um, sondern gestaltet ebenso einige Räume des Weimarer Stadtschlosses neu, bis er im Oktober wieder nach Stuttgart zurückkehren muss. Neben Thouret wird zudem der freundschaftliche Kontakt zum bereits erwähnten Bildhauer Johann Friedrich Dannecker und zum Kaufmann Gottlob Heinrich Rapp ausführlicher dargestellt.

Die breiten Wege und zahlreichen schmalen Pfade des Büchleins nachzuzeichnen, darf der Lektüre überlassen werden. Man sollte sich darauf einstellen, dass Goethe nicht ununterbrochen im Rampenlicht steht, er tritt gelegentlich zurück, ohne zu verschwinden, um so das Licht auf wichtige Zeitgenossen und kulturgeschichtliche Ereignisse Württembergs im ausgehenden 18. Jahrhundert scheinen zu lassen. Und vielleicht ändert der eine oder andere nach der Lektüre nochmal die Reisepläne und folgt Goethes Spuren im Ländle – statt blühender Zitronenhaine darf’s vielleicht auch mal die Mostapfelplantage sein.

Titelbild

Andrea Hahn: Goethe in Schwaben. Wer braucht da noch Italien?
8 grad verlag, Freiburg 2023.
170 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783910228085

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