Bei Irrtum Tod

Christina Dalchers vierter Roman „Vita“ setzt sich mit der Todesstrafe in den USA auseinander

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Justine Callaghan ist Anwältin. Und hat als eine der ersten Aktivistinnen der so genannten „Vita“-Bewegung den „State Remedies Act“ durchzudrücken geholfen, ein im Bundesstaat Virginia 2016 in Kraft getretenes Gesetz, wonach, wenn sich herausstellt, dass ein zum Tode Verurteilter Opfer eines Justizirrtums geworden ist, statt seiner der für das Fehlurteil Verantwortliche den elektrischen Stuhl zu besteigen hat.

Seitdem ist die Zahl der verhängten Todesurteile im Land drastisch zurückgegangen. Auch Justine Callaghan, die ihren Mann durch einen Mordanschlag verloren hat und seitdem ihren Sohn Jonathan allein erzieht, hütet sich, in den Prozessen, an denen sie beteiligt ist, den Tod des jeweils Angeklagten zu verlangen. Nur einmal, im Falle von Jake Milford, hat sie es vor Jahren getan. Seitdem sitzt der Mann im Todestrakt und wartet auf die Vollstreckung seiner Strafe. Doch plötzlich lassen neue Erkenntnisse den alten Fall in einem ganz neuen Licht erscheinen. Allein für Milford kommt diese unerwartete Wendung leider zu spät. Und Justine droht, nun selbst zum Opfer des Gesetzes zu werden, für das sie sich seit den Zeiten ihres Jurastudiums vehement eingesetzt hat.

Christina Dalcher, die ihre Schriftstellerkarriere mit äußerst erfolgreichen und mehrfach prämierten Kurzgeschichten begann, debütierte 2018 als Romanautorin mit Vox (deutsch 2019 bei S. Fischer). Die in naher Zukunft spielende feministische Dystopie, in der sich eine Wissenschaftlerin gegen ein neu erlassenes Gesetz auflehnt, das Frauen verbietet, mehr als 100 Wörter pro Tag zu sprechen, wurde in kurzer Zeit zum internationalen Bestseller. Vita, das eben erschienene vierte Buch der in Theoretischer Linguistik promovierten, heute in den USA und Italien lebenden und lehrenden Autorin, ähnelt ihrem ersten Roman im Ansatz. Denn es geht ein weiteres Mal um ein fiktives Gesetz und seine Auswirkungen auf das Leben einer Frau.

Die Geschichte um den „State Remedies Act“, der die Justiz davor bewahren soll, vorschnelle Urteile zu fällen und dadurch unschuldige Menschen in den Tod zu schicken, ist gut erfunden. Und läuft im Grunde auf eine Fundamentalkritik der Todesstrafe in den USA hinaus. Dies untermauert Dalcher mit geschickt in ihren Roman eingearbeiteten statistischen Fakten, etwa denen, dass sich 60 Prozent der US-amerikanischen Wähler Alternativen zur Todesstrafe wünschen, im Schnitt in jedem Jahr vier Insassen des Todestraktes durch das Auftauchen neuer Erkenntnisse entlastet werden und – was dem beliebten Argument der Todesstrafen-Befürworter, eine lebenslängliche Gefängnisunterbringung würde dem Staat mehr Kosten verursachen als eine Hinrichtung, den Stachel nimmt – ein Fall mit durchgesetzter Todesstrafe in Texas käme in etwa dreimal so teuer wie eine 40-jährige Einzelhaft des betreffenden Delinquenten.

Die Tatsache, dass Jake Milford, der vor sieben Jahren einen kleinen Jungen bestialisch getötet haben soll und dafür von Callaghan als Leitender Staatsanwältin zum Tode verurteilt wurde, tatsächlich Opfer einer hinterhältigen Intrige und kein Mörder ist, bringt Dalchers Heldin schließlich in eine Bredouille, für die sie selbst mit die Verantwortung trägt. Da hilft es ihr auch nicht, dass sie nach diesem Todesurteil kein weiteres mehr verhängt hat. Das Risiko, dass ihr sechsjähriger Sohn Jonathan, sollte sie auch nur einmal die Höchststrafe fordern und das würde sich später als Justizirrtum herausstellen, sein weiteres Leben als Vollwaise würde verbringen müssen, hatte sie letztendlich abgeschreckt. Also setzte sie sich fortan lieber dem Zorn der ob des Ausbleibens weiterer harter Urteile erbosten Öffentlichkeit aus.

Letztere unterscheidet sich in Dalchers Roman im Übrigen nur wenig von jener US-amerikanischen Bevölkerung, wie man sie in den Jahren vor, während und nach der Trump-Präsidentschaft erleben durfte: tief in sich gespalten, latent aggressiv, waffenvernarrt, stockkonservativ auf dem Land und demokratisch gesinnt sowie weltoffen in den städtischen Ballungszentren. Und Dalcher weiß genau, was drohen könnte, gäbe man dem bei ihren öffentlichen Auftritten lautstark ertönenden Rufen von „eingefleischte[n], gottesfürchtige[n] Konservative[n]“ nach mehr Härte in der Justiz und einer Politik, die sich vor allem an dem Grundsatz des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ orientieren sollte, nach: „Zwischen den Blauen und den Roten steht es fast fifty-fifty, so dass ständig die Gefahr einer gewaltsamen Umwälzung droht. Ein nahezu perfektes Sinnbild für die gesamten USA.“ Warum also weiterhin daran festhalten, Morde mit der Ermordung der Täter zu sühnen, auch wenn Letztere scheinbar staatlich sanktioniert und mit dem Etikett der „gerechten Bestrafung“ versehen ist?        

Freilich hilft diese generelle Einsicht Dalchers Heldin erst einmal wenig, wenn es darum geht, mit ihrem eigenen Dilemma fertig zu werden. Denn dass Evelyn Milford, die Ehefrau des von Justine in die Todeszelle geschickten Jake Milford eines Tages in den Sachen ihres Mannes auf Beweise stößt, die ihn scheinbar von jedem Verdacht befreien, konfrontiert die Anwältin mit den tödlichen Konsequenzen der Überzeugungen, für die sie einst gekämpft hat. Also rollt sie den Fall noch einmal ganz für sich allein auf, geht Spuren nach, denen bisher noch niemand nachgegangen ist, um letzten Endes der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen und den tatsächlichen Mörder eines unschuldigen Kindes nicht davonkommen zu lassen. Dass dieser Kampf um Wiedergutmachung von etwas, dass nach dem Tode des fälschlich Verurteilten nicht wieder gutzumachen ist, letzten Endes auch ein Kampf um ihr eigenes Leben ist, ist ihr dabei nur zu bewusst.

Vita ist ein routiniert geschriebener Roman, der keinen Zweifel daran aufkommen lässt, auf welcher Seite in der Diskussion über Sinn oder Unsinn der Todesstrafe seine Autorin steht. Dalcher hat ihn den „fälschlich Angeklagten, […] ungerechtfertigt Eingesperrten, […] zu Unrecht Getöteten“ gewidmet und an mehreren Stellen die erschreckende Brutalität beschrieben, mit der in US-amerikanischen Gefängnissen Menschen vom Leben zum Tod gebracht werden. Dass keine der dabei beschriebenen Methoden – nicht der elektrische Stuhl, nicht die Todesspritze – dem jeweiligen Delinquenten seelische und körperliche Qualen erspart, ist dabei ihre Überzeugung.

Auch das vierte Buch von Christina Dalcher darf als ein Versuch gelesen werden, aktuelle Probleme des menschlichen Zusammenlebens in ihrer Welt mittels eines dystopischen Zugriffs, der nach dem Was-wäre-wenn-Prinzip verfährt, zu fiktionalisieren, um ihren Leserinnen und Lesern die Konsequenzen vor Augen zu führen, die sich irgendwann ergeben könnten, verschlösse man im Hier und Jetzt die Augen vor einem brennenden, alle angehenden Problem. Was seine literarischen Qualitäten betrifft, so hat Dalchers Roman hier und da noch Luft nach oben, wirkt stellenweise – vor allem in seinem letzten Drittel, in dem Justine mit ihrem Handeln die eigenen Prinzipien ad absurdum zu führen scheint – zu konstruiert. Auch dass ein „herausragender Kundenservice“ zu Amazons hervorstechenden Merkmalen gehört, ist mehr „Productplacement“, als man eigentlich in einem fiktionalen Buch haben möchte. Und leider hat es Christina Dalchers deutscher Verlag versäumt, den Leserinnen und Lesern im hinteren Klappentext, wie das inzwischen üblich ist, die Übersetzerin Marie Hahn vorzustellen. Deshalb sei hiermit ausdrücklich auf sie und ihren Anteil an der deutschen Ausgabe dieses Buches hingewiesen.

Titelbild

Christina Dalcher: VITA.
Harper Collins, Hamburg 2023.
336 Seiten , 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783365004111

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