Prosanova 2023
Literarisches Wochenende und Zeitreise. Ein Logbuch
Von Rebecca Siegert
Freitag, 23.6.23
12:00-13:00:
Am Freitag regnet es. Wer auf dem Schulhof der ehemaligen Grundschule Hohnsen in Hildesheim ankommt, kann sich – wie ich –zuerst einen Kaffee am Kaffeewagen holen. Danach schlendere ich durch das Gebäude. Auf den Gängen sind Kühlschränke mit verschiedenen Ausgaben der BELLA triste hinter den Türen zu entdecken. An den Schranktüren selbst sind etliche Magneten mit einzelnen Buchstaben angebracht, die man zu Worten oder Wortfetzen zusammensetzen kann; wie auch auf der diesjährigen Website des Prosanovas, fällt mir in diesem Moment auf. An den Kleiderhaken, die auf den Fluren angebracht sind, kleben die Namen ehemaliger Schüler*innen auf Stickern vom Tigerentenclub. Man läuft immer wieder Menschen vom Kulturcampus über den Weg, auch Dozierenden. Später erkenne ich in der Menschenmenge Linus Giese und Lisa Krusche.
13:15-14:15:
Saskia Vogel zu Permission,Ort: Labor
Beim Betreten des Labors kommt sofort ein Wohnzimmer-Feeling auf. Matratzen, Kissen und Sofas stehen im Raum verteilt. Auf einer kleinen Bühne, auf der nur ein winziger Tisch und ein Sessel stehen, sitzt Saskia Vogel im Schneidersitz und lächelt alle, die reinkommen, herzlich an. Sie spricht über ihr Buch Permission, welches während der Corona-Pandemie erschienen ist und sich mit den Themen Lust, Macht in Beziehungen und Trauer beschäftigt. Sie spricht über die Verfilmung der Klavierspielerin von Elfriede Jelinek, über die Welt der Sprache, wechselt zwischen Deutsch und Englisch beim Lesen und Sprechen, erzählt, wie schwierig es für sie sei zwischen Deutsch und Schwedisch zu switchen. Hinter der Autorin ist eine Fotopräsentation zu sehen. Es gibt unter anderen Fotos von Filmen: Sie spricht über intermediale Bezüge, darüber, welche Filme sie seit ihrer Jugend beeinflusst haben. Die Autorin bezieht das Publikum mit ein, fragt, wie sie weiter verfahren solle, was das Publikum interessiere.
Zum Schluss gibt es eine offene Diskussion darüber, wann im Leben man ein Buch wie schreiben würde. Und dass der Zeitpunkt einen großen Einfluss darauf habe, welches Buch aus einem geplanten Projekt werde.
14:30-15:00:
Nach der Lesung gehe ich in den Presseraum, trinke Sprudel aus meinem Kaffeebecher, knabbere an einem Keks und halte kurz inne. In dem Raum gibt es vier große Fenster mit Holzrahmen. Ich sitze an einem der aufgestellten Tische. Zwei andere sind belegt. Ein halbleerer Klassenraum. Ich schaue auf die Bäume, die vor den Fenstern stehen, tue mich schon zu diesem Zeitpunkt schwer mit der Entscheidung, welche Angebote ich an dem Wochenende wahrnehmen werde.
Ich entscheide mich zunächst für die Literaturmeditation.
15:00-15:30:
Literaturmeditation mit Laura Shirin, Ort: Labor
Der Raum ist deutlich leerer als bei der Lesung zuvor. Ich schnappe mir eines der großen, runden Kissen und setze mich. Laura Shirin sitzt mit geschlossenen Augen auf der Bühne. Sie sagt, dass es eine keine Regeln gebe und dass wir uns auf unsere eigene Art durch den Text gleiten lassen sollen. Der Text, mit dem sie uns durch die Meditation leitet, ist sehr bewegend. In diesem speziellen Meditationskontext habe ich nicht mit Themen wie Rassismus, Patriarchat und sexualisierter Machtausübung gerechnet. Der Kontrast zwischen der Ruhe im Raum und der Schwere der Themen hat eine starke Wirkung.
So schön ich die Idee anfangs fand, dass es keinerlei Regeln gibt und Menschen raus- und reingehen dürfen, wie sie möchten, stört es mich während der Meditation doch.
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Pause, draußen und im Hort (litradio-Raum)
Es nieselt nur noch ein bisschen, als ich rausgehe, um Luft zu schnappen und mir einen weiteren Kaffee zu holen. Danach setze ich mich in den Hort. Hier gibt es eine Bar und eine kleine ebenerdige Bühne. Außerdem finden die Veranstaltungen von litradio, einem an das Literaturinstitut angegliederten online-Radio, in diesem Raum statt.
17:00:
Trauma-Telefon mit Julia Friese, Ort: Zwischengeschoss
Man wartet auf der Treppe, bis man an der Reihe ist. Ständig laufen Leute vorüber. Als ich dann in den Raum gehen darf, bemerke ich sofort die Dekoration. Alte Schwarz-Weiß-Fotos hängen an den Wänden. Ein Retro-Sessel und ein altes Schnurtelefon stehen bereit. Der Raum ist klein und fensterlos. Eine bedrückende Stimmung macht sich in mir breit. Auf einem Zettel steht eine Anleitung. Man soll eine Nummer mit dem eigenen Handy anrufen, nicht mit dem Schnurtelefon. Am anderen Ende der Leitung wird ein Text von Julia Friese vorgelesen zum Thema Trauma und Gewalt in der Kindheit. Ein interessanter Text. Leider hatte ich mir die Idee vom Trauma-Telefon als etwas interaktiver vorgestellt, oder so, dass z.B. Fragen mitgegeben würden. Also entscheide ich spontan, weil noch gar nicht viel Zeit vergangen ist, zu einer anderen Lesung zu gehen.
17:30-18:30:
Triangle of exhaustion mit Simoné Goldschmidt-Lechner, Selma Kay Matter und Mirjam Wittig, Ort: Labor
Der Raum ist sehr voll. Die drei jungen Autor*innen lassen uns in diesem Format an ihren aktuellen Projekten teilhaben. Sie beschäftigen sich unter anderem mit den Themen Natur, Queerness, Fatigue Syndrom und Polizeigewalt. Es ist eine gelungene Abwechslung, drei verschiedenen Vorlesenden im Wechsel zuhören zu dürfen. Die Leseanteile könnten ausgewogener sein.
Danach sitze ich noch bei einem Getränk auf dem Hof, unterhalte mich mit anderen Besucher*innen über die gesehenen Lesungsformate und darüber, was für die kommenden zwei Tage noch auf dem Plan steht. Um circa 22:30 laufe ich sehr müde nach Hause.
Samstag, 24.6.23
11:00-12:00:
‚TV is poetry’ mit Franziska Gänsler, Ort: Aula
Am Samstag scheint schon vormittags die Sonne. Zu dieser Veranstaltung bin ich das erste Mal in der Aula. Man kann sie sich eins zu eins wie eine Schulaula vorstellen. Hohe schmale Fenster, eine große Bühne, zumindest die größte des Festivals, und ein bestuhlter Raum.
Start: Nach einer kurzen Einführung von Franziska Gänsler (die ich leider verpasse) wird ein Video mit größtenteils weiblichen Figuren aus dem Fernsehen abgespielt. Zu sehen sind z.B. Rihanna, Britney Spears, Sailor Moon, Figuren aus „Friends“ und „Killing Eve“ – die Szenen sind unterlegt mit Rihannas Song „Diamonds“. Danach trägt die Autorin, deren Debütroman Ewig Sommer 2022 erschienen ist, einen Reflexionstext zum Video auf Englisch vor. Dann wird das Video noch einmal abgespielt und sie trägt den Text auf Deutsch vor.
Gerade als Person aus derselben Generation, stark beeinflusst durch Fernsehinhalte, findet man sich in dem Video schnell wieder. Durch die Musik – einen Stellvertretersong für die 2010er Jahre – umso mehr. Ein aufgeweckter Start in den Festivaltag.
12:30-13:30:
Sinthujan Varatharajah mit an alle orte, die hinter uns liegen, Ort: Aula
Armin Djamali spricht mit der*dem Autor*in über ihr*sein Buch an alle orte, die hinter uns liegen, das 2022 erschienen ist. Es geht in dem Gespräch um Klasse, Kolonialismus, Sprache und Kommunikation. Um moderne Formate für Texte wie Instagram auf der einen Seite und Literaturhäuser auf der anderen Seite. Die*der Autor*in spricht darüber, dass Kommunikationsstrategien erneuert werden müssen. Sie sollten weniger konservativ, weniger maskulin sein. Auch Ästhetik spiele eine wichtige Rolle in der Sprache. Die Sprache sei ein vulnerabler Ort, Übersetzung eine Kontrolle von Sprache. So viel wird in dem Gespräch über die genannten Themen angesprochen, dass ich drei Seiten meines Notizbuchs vollschreibe.
An diesem Tag mache ich eine Pause außerhalb des Schulgeländes, gehe spazieren und Kaffee trinken, probiere, all die Eindrücke zu sortieren.
19:00-20:00:
Elona Beqiraj und Agon Beqiraj zu Und wir kamen jeden Sommer, Ort: Labor
Der Programmpunkt wird eine halbe Stunde nach hinten verschoben. Die einzige Veranstaltung, bei der ich kein Wort mitschreibe. Zum einen, weil ich schon müde bin, aber zum anderen, weil ich so gebannt zuhöre. Elona Beqiraj zitiert aus ihrem Gedichtband Und wir kamen jeden Sommer, liest und singt gemeinsam mit ihrem Bruder Agon albanische Lieder. Es geht um Heimat, Identität – zwischen Deutschland und dem Kosovo. Die Lesung, die lyrische Performance scheint wie eine Einladung, sich an einem sehr persönlichen Thema zu beteiligen. Wunderschön und berührend.
Danach lasse ich den Abend wieder auf dem Hof ausklingen.
Sonntag, 25.6.23
12:00-13:00:
Transformieren, Recherchieren und Übersetzen mit Julia Friese und Jenifer Becker, Ort: Klassenzimmer
Am Sonntagmittag ist es heiß. Das Gespräch soll zu dritt stattfinden, wird dann aber krankheitsbedingt zu einem Zweiergespräch. Meiner Einschätzung nach ist es schließlich eher ein Interview mit Julia Friese, in dem Spannendes zu Schreibprozessen, Projektarbeit und Recherche besprochen wird. Es kommt die Frage auf: Lassen sich Journalismus und das literarische Schreiben im Alltag vereinen? Für Julia Friese nicht. Journalismus ist ihrer Meinung nach anstrengende Arbeit. Hierfür mache sie Notizen in einer App und recherchiere, während sie für ein literarisches Projekt im Vorfeld viel lese und dann darauf hoffe, dass es „aus ihr herauskommt“. Ihrer Ansicht nach hat jeder Roman etwas Autofiktionales. Es geht stellenweise um ihren aktuellen Roman MTTR und auch um die Themen, die dort verhandelt werden: das Aufwachsen in einer deutschen Familie in der Kleinstadt, um die nicht vorhandene Nähe einer Mutter zu ihrem Kind, um das eigene Muttersein und um ständige Kontrolle. Besonders interessiert mich die Aussage, dass das Thema Mutterschaft immer wieder in der Literatur aufkomme, aber auch immer wieder vergessen werde. Sie sagt, es sollte stattdessen ein eigener ‚literarischer Raum‘ sein.
13:30-14:30:
Julia Friese mit MTTR, Ort: Aula
Direkt im Anschluss, neugierig auf das Buch und beeindruckt von der Autorin, gehe ich spontan zu ihrer Lesung in die Aula. Julia Friese erzählt zu Beginn kurz, dass sie nun eine Stunde lang lesen wolle, einfach, um dies mal auszuprobieren. Sie liest verschiedene Stellen vor, über die Kindheit der Protagonistin und die schwierige Beziehung zur strengen, distanzierten Mutter, über ihr eigenes Mutterwerden. Ich kann problemlos eine Stunde lang zuhören. So ist es mir bisher nie in einer Lesung ergangen. Die Autorin liest sehr rhythmisch vor, sie macht dabei Handbewegungen, der Auftritt ist performativ.
14:45-15:45:
Pause draußen und in der Cafeteria
Wer durch die Cafeteria geht, kann sich verschiedene Ausgaben von Literaturzeitschriften ansehen, die dort auf den Tischen verteilt liegen. Immer wieder kommt mir dieses Wochenende vor wie eine literarische Zeitreise. Eine Freundin sagt, dieser Ort hätte etwas Besonderes an sich. Zum einen fühle sie eine gewisse Gewohnheit: Ein Erinnerungsgefühl an die eigene Schulzeit macht sich breit. Zum anderen gebe es so viel Neues zu entdecken. Jeder Raum hat das Potential, einem etwas beizubringen, zu fesseln, zum Staunen zu bringen…
16:00-18:00:
Vorbereitung und Open Stage
Wir treffen Franziska Bothe, die Moderatorin, im Labor. Ich freue mich darauf, dass die Open Stage, auf der auch ich einen Text lesen werde, im Labor stattfindet. Verschiedene Texte und Textsorten werden vorgelesen. Ein Großteil der Lesenden studiert, so wie ich, Schreiben am Kulturcampus in Hildesheim. Mir gefällt, dass auch werdenden Autor*innen eine Bühne auf dem Festival gegeben wird.
Beim Verlassen des Geländes am Abend höre ich die Uniband Funk’n Further, die gerade in der Aula beginnt zu spielen. Ein schöner Abschluss eines intensiven und inspirierenden Wochenendes.
Die künstlerische Leitung des Festivals stellte das diesjährige Prosanova Festival unter das Motto „Schlechte Wörter“ (Ilse Aichinger) und erklärte:
Darin erspüren wir ein Unbehagen gegenüber dem eigenen Ich, der Welt und der Sprache. […] Wir wollen den Text aus seiner zweidimensionalen Beschaffenheit als auf Papier gedrucktes Medium lösen und ihn als Raum begreifen, den wir von allen Seiten aus begehen können. Ausgehend davon ist ein Programm entstanden, das über 50 Autor:innen und Künstler:innen verschiedenster Disziplinen vereint: Schreiben, Lesen, Herausgeben, Übersetzen, Lektorieren sowie Performance, Musik, Sound- und Videokunst gehören dazu. Mit ihnen wollen wir einen anderen Raum für die Rezeption von Text erproben.
Dieser Aussage kann ich nach meinen Erfahrungen auf dem Festival zustimmen. Mit dem Wiedererkennen des Begriffs „Schlechte Wörter“ tue ich mich allerdings schwer. Vielleicht liegt das daran, dass ich die Veranstaltungen, die sich dieser Thematik vor allem gewidmet haben, nicht besucht habe. An einigen Stellen wurden außerdem Content Notes vergessen, die zwar teilweise im Programmheft standen, aber in manchen Fällen auch nirgends auftauchten. In vielen Formaten ging es um vulnerable Themen – da hätte man sich mündliche Einordnungen direkt zu Beginn jeder Veranstaltung gewünscht. Außerdem fiel auf, dass die eine oder andere Person auf der Bühne sich nicht vorgestellt hat. Durch solche kurzen Vorstellungen aber einen kleinen Kontext zu schaffen und das Publikum miteinzubeziehen, gehört meiner Meinung nach eigentlich dazu.
Alles in allem aber war es ein wunderschönes Wochenende und für mich ein Kulturhighlight des Jahres. Ich bin noch immer beeindruckt davon, was das Leitungsteam, die Praktikant*innen, die Künstler*innen und alle anderen, die bei der Organisation mitgewirkt haben, auf die Beine gestellt haben. Das Programm war groß und vielfältig. Gern hätte ich noch viel mehr gesehen, wenn Zeit und Konzentration es zugelassen hätten. Ich freue mich aufs kommende Prosanova.
Über dem Eingang zum Veranstaltungsort hing in großen Buchstaben der Schriftzug PROSA NOVA. Im Laufe des Festivals fielen immer wieder einzelne Buchstaben herunter. Ein schönes Bild für ein kreatives Festival, das unterstreichen konnte, dass Text nicht nur auf dem Papier existiert, sondern ständig in Bewegung ist.