Überall ist Weltende
Ein Sammelband von Elena Di Venosa und Gabriele Pelizzari verhandelt mittelalterliche „Endzeitvorstellungen“
Von Jörg Füllgrabe
‚Endzeit‘ ist, zumindest was die Prozesse des Denkens und des Vorstellens angeht, aber auch darüber hinaus, niemals absent. Früher oder später betrifft sie alle und alles: Individuen, gesellschaftliche Gruppen, Völker und Staaten, Systeme, Planeten, Sterne, Galaxien und aller Wahrscheinlichkeit nach auch das Universum – zumindest in der uns bekannten Form. Demgemäß sollte diese Komponente in unserer Wahrnehmung eigentlich immer gegenwärtig sein, und doch ist das nicht der Fall.
In der jüngeren Vergangenheit wird dies etwa daran deutlich, dass nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und einer gesellschaftlich rückwärtsgewandten rebirthing-Phase der fünfziger Jahre (auch wenn es in dieser Zeit mitunter mehr progressive Ansätze gab, wie etwa der zeitgenössischen Cineastik zu entnehmen ist) in den Sechzigern und zumindest frühen Siebzigern eine Aufbruchstimmung vorherrschte. Diese war zwar schwerpunktmäßig ein westliches Phänomen, erstreckte sich aber dennoch in abgeschwächter Form auch auf die Zweite Welt des real existierenden Sozialismus und sogar auf die damals noch so genannte Dritte Welt der (ebenfalls mittlerweile als Termini verpönten) Schwellen- und Entwicklungsländer. Spätestens mit der Ölkrise und der in der Folge erwachten Erkenntnis der Endlichkeit von Ressourcen und durch menschliches Tun generierten Umweltschäden war dies dann schnell wieder vorbei. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung des östlichen Blocksystems sowie dem trotz aller Ängste überwiegenden Optimismus zum Jahrtausendwechsel hin schienen Weltuntergangsängste obsolet zu sein. Und heute? Heute gibt es im Osten Europas wieder Krieg, Verantwortliche der freien Welt fordern, das Denken über Krieg wieder zur Normalität zu machen, und jede und jeder weiß mit dem Terminus Kipp-Punkt etwas anzufangen.
In dieser Hinsicht ist die vorliegende Publikation Endzeitvorstellungen, das Ergebnis einer von der Mailänder Universität finanzierten Forschungs- und Arbeitsgruppe mit dem klangvollen Namen IF-Immaginare la fine, auf unterschwellige Weise überraschend hochaktuell, auch wenn die Autorinnen und Autoren sich mit Vorstellungen und Texten des europäischen, lateinischen und germanischen Mittelalters befassen. Oder wie es Paola Spazzali in ihrer knappen, aber aussagekräftigen Hinführung „Mythos im lateinischen und germanischen Mittelalter“ beschreibt: Es wird im vorliegenden Band „ein typologisch breitgefächertes und differenziertes Spektrum an textlichen und visuellen Zeugnissen beleuchtet, denen die gemeinsame christliche Wurzel als Quelle zugrunde liegt“.
So wird bezugnehmend auf die Grundanlage der Endzeitvorstellungen auf der vierten Umschlagseite wie folgt formuliert: „Der apokalyptische Mythos, der aus der jüdischen literarischen Tradition des Zweien Tempels entstand, ist ausschlaggebend, um den Übergang von der Antike zum Mittelalter und die Entstehung der kulturellen Identität Westeuropas zu verstehen.“ Das liest sich so absolut, dass sich die Frage nach der Richtigkeit dieser Aussage nachgerade aufdrängt. Sicherlich ist es so – und das wird anhand der aufgenommenen Beiträge auch deutlich –, dass Fragen nach Weltlauf und Weltende in gewisser Hinsicht in der spätantik-frühmittelalterlichen Diskurskultur tatsächlich allgegenwärtig waren. Diese war primär theologisch geprägt, die Ausprägung einer frühmittelalterlichen „kulturellen Identität Westeuropas“ allerdings dürfte zugleich wesentlich von weiteren Faktoren geprägt worden sein. Hier spielte zumindest etwa auch die Vorstellung einer translatio imperii eine ausschlaggebende Rolle, die bei aller Angst vor dem Ende der Welt allenfalls am Rande von apokalyptischen Traditionen geprägt gewesen sein dürfte.
Dass „die Endzeit […] zum Objekt einer mannigfaltigen Literatur, die in vielen Sprachen des Mittelalters geblüht hat“, wurde, und „das Thema […] auch den Anstoß zu einem außergewöhnlichen Repertoire an prachtvollen visuellen Dokumenten“ gab, sollte unbestritten sein und wird in vorliegender Publikation thematisiert und bestätigt. Diese ist das Ergebnis von Forschungen, die von der bereits angeprochenen Forschungsgruppe IF-Immaginare la fine koordiniert wurden. Angebunden an die Universität Mailand ist dieses interdisziplinäre Projekt durch die Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern der Fachgebiete Germanische Philologie, Geschichte der altchristlichen Literatur, Mittellateinische Philologie sowie Kunstgeschichte realisiert worden. Die Tatsache, dass das Projekt – geleitet von Elena Di Venosa und ihrem Co-Leiter Gabriele Pelizzari – an einer italienischen Universität verankert war, mag erklären, warum der Großteil der Texte auf Englisch und – neben einem französischsprachigen Beitrag – auch auf Italienisch verfasst sind.
Nun ist Viel- beziehungsweise Fremdsprachlichkeit auch bei in der Bundesrepublik Deutschland verlegten geisteswissenschaftlichen Publikationen nicht mehr ganz so außergewöhnlich – in den Natur-, aber auch Sozialwissenschaften ist das schon länger der Fall. Hier wird allerdings, vor allem angesichts der Beiträge in italienischer Sprache, die fremdsprachliche Kompetenz der Leserinnen und Leser (heraus-)gefordert.
Diese Art der Herausforderung steht bereits am Anfang; der Herausgeber Gabriele Pelizzari steckt in seinem einleitenden Beitrag „L’apocalittica christiana tra genesi letterearia e argomentazione teologica. Per una Formgeschichte del genere Apocalisse“ die Leitpfosten für die grundsätzliche, aber auch formale Behandlung und Tradierung apokalyptischer Vorstellungen im Laufe der Zeit. Während hier Fragen eher formaler Art im Vordergrund standen, beschäftigen sich die folgenden Beiträge mit inhaltlich-traditionsorientierten Fragen. So werden etwa von Stefano de Feo („Wich Kind of ‚End‘? Second Temple Apocalyptic Literature within Christian Boundaries: Paul as a Cultural Heir“) anhand seiner Untersuchungen zur Entwicklung einer Paulinischen Theologie ebenfalls kulturelle Verzahnungen und Traditionen in den Blick genommen; und auch Andrea Riccardo Rossi („The Role of the Archangel in Eschaton. From Second Temple Judaism to 1Thess 4:16“) geht auf Paulus und seine Adaption jüdischer apokalyptischer Topoi und Inhalte ein.
Mit einem Blick auf ‚das Ende der Geschichte’ – „The End of each History. The Apocalyptic Destruction of Gender, Social and Ethnical Identities between Qumran and the Synoptic Tradition“ – zeigt Irene Barbotti anhand der literarischen Bilder einer Zerstörung wesentlicher gesellschaftsstabilisierender Elemente, wie einerseits in der Qumran-Tradition, aber auch in frühchristlichen Schriften anhand der dargestellten Umwälzungen und Aufhebungen des Selbstverständlich-Tragenden die Radikalität dieser ‚eschatologischen Wende‘ dargestellt wurde. Auch Erica Leonardi geht in „Salt and Fire in the Vision(s) of End from Ezekiel to the Synoptic Tradition. Mk 9:49 as a Case-Study“ auf einen Einzelaspekt ein: die Symbolmächtigkeit von ‚Salz’ und von ‚Feuer’ als lebenszerstörerische Elemente, wobei Leonardi die alttestamentlichen Verwendungen dieser Topoi untersucht und sie als Grundlage für frühchristliche eschatologische Vorstellungen darstellt.
Martina Vercesi zeigt in ihrem kurzen Essay „You will see Heaven Opened, and the Angels of God Ascending and Descending on the Son of Man (Jn 1:51). Exploring the Jewish Apocalyptic Tradition Behind the Johannine Corpus“ ebenfalls nicht nur Verbindungen zwischen der jüdischen Apokalyptik und dem Seher von Patmos auf, sondern geht dabei auch auf ursächliche Aspekte der Johannes-Visionen ein und bietet somit Erklärungen für die Verwendung des einen oder anderen Sprachbildes beziehungsweise lässt Adaptionen jüdischer Traditionselemente erkennen. Dieser transkulturelle Aspekt wird auch von Abd El Kadermaria Aly („When was the ‚Antichrist‘ (2Jn 7) born? A Lexiographic Analysis in Transcultural Perspective“) verfolgt, der versucht, die christliche Definition des Antichristen mit dem der alttestamentlichen ‚Falschen Propheten‘ zusammenzubringen. Und Alberto D’Incà nimmt in „‚The Demons Belief and Shudder‘ (Jas 2:19). The Puzzling Relationship between ‚Faith‘ and ‚Works‘ and the Evil’s Role in the Letter of James, in Light of Second Temple Jewish Apocalypticism“ anhand diverser Topoi des Jacobusbriefes Adaptionen jüdischer apokalyptischer Vorstellungen in den Blick.
Im Folgenden kommen Blicke auf ikonographische Traditionen zum Tragen. Marcello Angheben („L’Apocalypse de Paul et la représentation des deux jugements aux Xie–XIIe siècles“) befasst sich in seinem durch Illustrationen bereicherten Beitrag mit der bildnerischen Darstellung vornehmlich des Individualgerichts in Architektur und Buchmalerei, wobei er diese als darstellende und erklärende ‚Lückenfüller‘ angesichts mangelnder textlicher Darstellung dieser Thematik in den kodifizierten biblischen Texten sieht. Priscilla Buongiorno („Crossing the Threshold: The Harrwoing of Hell within the Iconographic Cycle on the Monopoli Cathedral of Lintel (11th–12th cent.). A Monumental Crossroads between Aquileia, Byzantines and Normans“) untersucht in ihrem kleinen illustrierten Text den Abstieg in die Hölle und versucht, neben der theologisch-ikonographischen Deutung einen Blick auf das gesellschaftlich-künstlerische Umfeld zu ermöglichen.
Federico de Dominicis geht in „La lotta contro l’Antichristo nei commenti latini medievali all’Apocalisse“ auf die Überlieferung des Kampfes von Enoch und Elia gegen den Antichristen ein, das heißt, er betrachtet die mittellateinische Kommentartradition, die von Beda Venerabilis mit seiner Expositio Apocalypseos als richtungsweisendem Exegeten geprägt wurde, über die frühmittelalterliche Tradition (Ambrosius Autpertus und Heimo von Auxerre), in deren Kommentaren die alttestamentlichen Propheten zum Inbegriff vorbildlicher Prediger wurden, bis hin zur exegetischen Tradition der ‚Schule von Laon‘, in der unter Rückgriff auf Beda beide Propheten zu Protagonisten im Kampf gegen den Widersacher installiert wurden. Der damit diskutierte einerseits traditionsorientierte, andererseits ‚interpretationsoffene‘ mittelalterliche Diskurs mag verdeutlichen helfen, in welchem Umfang wesenshafte Verunsicherungen durch Tradition und Interpretation aufgefangen werden sollten.
Auf einen in seiner Gesamtheit wohl immer noch rätselhaften althochdeutschen Text, das Muspilli geht die Herausgeberin Elena Di Venosa („Das Muspilli im Zusammenhang mit dem Sermo contra Iudaeos, paganos et Arianos“) ein. In der durch die Bezugnahme auf Elia in gewisser Anknüpfung an den voranstehenden Beitrag stehenden Argumentation wird der juridische Aspekt des Muspilli in den Fokus gestellt; die Autorin sieht hierin, ohne weitergehende theologische Aspekte zu negieren, vor allem eine Moralpredigt, in der unter Verweis auf Weltläufe und Weltgericht implizite Kritik an der karolingischen Politik geübt wird.
Eine gegenüber dem durch die Illustration von Verbrechen und Strafe geprägten althochdeutschen Text deutlich idyllischere, weil an der Imagination und Illustration der Hoffnung auf Erlösung ausgerichtete Darstellung untersucht Claudia Di Sciacca in „A Little Bird Told me: Imagining the Interim in Ædiluulf’s Carmen de abbatibus“. Die im Carmen ausgewiesene detaillierte Darstellung eines Zwischenparadieses verortet die Verfasserin in der Tradition der anglo-lateinischen Dichterschule von York. Hier erkennt Di Sciacca anhand der Ausdeutung der drei Visionen, aber auch der Gestalt der Seele in Vogelform charakteristische Elemente einer spezifischen insularen Kosmologie und Eschatologie.
Auch der darauffolgende Beitrag ist im englischen Nordosten lokalisiert. Federica Di Giuseppe („‚Gelome understandan þone mycclan dom, þe we ealle to scylon‘: The Eschatological Dimension of Wulfstan’s Ordered Society“) untersucht das eschatologische Element in der Theologie Wulfstans von York und weist nach, dass im Laufe der Zeit, also gewissermaßen während der ‚Evolution‘ der Texte, die Erwähnungen des Antichristen durch allgemeinere Hinweise auf die Endzeit abgelöst werden. Dies ist insofern bemerkenswert, als hier eine nachgerade aktuelle Situation aufscheint, wird doch – zuvorderst in der allgemeinen Diskussion, bedingt aber auch innerhalb des theologischen Diskurses – gegenwärtig eine Personalisierung des Bösen zumindest in einem übergreifenden Sinne wenigstens hinterfragt, wenn nicht gar abgelehnt.
Dario Capelli weist in „Körper und Seele in Thomasins von Zerclaere Der welsche Gast“ Besonderheiten in dessen eschatologischem Denken nach. Im Welschen Gast, einem Werk des 13. Jahrhunderts, geht es um das Individualschicksal der Menschen im Leben wie im Tode, das freilich in den Kontext „außerirdischer Realitäten“ eingebettet ist. Spannend ist hier die Ignoranz der Fegefeuervorstellung, die einen erkennbaren Bruch mit der katholischen Orthodoxie im Allgemeinen, aber auch dem zeitgenössischen Diskurs darstellte. Da das Büchlein als Lehrwerk angelegt beziehungsweise das eschatologische System in ein solches eingebettet ist, legt Thomasin einen besonderen Schwerpunkt auf die Widrigkeiten, denen der Mensch sowohl im Leben als auch im Tode ausgesetzt ist; oder anders: „man kumt ze himel so lihte niht“!
Am Ende des Bandes werden Leserinnen und Leser quasi an die Schwelle der Reformation geführt: Concetta Giliberto („I Segni premonitori del Giudizio Universale in un ineditio testo tedesco del XV secolo“) stellt die fünfzehn Zeichen des anhebenden Weltgerichts vor, die in einem kleinen in der Münchner Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrten frühneuhochdeutschen Text (Cgm 522) beschrieben sind. Es ist in der Tat immer wieder faszinierend, kleinere Textzeugen gerade auch theologischen Inhalts behandelt oder (wie in diesem Beitrag) abgedruckt zu sehen. Die angedeuteten Bezüge zwischen vergleichbaren Texten, aber auch Hinweise auf alt- wie neutestamentliche Topoi am Ende des Beitrages runden diesen nicht nur ab, sondern vollenden den Zirkelschlag zurück zum Beginn des Bandes und der dort vorgestellten Leitthematik. Und nicht zuletzt auch der in diesem um 1470 geschriebenen Text erkennbare Grundtenor der menschlichen Furcht vor dem Erscheinen Christi als Weltrichter und den damit erwarteten Konsequenzen mag die Ängste verstehen helfen, die im Europa des 15. Jahrhunderts tatsächlich greifbar waren und die letztendlich dann auch die reformatorische Bewegung zur Folge haben konnten.
Es ist in vielerlei Hinsicht beeindruckend, dass eine in einem deutschen Verlag erschienene mediävistische Publikation außer Vorwort und Einleitung lediglich zwei deutschsprachige Beiträge gegenüber vier Beiträgen auf Italienisch und sogar zehn auf Englisch aufweist. Dies mag angesichts der Verortung des Projekts nachvollziehbar sein, und auch die Verwendung des Englischen als mittlerweile ebenfalls für den geisteswissenschaftlichen Kontext etablierte lingua franca ist im Grunde nur konsequent. Gleichwohl wird hierdurch die Attraktivität für den deutschen Buchmarkt nicht unbedingt erhöht.
Inwieweit dieser überaus aktuellen Publikation – oder doch vielmehr den potenziellen Leserinnen und Lesern – damit ein Gefallen getan wurde, dass den Texten nicht zumindest eine deutschsprachige Conclusio beigegeben wurde, mögen die Nutzerinnen und Nutzer des Buchs beurteilen. Das kleine Zugeständnis einer solchen Einleitung, Zusammenfassung oder dergleichen vor den Einzelbeiträgen – gerade weil etwas in dieser Art auch bereits grosso modo von Paola Spazzali in der Einführung geleistet wurde –, wäre angesichts des Umstandes, dass die Endzeitvorstellungen nicht nur in einem hiesigen Verlag erschienen sind, sondern eben auch einen deutschen Titel führen, nicht zu viel an Anspruchshaltung.
Das soll nicht die Qualität dieser Publikation im Ganzen sowie die der Beiträge infrage stellen, die insgesamt – wenngleich dann doch teilweise unter deutlichem Mehraufwand – sehr lesenswert sind. Gerade auch die Illustrationen stellen einen angenehmen Pluspunkt dar. Da die Abfolge der Beiträge weitgehend chronologischen Aspekten folgt, ist das Fehlen einer thematischen Gliederung zu verschmerzen; leider wurde auch auf ein Register verzichtet, das gerade angesichts der Vielsprachigkeit der Beiträge der zielgerichteten Nutzung dienlich sein könnte. Aber nochmals: Das Thema ist hoch interessant und lässt sich auch auf eine komparative Weise mit der aktuellen, freilich sehr säkularen Weltuntergangsdiskussion verbinden. Wer sich auf das Abenteuer einlässt, kann hier zumindest vieles entdecken.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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