Metamorphose als Lebensleistung

Myriam Sauer zeigt in ihrem Debütroman „Passage durch den reißenden Strom“, dass das Leben genau das sein kann – ein Roman, der irgendwo anfängt und nirgendwo aufhört und zugleich ein neues Leben beschert

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mir ist schon lange kein Roman mehr zwischen die Finger gekommen, der den Hinweis vorausschickt, alle Charaktere und Handlungen in demselben seien frei erfunden und Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen mögen zwar vorkommen, seien aber unbeabsichtigt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl und was wohl bedeutet, dass die Autorin – wie schon alle anderen vor ihr – beim Schreiben doch nur aus den eigenen Erfahrungen schöpft und die Übergänge zum Autofiktionalen mehr oder weniger fließend sind, um in der wasserreichen Metaphorik der Autorin zu bleiben (von der noch die Rede sein wird).

Wir erzählen immer von dem, was wir kennen. Nicht anders verhält es sich mit der Fantasie, die nur zum Schein unsere Erfahrungswelt verlässt, wie uns schon Dantes ziemlich „irdisch“ anmutender Gang durch die Hölle, das Purgatorium und den paradiesischen Himmel in der Göttlichen Komödie zu verstehen gab oder jede Science-Fiction hinter ihrer so fern scheinenden Zukunftsfassade.

Und dann steht auf dem Klappentext noch dies: Sie sei keine Aktivistin, was in ihrem Fall durch das Präfix „trans“ zu ergänzen wäre. Hat das eine Bedeutung für den Roman? Denn offenkundig positioniert sie sich zum Thema trans* sein, indem sie darüber schreibt. Und als letzte Vorbemerkung sei noch eines der beiden als Motto vorangestellten Zitate erwähnt, nämlich das von Clarice Lispector: „Ich muss in diesen überschäumenden Fluss vertrauen.“ Was wohl auch eine Spur ist, nämlich mindestens eine literarische, die es lohnt, genauer beleuchtet zu werden.

Damit genug der Vorrede. Zunächst einmal, worum geht es in Sauers so sinnfällig mit Passage bezeichneten Geschichte? Sinnfällig, weil Bewegung darin eine zentrale Rolle spielt, das mentale Sich-weg-bewegen, aber auch das Ankommen, etwas erreichen und das Sich-verändern. Rachel erzählt uns von dem, was wir heute Transition nennen – und das bedeutet: Ein Mensch erlangt die Gewissheit, einem anderen als dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig zu sein. Im Fall von Rachel ist das die Entdeckung, eine Frau zu sein. Alles beginnt mit dem Satz „Ich bin eine Frau“. Und von da an beschäftigt sie die Frage, wie man wird, was man ist: „[…] mein Körper äußerlich wohl zusammengehörend, aber innerlich zertrennt und nicht länger zu fassen.“  Mit dem Frau-Werden wird der Körper sozusagen wieder eins: „Etwas in mir hat sich verändert, ich lebe und denke anders und diese Andershaftigkeit kann ich nur mit einem einfachen Wort beschreiben, nämlich: Ankunft.“

Die Entdeckung des Frau-Seins ist die eine Seite, die andere Seite des Lebens war und ist für Rachel eine schwule Beziehung mit Noah, einem trans*Mann. Um sie herum ein Freundeskreis, in dem sich beide gut aufgehoben wissen, Rückhalt finden, verstanden werden, Gemeinsamkeit erfahren. Die Geschichte spielt in Berlin, in einer Stadt also, die für ihre queeren Milieus bekannt und beliebt ist. Ausflüge in die Berliner Clubkultur sind im Roman inklusive und ebenso die Faszination für das, worauf während der nächtlichen Streifzüge gehofft werden darf – auf „queere Intelligenz“, wie es bei Sauer heißt, wie auf queeren Sex.

Doch mit Rachels Erkenntnis verändert sich alles um sie herum und das hat wesentlich mit ihr selbst zu tun, mit dem neuen Leben als Frau, das langsam Kontur gewinnt. Die Beziehung zu Noah löst sich dabei allmählich auf. Dafür gewinnen die Erinnerungen immer mehr Gewicht. Ständig schieben sie sich in den Vordergrund, bilden erzählerische Rückblenden. Doch das Drama bleibt aus, wie es Beziehungsbrüchen sonst eigen sein mag, allenfalls Irritierendes stellt sich ein, weil mit einem Mal auf die bisher gut geölten Gewohnheiten weniger Verlass ist und das Zusammenleben zwischen Rachel und Noah immer häufiger asynchron erscheint. Vieles bleibt in der Schwebe, verändert sich zwar und hört doch nicht auf, als ob das Leben aus einer Reihe sich überlagernder, unabgeschlossener Episoden besteht.

Auch innerhalb der Gruppe verändern sich die Dinge, werden undurchsichtiger. Kurz und gut: Beziehungskisten mit ihren menschlichen Kompliziertheiten funktionieren offenbar universal und unabhängig von Begehren und Identitäten und dem Wechsel von Geschlechtsrollen. Queers haben da keinen Vorsprung, eher Übersetzungsprobleme im sozialen und gesellschaftlichen Raum. Anderes ist wiederum ganz einfach – etwa Rachels Outing vor der Mutter. Erledigt wird es mit einem Anruf: „Hi, Barbara, du, ganz kurz, ich bin jetzt deine Tochter und wir gehören zusammen als Frauen.“ Und ebenso wortkarg die Reaktion der Mutter: „Es ist gut, dass du das weißt und sagst.“ Mehr braucht es also nicht.

„Ich suche nach Leben“ – so beginnt der Roman, der in drei Abschnitte unterteilt ist, die wiederum überschrieben sind mit ‚Wellen‘, ‚Flut‘ und ‚offene See‘. Deren Metaphorik fügt sich sinnstiftend in die Geschichte einer Transition. Kindheitserinnerungen tauchen darin im steten Wechsel von Zeit und Ort auf, als ob Gegenwart und Vergangenheit gleichzeitig geschehen, um sich sogleich in Zukunft zu verwandeln. Erzählerisch gelingt das Sauer souverän mit nahtlosen Übergängen. Sie bringen Schlüsselszenen an die Oberfläche, in denen die Mutter mit ihrer starken Persönlichkeit eine oft ebenso magische Rolle spielt wie das Wasser selbst, dem man sich ausliefert, das einen fortreißt und in das man deshalb umso mehr Vertrauen setzen muss.

Der reißende Strom aus dem Romantitel ist also die Transition selbst, die ihr – wie Rachel meint – die körperliche Freiheit bringt. An anderer Stelle spielt sie die OP herunter, nennt sie geradezu abfällig einen Klacks, eine Selbstverständlichkeit, die nicht der Rede wert sei. Und wieder an anderer Stelle das Gegenteil, wo sie die cis-Welt zitiert, die gern vom Mut spricht, seinen Weg zu gehen. Hier ist dann plötzlich die Rede von „meine völlige Zerstörung, meine Wiedergeburt“.

Rachels Gefühlswelt ist von einer auffälligen Ambivalenz geprägt. Hier die OP, die nur ein Klacks sein soll, im nächsten Moment überkommt Rachel plötzlich Angst vor zu viel Glückseligkeit, „dass dieser eigentümliche Prozess der Transition in der eigenen Psyche zum ersten Mal Veränderung in der eigenen Körperlichkeit finden darf, mich zu frei werden lässt“. Aber gibt es tatsächlich zu viel Freiheit? Wieviel Zwang geht ihr voraus, wenn das Frausein nur über die scharfe Klinge des Skalpells zu haben ist?

Dabei steht immer die Frage im Raum, wie sie selbst als Person wahrgenommen wird, letzten Endes die Frage der Körperlichkeit. Abends im Club dann die Probe aufs Exempel, wenn sich Rachel ins Blickfeld des Auserwählten bewegt und das Dekolleté in Stellung zu bringen versucht. „Wenn Sie Ihren Blick nun bitte auf die Auslage richten mögen“, hören wir die Gedankenstimme. Hier siegt offenkundig die Selbstironie und anschließend der Frust: „Wir sind nicht die Erweiterung der Vielfalt, das große Aufblühen des Regenbogens, sondern eine offenstehende Wunde in der Mitte der Welt […].“

Myriam Sauer geht mit großer Reflektiertheit an das Thema des trans*Seins heran. Die Gefahr, dabei abgehoben zu wirken, ist stets virulent. Wobei sich ihr erzählerisches Talent dann gerne auch in eher rätselhaften Poetisierungen verliert. Das Spiel mit dem steten Wechsel von Vergangenheit und Gegenwart und erhoffter Zukunft beherrscht sie dennoch grandios. Vom einen zum anderen Satz wechselnd befinden wir uns plötzlich in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort mit unmerklichen Übergängen. Das ist allemal verblüffend.

Das oben erwähnte Zitat von Clarice Lispector dürfen wir wohl als literarischen Wegweiser verstehen, denn Myriam Sauer ist bei dieser außergewöhnlichen Schriftstellerin sicherlich fündig geworden – etwa bei den widerständigen und selbstbestimmten Frauenfiguren und dann bei einer Sprache, die ebenso reflektiert wie in ihrer Wirkung hypnotisch, ebenso eigenwillig wie perfekt zu nennen ist. Und als ob Sauer genau dies habe bestätigen wollen, finden wir im Roman an einer Stelle eine Art Bedienungsanleitung:

Die Transition ist notwendigerweise ein Akt der Verausgabung und ein Vorgang von solcher Opulenz, dass alle herkömmliche Symbolik hinwegschmilzt unter dem Brennglas des sich nach Metamorphose sehnenden Blickes. Nicht minder notwendig ist die manische Zuspitzung der Sprache, in der sich diese Transformation ereignet, denn das Ringen um Existenz, das aus ihr spricht, ist die einzige Wahrheit, die ich in diesem Augenblick der Verlorenheit kenne.

Titelbild

Myriam Sauer: Passage durch den reißenden Strom. Roman.
Querverlag, Berlin 2023.
335 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783896563316

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