Gerettet!
In ihrer Studie „Ehe, Familie und Emanzipation“ lässt Vivien Bianca Rüffieux vermeintlichen Trivialautorinnen Gerechtigkeit widerfahren
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie strikte Trennung zwischen sogenannten unterhaltenden und ernsten Kunstwerken ist auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften schon längst als obsolet erkannt worden. So entstand etwa schon zur letzten Jahrhundertwende der Forschungszweig der Buffy Studies, die sich mit der gleichnamigen Coming-Of-Age-Horror-Serie befassen und etliche hochkarätige Publikationen hervorgebracht haben, wie etwa den 2003 erschienen Band Buffy the Vampire Slayer and Philosophy. Auch ein ehedem per se als Schundliteratur geschmähtes Genre wie die Science Fiction hat längst akademisches Interesse geweckt. Die wissenschaftlichen und sonstigen Publikationen zu ihr sind kaum noch zu zählen. Selbst zu sogenannten Groschenromanen und ihrer Rezeption wird immer mal wieder eine Studie oder Untersuchung veröffentlicht. So publizierte Mirjam Nast 2017 die umfangreiche Untersuchung „Perry Rhodan“ lesen. Zur Serialität der Lektürepraktiken einer Heftromanserie.
Es gibt jedoch ein Genre, auf das noch immer verächtlich herabgeblickt wird. Romane von Frauen für Frauen mit einer bestimmten Plotstruktur wie sie etwa von der englischen Schriftstellerin Rosamunde Pilcher gepflegt wird. Deren Ruf wurde hierzulande allerdings nicht zuletzt durch die tatsächlich miserablen bis kitschigen Verfilmungen ihrer Romane durch das Zweite Deutsche Fernsehen ruiniert.
Ähnlich verächtlich wurde und wird noch immer auf die im 19. Jahrhundert verfassten Romane von E. Marlitt herabgesehen. Ihren Werken und denjenigen einigen ihrer damals nicht weniger erfolgreichen Geschlechtsgenossinnen widmet sich Vivien Bianca Rüffieux’ Studie Ehe, Familie und Emanzipation mit dem Ziel zu zeigen, dass sich der zeitgenössische „Erfolg“ der der vermeintlich trivialen Schriftstellerinnen „auf spezifische Funktionen, die ihre Werke wahrnehmen, zurückführen lässt“, Zu ihnen zählen etwa die „Gestaltung der Texte, die Wahl des literarischen Genres, die Wirkung, die ein literarischer Text bei seinen Rezipientinnen und Rezipienten auslöst, oder die Botschaft, die er vermittelt“.
Rüffieux untergliedert den für Werke der ‚Frauenliteratur’ des 19. Jahrhunderts nicht unüblichen „romance or marriage plot“ zunächst drei Plotformen: den „Seduction-Plot“, den „Wedlock-Plot“ und den „Courtship-Plot“, der „in seiner Grundstruktur auf ein telos hin ausgerichtet“ ist und selbst wiederum in einen positiven und einen negativen Plot zerfällt. Im Falle des ersteren werden die männliche und die weibliche Hauptfiguren nach Überwindung allerlei „durch den Charakter der Protagonisten hervorgerufene und externe, durch die Figurenkonstellation bedingte Hindernisse“ zu guter Letzt ein Paar. Im Falle des negativen Plots werden sie es nicht.
Das Interesse der Autorin gilt nun dem Courtship-Plot und seinen beiden Varianten. Bevor sie sich den „plotstrukturelle[n] Analyse[n]“ einzelner Werke aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuwendet, legt die Autorin zunächst ausführlich die „Auswahlkriterien“ dar, zu denen etwa zählt, dass deren Autorinnen über Jahrzehnte hinweg sehr erfolgreich waren. Das wichtigste Kriterium aber ist „der gleichförmige strukturelle und sich wiederholende Aufbau der von Frauen verfassten Romane“, der „zugleich einen der meistgenannten Kritikpunkte an dieser Literatur dar[stellt].“ Dass keineswegs die literarischen Werke aller Autorinnen der Zeit diesem Schema folgen, weiß natürlich auch Rüffieux. Daher ließ sie Romane von Autorinnen wie Louise Otto, Lou Andreas-Salomé oder Marie von Ebner-Eschenbach unberücksichtigt.
Es blieb dennoch ein großer Korpus einschlägiger Romane, aus denen die Autorin fünf ausgewählt hat, um sie einer „differenzierte[n] Einzellektüre“ zu unterziehen, wobei die „Struktur der Romane analysiert und unter Berücksichtigung ihres sozialgeschichtlichen Entstehungskontextes eingeordnet und kritisch gewürdigt“ wird. Als Beispiele des negativen Courtship-Plots beleuchtet die Autorin Wilhelmine Heimburgs Aus dem Leben meiner alten Freundin (1878) und Auferstehung (1898) von Emilia Mataja.
Als Vertreterinnen der positiven Variante des Courtship-Plots zieht die Autorin Das Geheimnis der alten Mamsell (1867) von E. Marlitt, Wilhelmine von Hillers Die Geier-Wally (1873) und Ursula Zöge von Manteuffels Graf Lorenz (1884) heran, wobei letzterer ein „Sonderfall“ ist, da er eine „Mischung aus Courtship und Wedlock-Plot dar[stellt]“ und so zeigt, dass der Courtship-Plot „mit anderen Plotmodellen kombiniert werden kann“.
Überhaupt zeigen Rüffieux’ Analysen „nicht nur die Funktionsweise des Courtship-Plot, sondern auch seine Flexibilität und Leistungsfähigkeit“. Dabei belegt die Autorin ein ums andere Mal, dass den Romanen keineswegs eine „bipolare Struktur zugrunde [liegt]“. Ebenso wenig lassen sich die ProtagonistInnen in eine „Gut-Böse-Dichotomie“ einpassen. Denn einige der „Haupthindernisse“ auf dem Weg zum Glück des künftigen Paares liegen in deren charakterlichen Eigenschaften.
Auch argumentiert Rüffieux sehr überzeugend gegen Interpretationen angesehene Größen ihres Faches wie etwa Moritz Baßler und zeigt, „dass die Protagonisten“ in Courtship-Romanen eben nicht, wie von ihm behauptet, „in Entsagung ausharren“, sondern sich ganz im Gegenteil „aktiv gegen etwas [entscheiden], um das glückliche Leben oder die Liebe zu erreichen“. Überdies ist die Ehe nicht nur das „Handlungsziel“ in den Romanen, sondern wird zugleich „mehr oder weniger stark problematisiert“. Mehr noch, nicht wenige der positiven Courtship-Romane entwerfen „alternative Ehemodelle, die eine prototypische Emanzipation der (bürgerlichen) Frau darstellen“, und „besitzen“ somit durchaus „gesellschaftskritisches Potential“. Dieses Potential ist auch der negativen Variante des Courtship-Plots nicht abzusprechen. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die „Bemühungen in der Literatur, alternative Ehe- und Gesellschaftsmodelle, zu etablieren“, „als Illusion entlarvt“, wie die Autorin anhand von Heimburgs Aus dem Leben meiner alten Freundin zeigt. So ist die Gesellschaftskritik in negativen Courtship-Romanen zwar „greifbarer“ als in positiven, „allerdings fehlt hier eine alternative, positive Vorbildfunktion der Protagonistinnen“.
Beide Varianten, die positive wie die negative „[reagieren] auf die zeitgenössisch problematische Stellung der Frau in der Gesellschaft“. Die ihnen zuzurechnenden Romane erfüllen Rüffieux zufolge daher „verschiedene Funktionen“, die über die Befriedigung des reinen Unterhaltungsbedürfnisses der Leserschaft […] hinausgehen“. Vor allem aber wurde mit den Courtship-Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert eine „Literatur von Frauen für Frauen“ geschaffen, „die erstmals in der Geschichte in der Lage ist, einer breiteren Bevölkerungsgruppe eine umfassende weibliche Perspektive […] zu vermitteln und so die Hegemonie der Männer zu durchbrechen“.
Zwar ist Rüffieux’ neuer Blick auf die Romane in jedem der fünf Fälle erhellend; ein Roman und seine Analyse aber stechen dennoch heraus. Gemeint ist von Hillerns Geier-Wally, bei dessen titelstiftender Protagonistin es sich um nicht weniger als den „Prototyp einer emanzipierten Frau“ handelt, deren „‚Kampf’ um die Liebe […] nicht nur ein Kampf gegen sich selbst und ihre Leidenschaften, sondern auch ein Kampf um Gleichstellung [ist]“. Besonders interessant und wenig bekannt ist auch, dass von Hillerns ursprüngliche (und nicht erhaltene) Fassung im Gegensatz zu der schließlich publizierten ein „tragische[s]“ Ende hatte. Denn von Hillern orientierte sich bei der Abfassung des Romans an der Vorlage des Nibelungenstoffs, wobei der Titelheldin die Rolle der Brünhilde zugedacht war, weshalb diese erste Fassung auch den Titel Die Dorfbrundhild trug. Von verlegerischer Seite und aus ihrem Bekanntenkreis wurde die Schriftstellerin jedoch gedrängt, den Schluss zu ändern, da der Roman andernfalls keine Erfolgsaussichten habe. Dem ist die Schriftstellerin zwar nachgekommen, so ganz mochte von Hillern auf das negative Ende jedoch nicht verzichten. Daher hat sie dem Roman einen Epilog angehängt, der dem Publikum verrät, dass das Paar kinderlos blieb und früh starb.
Rüffieux rettet das Courtship-Genre überzeugend vor dem Verdikt der Trivialität. Die in ihm tätigen Autorinnen des späten 19. Jahrhunderts würden es ihr sicher danken. Das sollte die heutige Literaturwissenschaft ebenfalls tun.
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