Bettina von Arnim als Philosophierende

Wolfgang Bunzel und Petra Heymach haben mit „Der Tanz meiner Gedanken“ ein sich sowohl an Laien als auch an die Fachwelt richtendes Schatzkästlein zusammengestellt

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Dilemma kommt selten allein, so auch hier. Das eine betrifft die beiden Herausgeber, das andere den Rezensenten selbst.

Der würde, um mit seiner Verlegenheit zu beginnen, am liebsten nicht viele Worte machen und stattdessen einen Aphorismus der großartigen Bettina von Arnim – Bettina/e Brentano, Bettine von Arnim, die diffizile Namensfrage kann an dieser Stelle nicht erörtert werden – an den anderen reihen. In der Überzeugung nämlich, dass nicht besser für diese außergewöhnliche Autorin, literarische Figur und historische Person geworben werden kann. Und geworben werden soll für sie, ist sie doch von einer Aktualität, die man von einem der Aufklärung verpflichteten Fortschrittsoptimismus her geradezu erschreckend nennen könnte. Eine kleine, ganz im Geiste Bettinas keiner Systematik folgende Kostprobe gefällig?

Selbstdenken ist der höchste Mut.

Die ganze civilische Einrichtung ist […] eine Verschanzung gegen den Geist […].

[I]ch tanze lieber als ich gehe, und fliege lieber als ich tanze.

Der Schlüssel zum höheren Leben ist die Liebe, sie bereitet vor zur Freiheit.

Der Dom der Freiheit, […] der ist die wahre Kirche.

Die echte Politik muss Erfinderin sein.

Sobald das, was die Menschen als das Bürgerliche Heil der Ansiedlung auf dieser Erde zu betrachten gewohnt sind, Dich nicht umpfählt, und einDornt in unübersteigbare Hecken, […] so kannst Du froh deiner Zukunft entgegen sehen sie wird nicht verpfuscht werden.

Ich höre so viele Leute klagen daß sie Fett ansetzen, es gibt auch ein moralisches Fett.

Ich selber zu bleiben das sei meines Lebens Gewinn.

Das Dilemma der Herausgeber ist anders gelagert. Einerseits wollen sie Bettina, darin dem diese schon fleißig für „Auswahlausgaben“ und Motti ausschlachtenden 19. Jahrhundert folgend, in anregend-griffiger Form ‚unters Volk‘ bringen. Andererseits soll Bettina der Fachwelt als große Aphoristikerin, als „Philosophieren[de] in actu“ präsentiert und damit von einer in der Forschung bislang vernachlässigten Perspektive vorgestellt werden. Von dieser Absicht zeugt u. a. das knapp vierzig Seiten lange, unaufdringlich gelehrte Nachwort des Mitherausgebers Wolfgang Bunzel mit dem ebenso schönen wie sachgerechten, Formulierungen Bettinas aufgreifenden Titel „‚Geistesblumen‘ und ‚Gedankenpfeile‘. Bettine Brentano/von Arnims Kasualaphoristik“.

Beide Zielsetzungen konfligieren freilich bis zu einem gewissen Grad. Vermutlich verlangt das Popularisieren mehr nach jenen offeneren bzw. lebensnäheren und ‚konsumorientierteren‘ Ordnungspraktiken des Materials, die hier überwiegend zur Anwendung kommen, als es das fachliche Innovieren tut. Dessen begriffs-, struktur- und systemorientierten Erfordernissen wird selbstverständlich auch hier Rechnung getragen, jedoch nicht mit letzter Konsequenz – dazu später mehr. Die programmatisch unakademisch, „assoziativ-sprunghaft[]“ denkende und schreibende Bettina selbst hätte an all dem allerdings höchstwahrscheinlich keinerlei Anstoß genommen, im Gegenteil. „,Zusammenhängend schreiben?‘“, heißt es beispielsweise am 18. Oktober 1810 an Goethe, „,ich könnte meiner Lebtag die Wahrheit nicht hervorbringen‘“.

Über gut sechzig Seiten werden, auf sieben thematisch ausgerichtete Abschnitte verteilt, faktisch insgesamt 299 Aphorismen und sentenzartige Reflexionen aus „zu Lebzeiten gedruckten Werken“, aus Briefen und aus überlieferten Gesprächen zusammengetragen – 299 und keine 300, wird doch im ersten Abschnitt „Liebe und Freundschaft“ der Aphorismus „[I]ch will geliebt sein, oder ich will begriffen sein, das ist eins“ versehentlich zweimal wiedergegeben.

Dabei enthalten die einzelnen Abschnitte eine (nachfolgend in Klammern wiedergegebene) beträchtlich unterschiedliche Anzahl an Aphorismen und sentenzartigen Reflexionen. Die Abschnitte lauten der Reihenfolge nach: „Liebe und Freundschaft“ (59), „Geist und Denken“ (38), „Dichtung – Kunst – Musik – Tanz“ (25), „Religion und Glaube“ (31), „Politik und Staatswesen“ (10), „Alltag und Lebensführung“ (84) sowie „Individualität und Subjektivität“ (52).

Bei den herangezogenen Werken dominieren Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde und das dessen dritten Teil bildende Tagebuch. Das ist eine „Art Gedankenbrevier“, wie Wolfgang Bunzel im Nachwort zu Recht schreibt, in dem Bettina nach eigenen Worten die „,Wahrheit […] suchen‘“ und „,Revolutionsgedanken aufschreibe[n]‘“ will und das, so noch einmal Bunzel, „von Anfang an“ von prominenten Zeitgenossen wie Wilhelm von Humboldt und Jacob Grimm „als gedanklich profundes und äußerst anregendes philosophisches Werk geschätzt“ worden ist.

Des Weiteren wird aus Die Günderode, Ilius Pamphilius und die Ambrosia, Clemens Brentano’s Blütenkranz, Gespräche mit Daemonen und Dies Buch gehört dem König zitiert. Die meisten der aufgerufenen Briefe richten sich an Achim von Arnim, etliche an Julius Döring, einige bis einer an Siegmund von Arnim, Moritz August von Bethmann-Hollweg, Clemens Brentano, Friedrich Wilhelm IV., Johann Wolfgang Goethe, Ottilie Goethe, Wilhelm Grimm, Max Prokop von Freyberg, Hermann von Pückler-Muskau, Friedrich Carl von Savigny und dessen Frau Gunda sowie an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Bei den nach Aphorismen und sentenzartigen Reflexionen befragten Gesprächen handelt es sich um solche mit Moriz Carriere, Karl Maria Kertbeny, Ferdinand Gustav Kühne und Philipp Nathusius.

Zurück noch einmal zu den Ordnungspraktiken, nach denen die als solche überzeugend ausgewählten Aphorismen und sentenzartigen Reflexionen präsentiert werden. Zuweilen fragt man sich, inwiefern der eine oder andere Text ausgerechnet diesem oder jenem Abschnitt zugeordnet worden ist. Das betrifft vor allem die Abschnitte „Religion und Glaube“ und „Individualität und Subjektivität“, in die auch etliche anderenorts wohl besser aufgehobene Lemmata wie beispielsweise „Liebe“ und „Denken“ bzw. „Freiheit“ und „Natur“ Eingang gefunden haben. Es betrifft aber auch einen Abschnitt wie „Liebe und Freundschaft“, dessen letzte acht Texte sich thematisch nur schwer dem durch den Titel gesetzten Rahmen zuordnen lassen – es geht in diesen prominent um Gott, um Vergessen und Erinnern und insbesondere ganz allgemein um Sehnsucht. Hier (wie anderenorts) wäre die Zuordnung bzw. den Zusammenhang betreffend die eine oder andere Erläuterung (ggf. im Nachwort) hilfreich gewesen.

Überraschend auch, dass die nicht nur im wortwörtlichen, sondern auch im tieferen Sinne politische Zeitgenossin Bettina im entsprechenden Abschnitt „Politik und Staatswesen“ nur durch zehn Aphorismen zu Wort kommt. Wäre es hier nicht sinnvoll gewesen, nicht nur Äußerungen zu „Politik und Staatswesen“ zusammenzutragen – hinsichtlich des Themas „Staatswesen“ war Bettina schon zu Lebzeiten nicht mehr ‚up to date‘, in dieser Hinsicht fasst sich die Anthologie an dieser Stelle zu Recht kurz –, sondern auch nach solchen zum Thema „Gesellschaft“? Es hätten sich jedenfalls entlang des Antagonismus von „Freiheit“ und „Philistertum“ zahlreiche (gesellschafts-)politische Aphorismen im Band selbst finden lassen, vor allem im deutlich umfangreichsten Abschnitt „Alltag und Lebensführung“.

Dieser Abschnitt, der Anmutung nach ein ‚Gemischtwarenladen‘, steht aus fachlicher Perspektive für eine eher unglückliche Ordnungsentscheidung. U. a. diese Entscheidung zieht es nach sich, dass eine Reihe von Begriffen, die für Bettinas Denken zentral sind, nicht in Gestalt eines eigenen Abschnitts oder in Abschnitttiteln hervorgehoben werden. Zu nennen sind vor allem der um „Fühlen“, „Empfinden“, „Ahnen“ („Inspiration“) und „Wollen“ kreisende Komplex, dazu jener, der von „Bildung“, „Wissen“, „Wissenschaft“ und „Wahrheit“ handelt, zum dritten jener, der sich um „Mensch“, „Leben“ und „Natur“ dreht.

Dem Laien wird und darf das alles aber ziemlich egal sein. Er wird sich auch so an den Aphorismen und sentenzartigen Reflexionen Bettinas ergötzen oder entzünden und für das auch ihn im Blick habende, ausführlich und gewinnbringend aus diversen Quellen zitierende Nachwort dankbar sein.

Dieses Nachwort geht den „Ursprünge[n]“ von Bettinas „Lust am Denken“ nach, streicht den Stolz Bettinas „auf ihre Fähigkeit, Einsichten und Erkenntnisse pointiert formulieren zu können“, heraus, liefert Belege für die „Faszinationskraft ihrer Rede“ und charakterisiert insbesondere ihr Denken in seiner diversen Vorbildern folgenden „poetisch-philosophischen Spruchhaftigkeit“. Dieses „in späteren Jahren“ zusehends von einem „didaktische[n] Impuls“ getragene und den „Charakter von ,Weisheitslehren‘ [Kertbeny]“ annehmende Denken, strebe „keine ‚abstrakten‘“, sondern lebensweltlich relevante Erkenntnisse an.  Es sei stets „Reflexion in Bewegung“ und von daher einer „ergebnisfixierte[n] Werkästhetik“ abhold. Daraus erkläre sich auch Bettinas „untilgbare Skepsis gegenüber den Folgen einer Fixierung des einmal Gedachten“.

Fazit: Wer etwas Besonderes verschenken möchte, greife zu dieser in hohem Maße anregenden Anthologie.

Titelbild

Bettine von Arnim: 'Der Tanz meiner Gedanken'. Aphorismen und Sentenzen.
Hrsg. von Wolfgang Bunzel und Petra Heymach, mit einem Nachwort von Wolfgang Bunzel.
Reclam Verlag, Stuttgart 2023.
118 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150113530

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