Wieviel Ich darf es denn sein?

Ruth Signer nimmt uns mit in die literarischen 1970er Jahre, geht dabei den Spuren einer „Neuen Subjektivität“ nach und findet lauter in Paradoxien verwickelte schreibende Ichs

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Valeria Gordeev den diesjährigen Bachmann-Preis gewonnen hatte, las ich in einem der Kommentare die launige Bemerkung, das sei nun endlich ein Stück Literatur, in dem nicht ein Ich erzählen würde. Klar, die Bemerkung war dem Überdruss an allzu vielen Familiengeschichten und Selbstbespiegelungen des Literaturmarkts der letzten Jahre geschuldet. Was mich aber dennoch zu der Frage brachte, wann hat Literatur jemals nicht Ich gesagt?

Denn unabhängig davon, ob sich das erzählende Ich in den Geschichten tatsächlich so nennt und meint oder irgendeinen erfundenen oder zitierten Namen trägt, ob grammatisch die erste oder dritte Person Verwendung findet, ändert doch wohl nichts daran, dass wir beim Schreiben, wo immer es sich um Dichtung und Literatur handelt, vor allem aus unserem sehr persönlichen Wissen und Bewusstsein, unseren eigenen Erfahrungen und Empathien inklusive Sym- und Antipathien schöpfen. Denken wir nur an Gustave Flauberts ebenso rätselhafte wie sinnfällige Formel „Emma Bovary – c’est moi“.

Nicht zu Unrecht oder notwendigerweise hat darum der Begriff Autofiktion Karriere in der Literaturwissenschaft wie in der Literaturkritik gemacht, weil es am Ende eben nicht um die Namensgebung in erzählerischen Werken geht und auch nicht darum, wer nun hinter der Figurenrede zu vermuten sei, sondern am Ende steht immer die banale Erkenntnis, dass jeder Text als Ursache ein schreibendes und damit schöpferisches Subjekt hat.

Aber so einfach ist es dann doch wieder nicht mit der Literatur. Und genau davon und noch einigem mehr handelt Ruth Signers materialreiche und profunde Studie Neue Subjektivität, bei der es sich um eine überarbeitete Dissertation handelt. Wobei das „mehr“ sich beispielsweise auf den Versuch bezieht, die 1970er Jahre als eine abgrenzbare literarische „Epoche“ zu beschreiben und zu erklären, und warum es damals zu einem erkennbaren Themen-Wechsel in der Literatur kam. Dabei stammt das Markenzeichen Neue Subjektivität aus jenem Jahrzehnt selbst. Im Übrigen hatte die Germanistik schon ziemlich schnell die Bezeichnung anerkannt und kanonisiert, wie Signer anmerkt. Die 70er Jahre haben offenbar eine gewisse Ausstrahlung, denn sie wurden schon mehrfach in den Blick genommen. Erinnert sei hier beispielsweise an Jens Balzers mentalitäts- und kulturgeschichtliche Exkursionen in Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er.

Neu war aber nicht die Subjektivität, sondern – wie schon gesagt – der literarische Themen-Wechsel, verbunden mit veränderten Selbstverständnissen, und schließlich die Resultate, die er hervorbrachte. Signer erinnert, dass auch ein Herbert Marcuse als einer der einflussreichen Ideengeber damals mit Blick auf den Zeitgeist vorzugsweise von der „Neuen Sensibilität“ sprach.

Und noch ein anderes Schlagwort kam hinzu, nämlich das vom „Tod der Literatur“, dem Ende der 60er Jahre Roland Barthes vielzitierter „La mort de l’auteur“ vorausging. Letzterem lag die Einsicht zugrunde, dass Texte durch die Wahrnehmung anderer ein Eigenleben entwickeln und abgeschnitten von den Intentionen des Autors existieren würden. Während es beim „Tod der Literatur“ um die Einsicht ging, dass die Texte in einem gesellschaftspolitisch operativen Sinne nicht funktionieren würden. Die gesellschaftliche Relevanz von Literatur wurde in Zweifel gezogen ebenso wie ihre Wirksamkeit. Marcel Reich-Ranicki titelte 1975 in der FAZ vielsagend „Rückkehr zur schönen Literatur“.

Aber wer wollte deshalb schon mit dem Schreiben aufhören? Der mutmaßliche „Tod der Literatur“ rückte vielmehr den/die Produzent*in selbst ins Zentrum: „‘Sich selbst‘ als Ausgangspunkt zu begreifen, scheint in der Folge die einzige Möglichkeit – auch für das Schreiben“, erklärt Signer. Exemplarische Texte dieses Themen-Wechsels fand die Autorin bei Nicolas Born (Die erdabgewandte Seite der Geschichte), bei Peter Handke, den sie als Hauptvertreter der Neuen Subjektivität ausmacht mit Wunschloses Unglück, Die Stunde der wahren Empfindung und Die linkshändige Frau. Aber auch Max Frisch kommt mit Montauk ins Spiel und ebenso Botho Strauß mit Die Widmung, Thomas Bernhard gleich mit einer ganzen Serie von autofiktionalen Texten wie etwa Die Ursache, Der Atem, Die Kälte.

Aber wenn es mit dem politischen Engagement und der gesellschaftlichen Relevanz der Literatur so schlecht bestellt ist, wie wäre es dann mit Authentizität und mit der Rückbesinnung auf das Subjekt? Genau das war der Ausweg. Der Rückzug ins Private war damit jedenfalls besiegelt:

Das autofiktionale Schreiben bringt Selbstreflexionen hervor sowie die literarische Verarbeitung des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses. Die literarischen Texte suggerieren in besonderer Weise, dass sich einige Verbindungen zum Kontext ihrer Entstehung ziehen lasse. Sie sind […] zu lesen als eine spezifische Reflexion auf das moderne Subjekt.

Damit taten sich zugleich neue Probleme auf. Denn wieweit kann das Selbst authentisch sein, wenn es zugleich in eine gesellschaftliche Relationalität eingebunden ist, mit der immer auch eine Haltung und ein Verhalten eingefordert werden? Ruth Signer unternimmt in diesem Zusammenhang umfangreiche Exkursionen und lässt darin die Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ebenso zu Wort kommen wie Roland Barthes, Richard Sennett und den schon erwähnten Herbert Marcuse.

Barthes reihte sich mit der vorgeblichen Autobiografie Über mich selbst in das autofiktionale Schreiben ein, jedoch mit dem Hinweis: „All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.“ Denn: „Welches Recht hat meine Gegenwart von meiner Vergangenheit zu sprechen? Hat meine Gegenwart meine Vergangenheit im Griff?“ Nein, hat sie natürlich nicht, aber das macht den Umgang mit ihr nur offener, wie uns unsere literarischen Kenntnisse zum Thema Dichtung und Wahrheit vermitteln.

Um noch einmal den Begriff Authentizität aufzugreifen – er tauchte damals bewusst als Gegenbegriff zu dem der Entfremdung auf, der wiederum nicht wegzudenken ist aus der damals intellektuell absolut dominierenden Kritischen Theorie. Man denke nur an Adornos Diktum, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Was beide jedoch vereint, das ist der Umstand, dass sie relativ unbestimmt blieben und eher Schwämmen glichen, die alles in sich aufnehmen, was immer den Interpretationen beliebte. Gleichwohl spürt Signer als Kernmoment der Neuen Subjektivität die Erfahrung der Fremdbestimmtheit auf, um sich ins Paradoxe zu retten: „Die Texte glauben an das, was sie in Frage stellen, nämlich an das private Subjekt der Selbstbestimmung.“

Und so kommt die Autorin zu dem Resümee:

Die Paradoxie, die in den Texten der 1970er Jahre zum Vorschein kommt und die Studie in erzählerischen, theoretischen, zeitdiagnostischen und literaturkritischen Texten dieser Jahre herausgearbeitet hat, zeigt sich in der unauflösbaren Spannung, in der sich das Subjektdenken und -erzählen der 70er Jahre bewegt. Die Wendung zum Subjekt in vielen Texten der 1970er Jahre artikuliert zugleich die Hoffnung und den prekären Stand des partikularen, privaten Subjekts, das sich gegen Entfremdung, Typik und Heteronomie richtet.

Titelbild

Ruth Signer: Neue Subjektivität. Paradoxe Subjekte denken und erzählen in den 1970er Jahren.
Brill | Fink, Paderborn 2023.
XX, 253 Seiten , 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783770567713

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