Familiengeschichte

Durs Grünbeins biografische Studie über den Untergang Dresdens: „Der Komet“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Familiengeschichten sind ein Kreuz.Nicht nur, weil Familien manchmal alles andere als Schutzräume sind, sondern auch weil nie klar ist, ob man sie nie wieder los wird oder ob die eigene Vorgeschichte einfach ins Vergessen gerät. Tot sind wir erst dann wirklich, wenn wir vergessen werden – eine Weisheit, die für uns heute aus einem Kinderfilm stammt (Coco, 2017). Auch wenn gerade in küchenpsychologischen Konzepten die Vorgeschichten von Familien eine unendliche Wirkung zu haben scheinen, kommt niemand drum herum hinzunehmen, über die eigenen Vorgängergenerationen immer weniger zu wissen. Über die Eltern … halbwegs, über die Großeltern … schon weniger (sind ja auch schon vier Geschichten, samt den vielen Seitengeschichten der kinderreichen Familien, die dann dazu kommen), Urgroßeltern? – Es wird wohl nicht mehr viele geben, die viel über ihre diese Generation wissen.

Das scheint auch Durs Grünbein umgetrieben zu haben, wie man dem Umschlag seines neuen Prosabandes entnehmen kann, auf dem zu lesen ist, dass ihn das „Verwischen der Spuren dessen, was überhaupt geschah, unter meinen Vorfahren“ am meisten bedrücke. Das hätte man, bedenkt man sein vorhergehendes Werk, nicht wirklich gedacht, schlug sich der Vordichter unserer Gegenwart doch in den letzten Jahren mit den neurechten Kollegen oder der öffentlichen Präsenz nationalistischen und antisemitischen Denkens herum (Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate). Allerdings belegt bereits sein 2015 erschienener Band mit Kindheitserinnerungen (Die Jahre im Zoo), dass sich Grünbein schon länger an seiner ganz individuellen Geschichte abarbeitet. Allerdings: Obwohl er das private Leben literarisch umhegt, kommen doch die biografischen Notizen zu Grünbein auffallend ohne Familienanhang aus. Keine Frau, keine Kinder, keine Eltern. Einzelkind soll er gewesen sein, was nicht wundert.

Nun also seine Großmutter Dora (Wirklich die Großmutter? Das ist wohl zu unterstellen.), die aus Schlesien stammend Mitte der 1930er Jahre nach Dresden kommt, ihrem Oskar folgend, also mitten hinein in einen der Hotspots des Neuen Reiches. Dort heiratet sie, bekommt zwei Kinder, verliert den Mann im Krieg und gerät in die Bombardierung Dresdens. Die Bombardierung Dresdens? Das ist kein belangloses Ereignis. Der Untergang der Stadt Dresden ist bis heute einer der schwelenden Motivkomplexe in der deutschen Geschichte, an dem der Widerspruch zwischen der Täter- und Opfernation Deutschland entfaltet wird, je nach politischer Couleur ausbuchstabiert.

Grünbeins Geschichte der Dora W. nun bewegt sich also auf schwierigem Gelände, was er mit einer aufschlussreichen Strategie bewältigt. Denn die Geschichte dieser jungen Frau zwischen 1935 und 1945 wird vor allem und unbedingt als persönliche, private Geschichte erzählt, die jedoch untrennbar mit den öffentlichen Ereignissen verknüpft ist. Sicher, die Veränderung der deutschen Gesellschaft, die Durchdringung und Prägung durch das NS-Regime sind im gesamten Buch präsent. Und die Haltungen eben nicht nur des Erzählers, sondern auch seiner Protagonisten, also Doras, Oskars, der Freundin Trude sind distanziert genug. Sie halten wenig davon und bleiben auf Abstand, so gut es eben geht. Die Verwüstungen, die NS-Schergen bei einer jüdischen Nachbarin anrichten, entsetzen sie. Nur, zeigen können sie das nicht, entziehen können sie sich nicht. Das Regime bestimmt den Alltag immer stärker, es rückt den Einzelnen dicht auf die Pelle, bis hin zu den durchexerzierten Luftschutzübungen. Oder Dora muss die neuen NS-Feiertage, hier den Muttertag, über sich ergehen lassen, Oskar kann sich dem Betriebssport im Dresdner Schlachthof, in dem er arbeitet, nicht entziehen. Und schließlich, Oskar wird einberufen, kommt an die Ostfront …

Bleibt nur der Rückzug ins Private, die Familie, die Kinder, die Ausflüge mit den Männern, solange sie noch da sind, oder mit der Freundin, die gemeinsamen persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen. Das ist konsequent. Wie wenig dieser Raum aber schützen kann, zeigt dann das Bombardement Dresdens im Februar 1945, dem Dora mit Glück, die Kinder nur mit Hilfe ihrer Freundin Trude, entrinnen, die ein Leben lang für sie die Tante bleiben wird. Sie überleben, aber das Leben der letzten zehn Jahre geht mit der Stadt unter.

Was eine merkwürdige und nicht einfache Botschaft ist. Die freilich in einer Sprache vorgetragen wird, über die es nachzudenken gibt: Denn Grünbeins Text hat einen auffallend behäbigen Duktus. Das ist leicht abzuwatschen, aber eben nicht angemessen. Die geringe Textdynamik mag damit zusammenhängen, dass Grünbein seit seinen Antikenstudien seinen Satzbau nicht eben verschlankt zu haben scheint: Neusachliche Stringenz ist ebenso wenig seins wie das verspielte Verzetteln oder das modernistische Fragmentieren. Hatte Grünbein seinen Text von 2015 noch als „Kaleidoskop“ angelegt, ist er hier immerhin bei einer Geschichte angelangt, die mithin Stringenz, einen Faden verlangt (vom Feuersturm zurück in die biografischen Anfänge zurück zum Feuersturm). Zugleich bremst Grünbein den Fluss seines Textes aus. Ein Beispiel, ganz prominent gesetzt: „das Verwischen der Spuren dessen, was überhaupt geschah, unter meinen Vorfahren“. Das hat einen ganz eigenen, aber eben gehemmten Flow, hinter dem sich ein reduzierter klassische Satzbau ahnen lässt.

Zugleich ist sich Grünbein nicht zu schade, seinen Protagonisten auch in den Haltungen nahezukommen, mithin den Denkformen, Wendungen und Bildern, die einer kleinbürgerlichen Existenz in den 1930er Jahren zugeschrieben werden kann. Die ist aller Ehren wert, aber ihre Formeln sind eben ihre achtzig, neunzig Jahre alt und sind durch sämtliche Pathos- und Kitschkonjunkturen hindurch dann bei Grünbein gelandet, der sie anwendet, als wenn es kein Gestern gäbe. Das ist insofern konsequent, als der Erzähler sich nicht über seine Protagonisten emporschwingt. Er bleibt, was Sprache, Formen und Reflexionsniveau angeht, auf ihrem Niveau, und entlässt Leser daraus nicht voreilig. Das mag dann auch den pathetischen und an langen Haaren herbeigezogenen Titel begründen, mit dem der Halleysche Komet von 1910 mit dem Untergang Dresdens 1942 kurzgeschlossen wird, der eine in alle Himmelsrichtungen verstreute Familie antrifft. Ein besseres Bild hat Grünbein dafür nicht gefunden – weil seine Protagonisten keins haben müssen.

Titelbild

Durs Grünbein: Der Komet. Ein Bericht.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
280 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430200

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch