Mehr als Buchwissenschaft
Axel Kuhn und Ute Schneider legen ein umfangreiches Handbuch zur Buchforschung vor
Von Günther Fetzer
Konnte Ursula Rautenberg 2010 noch eine eindrucksvolle Bilanz der Buchwissenschaft in Deutschland in zwei Bänden vorlegen, so ist das universitäre Fach inzwischen institutionell in einer prekären Lage. Die traditionsreiche Mainzer Buchwissenschaft ist in einem größeren Institut aufgegangen, das Erlanger Institut gegenüber seinen „Hochzeiten“ personell sehr geschrumpft, die seit 1995 in Leipzig bestehende Professur für Buchwissenschaft und Buchwirtschaft in einer Professur für Medienwandel verschwunden. Zurecht hat man angemerkt, dass das Fach zu wenig exotisch sei, um wenigstens als Orchideenfach Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. In dieser Situation ist es verdienstvoll, dass Axel Kuhn (Erlangen) und Ute Schneider (Mainz) ein Werk vorlegen, das nicht die Buchwissenschaft, sondern die Buchforschung zum Gegenstand hat. Auf über 600 Seiten präsentieren sie ein interdisziplinäres Handbuch, das sowohl die theoretischen Perspektiven als auch die Gegenstände der Buchforschung in extenso thematisiert.
Der Band ist in acht Sektionen gegliedert. Nach der Einleitung über Buchforschung tragen diese die Überschriften Buchartefakte, Buchnutzung, Bücher im Medienkontext, Organisation und Strukturen der Buchkommunikation, Institutionalisierung des Buchs, Soziokulturelle Leistungen von Büchern sowie Makroskopische Perspektiven der Buchforschung. Mit einer Ausnahme umfasst jede Sektion drei Kapitel, die einer gemeinsamen Grundstruktur folgen. Auf die Konturierung des Gegenstandsbereichs folgen ein Forschungsüberblick und die theoretischen Perspektiven; anschließend werden Forschungsdesiderate artikuliert. Jedes Kapitel endet mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis. Die 23 Kapitel von 21 Autoren können im Rahmen einer Rezension natürlich nicht im Einzelnen gewürdigt werden – obwohl sie es allesamt in der einen oder anderen Richtung verdient hätten. Vielmehr konzentriere ich mich auf die ausführliche Einleitung der Herausgeber und Einzelaspekte.
Axel Kuhn und Ute Schneider gehen in ihrer Einleitung zunächst auf die Geschichte der Buchforschung ein und greifen dabei ins 17. Jahrhundert zurück. Aus der „Bücherkenntnis“ oder „Bücherkunde“ entwickelte sich bis zum 20. Jahrhundert die „Buchkunde“, die das gesamte Wissen vom Buch umfassen sollte, aber dabei wichtige Forschungsdimensionen wie Distribution und Rezeption oder Ökonomie des Buchs beiseiteließ. Zeitlich parallel dazu etablierte sich eine Buchforschung als Hilfswissenschaft (Frühdruckforschung, Literärgeschichte, Papier- und Wasserzeichenkunde, Schriftgeschichte). In den 1960er bis 1980er Jahren gewann die außeruniversitäre Buchforschung (Deutsches Bucharchiv in München, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Deutsches Literaturarchiv in Marbach) an Bedeutung; sie verfolgte jedoch institutionenspezifische Einzelinteressen ohne theoretische Perspektivierung: „Die Buchforschung erfolgte ohne disziplinäre Engführung bis nach dem Zweiten Weltkrieg somit in unterschiedlichen Disziplinen als Hilfswissenschaft, als öffentliche Aufgabe in Bibliotheken und Archiven sowie als Auftragsforschung aus dem Umfeld des Buchhandels.“
Gleichwohl waren diese außeruniversitären Aktivitäten mit dafür verantwortlich, dass nach Mainz (1947) in München (1964), Münster, Erlangen (1971) und Leipzig (1995) Professuren für Buchwissenschaft eingerichtet wurden. Wesentliches Manko war, dass „ein allgemein gültiges, konsistent theoretisch untermauertes Forschungsmodell der Buchwissenschaft […] über die einzelnen Perspektiven hinaus jedoch nicht“ entstand. Leerstellen blieben so Medientheorien der Frankfurter Schule, von Michel Foucault und Friedrich Kittler sowie vor allem die weitgehende Absenz der Diskurstheorie. Buchforschung war lange Zeit Geisteswissenschaft, doch auch die Annäherungsversuche der Buchwissenschaft an die Kommunikationswissenschaft konnten die „notwendige Verknüpfung von Kommunikationsprozessen und sozialen Handlungen“ nicht zufriedenstellend lösen, weil die Kommunikationswissenschaft Bücher als Gegenstand konsequent bis heute ignoriere.
Vor dieser historischen Folie spannen Kuhn und Schneider ihre Skizze der Buchforschung der Gegenwart auf, indem sie ausführlich deren Gegenstände (vom materiellen und medialen Objekt über die Materialität bis zu den Leistungen von Büchern in Gesellschaft und Kultur) und theoretischen Perspektiven skizzieren. Die Beschreibung dieser theoretischen Perspektiven basieren auf vorlaufenden theoretischen Ansätzen wie Geschichtstheorie, Mentalitätsgeschichte, Literatursoziologie und allgemeine Kultursoziologie, die Theorie sozialer Systeme sowie Mediennutzungs- und Medienwirkungstheorien. Daraus destillieren die Herausgeber vier „theoretische Fluchtpunkte der Buchforschung, die als übergreifende Perspektiven inzwischen transdisziplinär anerkannt sind“. Das sind Zeichentheorien, Handlungstheorien, Kulturtheorien sowie Struktur- und Systemtheorien. Situativ können verschiedene spezifische theoretische Perspektiven verwendet werden (unter anderen Gestaltungs- und Kunsttheorien, Sprachtheorien, Organisationstheorien).
Das abschließende vierte Kapitel der Einleitung ist mit „Buchforschung als institutionalisierte Wissenschaft“ überschrieben. Wegen der Ausdehnung und der transdisziplinären Bearbeitung sei das makroskopische Forschungsfeld Buchforschung nicht institutionalisiert; „eine interdisziplinäre Community der Buchforschung als spezifische Wissenskultur […] existiert deshalb bis heute nicht“. Nach der Bestimmung des Formalobjekts einer wissenschaftlich institutionalisierten Buchforschung springt die Darstellung etwas überraschend zur Buchwissenschaft, ihrer Legitimation und ihrer Positionierung zurück, ohne dass dieser Perspektivwechsel thematisiert würde. Die Frage einer Fachcommunity oder gar Institutionalisierung von Buchforschung bleibt offen.
Insgesamt liegt mit diesem Band ein umfangreiches, informatives und zukunftsweisendes Handbuch für die Buchforschung vor, das viele Ansätze und Denkanstöße für weitere Forschungsarbeiten bietet. Es ist nicht zu vermeiden, dass in einem Handbuch dieses Anspruchs und Umfangs auch Beiträge enthalten sind, die eher die bisherige Forschung resümieren und nicht so sehr die theoretische Perspektivierung betonen. Das gilt beispielhaft für die Sektion Organisation und Strukturen der Buchkommunikation und hier insbesondere für die Kapitel über die Buchökonomie, die Organisationen des Buchhandels und die Literaturvermittlung, aber in hohem Maß auch für die Kapitel über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Stützungssysteme der Buch- und Lesekultur in der Sektion Institutionalisierung des Buchs. Vieles davon hat man andernorts bereits (besser?) gelesen.
Hervorzuheben ist, dass es den Herausgebern gelungen ist, Autoren zu gewinnen, die in der Mehrzahl ihre wissenschaftliche Sozialisation im neuen Jahrtausend erfahren haben, und dass damit neue Stimmen im wissenschaftlichen Diskurs zu Wort kommen. Nicht minder wichtig ist es, die hervorragende Registerausstattung des Bands hervorzuheben. Neben dem genreüblichen Personenregister bietet das Buch drei weitere, die den Inhalt zielgenau aufschlüsseln, nämlich Register der Gegenstände der Buchforschung, der theoretischen Perspektiven der Buchforschung und der Begriffe aus der Buchforschung. Von Seiten des Rezensenten kein Wort zur Preispolitik des Verlags!
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