Mittendrin, aber nicht dabei
In seinem Sachbuch „Der doppelte Erich“ geht Tobias Lehmkuhl den Ambivalenzen von „Kästner im Dritten Reich“ nach
Von Thomas Merklinger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWährend die meisten linksorientierten Intellektuellen der Weimarer Republik mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ins Ausland gegangen sind, ist Erich Kästner geblieben. Dabei waren seine Bücher – mit der expliziten Ausnahme von Emil und die Detektive – bei der öffentlichen Bücherverbrennung unter den ersten, die ins Feuer geworfen wurden. Kästner war vor Ort und hat es mitangesehen. Er wurde dort sogar von einer jungen Frau erkannt, die seine Anwesenheit laut bekundete. Und doch ist ihm nichts passiert.
Man könnte sagen, dass diese Szene auf dem Berliner Opernplatz die seltsam widersprüchlichen Jahre Kästners im ‚Dritten Reich‘ einleitet: Er wurde öffentlich verfemt und saß doch stets für alle sichtbar im Café Leon. Trotz Veröffentlichungsverbots erschienen seine Bücher auch in Deutschland. Und obwohl ihm mit einer Sondergenehmigung die Mitarbeit am Drehbuch des Ufa-Jubiläumsfilms Münchhausen erlaubt wurde, verwehrte ihm die ‚Reichsschrifttumskammer‘ Anfang 1943 final die Mitgliedschaft und erweiterte das Publikationsverbot auch für das Ausland. Das faktische Berufsverbot hinderte ihn nicht daran, äußerst produktiv zu sein, und er kaufte sich noch im Juni 1943 mit dem Honorar für den Münchhausen-Film Grundstücke am Scharmützelsee.
Diese ambivalenten Jahre schlagen sich auch in seinen literarischen Schriften nieder. Es ist auffällig, dass das Motiv des Doppelgängers in Kästners Werken während der nationalsozialistischen Herrschaft dominant wird. Das Spiel mit Masken, vertauschten Identitäten und Zwillingen durchzieht die Texte Kästners während dieser Zeit und verschwindet nach 1945 weitgehend wieder. Diese Beobachtung aufgreifend, geht der Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl in Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich den Widersprüchlichkeiten Kästners während der zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft kritisch nach.
Schon die Frage, warum Kästner überhaupt in Deutschland geblieben ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wichtig ist sicherlich die enge Beziehung zur Mutter. Sie nicht alleine zu lassen, darf als zentraler Faktor betrachtet werden. Darüber hinaus befindet sich Kästner in den 1930er Jahren auf der Höhe seines Erfolgs. Darauf hat er lange Zeit hingearbeitet, und man kann wohl ebenfalls davon ausgehen, dass er seine Position nicht aufgeben wollte, um anderswo neu zu beginnen. Auch wenn er zunehmenden Einschränkungen ausgesetzt gewesen ist, hatte er doch Erwerbsmöglichkeiten. Obwohl seine Bücher im deutschsprachigen Ausland gedruckt wurden, fanden sie auch den Weg in deutsche Buchhandlungen. 1941 hat Kästner ein überdurchschnittliches Einkommen von (wie Lehmkuhl auf heutige Verhältnisse umrechnet) etwa 136.000 Euro.
In den Jahren nach der Machtübernahme veröffentlicht Kästner fünf Romane – drei für Erwachsene und zwei für Kinder. Er arbeitet an mehreren Theaterstücken mit und operiert mit Pseudonymen. Er hat sich unter den neuen Bedingungen eingerichtet und die Repressionen sind vergleichsweise gering, auch wenn er zweimal von der Gestapo verhört wird. Vielleicht will er sein gewohntes und erarbeitetes Leben nicht aufgeben, vielleicht unterschätzt er auch die Situation und geht davon aus, dass alles nicht so schlimm werde. Dabei kommt Kästner sicherlich zugute, dass er ein sehr umgänglicher Mensch ist. Andererseits zeigen seine Bemühungen, in die ‚Reichsschrifttumskammer‘ aufgenommen zu werden, aber auch, dass er zumindest auf dem Papier bereit war, sich den Regeln des NS-Systems zu unterwerfen.
In Selbstaussagen nach dem Krieg führt Kästner schließlich an, als Beobachter geblieben zu sein, um Material für einen Roman über das ‚Dritte Reich‘ zu sammeln. Tatsächlich notiert er ab 1941 in einem blauen Blindband in Kurzschrift Eindrücke und Szenen, fügt Zeitungsausschnitte ein und skizziert Ideen. Der projektierte Roman selbst gelangt wohl nicht über grobe Entwürfe hinaus. Lediglich Teile der Tagebuchaufzeichnungen veröffentlicht Kästner unter dem Titel Notabene 45. Das ganze Tagebuch ist als sogenanntes ‚Blaues Buch‘ erst 2005 im Marbacher Magazin 111/112 erschienen. Gerade dieses Buch aber wirft Fragen auf. Lehmkuhl diskutiert etwa, warum Kästner erst so spät mit Aufzeichnungen begonnen hat, wenn er doch unter anderem für sein Romanprojekt in Berlin geblieben ist. Er fragt, wie der veröffentlichte Tagebuchauszug Notabene 45 einerseits dreimal so ausführlich geworden ist und zugleich authentisch sein soll. Im Rückblick mache sich Kästner dann „eben doch schlauer und vorausschauender, als er es in Wirklichkeit war.“
Lehmkuhl analysiert zudem retrospektive Selbststilisierungen, etwa wenn Kästner in einer Ansprache an den PEN-Club im Jahre 1958 sagt, er sei bei einer Boxveranstaltung „als einziger“ sitzen geblieben und habe sich nicht beteiligt, als die Halle zum Hitlergruß das Deutschlandlied und das Horst-Wessel-Lied gesungen habe. „Hunderte schauten mich drohend und lauernd an“, heißt es an der Stelle weiter. Wenn aber alle stehen, könne weder Kästner sehen, ob er der einzige ist, noch könnten ihn ‚Hunderte‘ anstarren. Entgegen der Behauptung Kästners, „beileibe keine Heldentat“ begangen zu haben, ist Lehmkuhl doch zuzustimmen, dass Kästner sich durchaus „in stummer Verweigerung“ als widerständig und damit zuletzt in gewisser Weise durchaus als heroisch inszeniert. Die Szene ist literarisch gehöht und könnte, wie Lehmkuhl spekuliert, eine sinnbildliche Visualisierung der eigenen Haltung sein: „Vielleicht enthält diese logisch unstimmige, bildlich blendende Szene im Kern Kästners gesamtes Verhältnis zum Nazitum.“ Kästner ist mittendrin, aber nicht dabei.
Dies geht mit dem „kalten Blick“ des Tagebuchs einher. Im Sinne der französischen Moralistik beschreibt Lehmkuhl Kästner als einen ‚Moralisten‘, einen distanzierten Beobachter und Analytiker der Sitten seiner Gesellschaft. So ließen sich dann auch die wertungsfreien Notate im Blauen Buch erklären. Andererseits liest Lehmkuhl aus den während der Nazi-Zeit veröffentlichten Romanen für Erwachsene Drei Männer im Schnee (1934) und Die verschwundene Miniatur (1935) versteckte politische Momente heraus. Im ersten Roman wird zwischen den Zeilen noch verdeckt empfohlen, der national infizierten Verlobten eine Backpfeife zu geben. Im zweiten Roman wird Kopenhagen als eine Stadt eingeführt, in der die Zeit stehen geblieben sei, während doch in fernöstlichen Ländern Revolutionen tobten. Noch subtiler als im Vorgängerroman sieht Lehmkuhl hier einen „Ausweichschritt“ gegeben, denn auch in Europa, insbesondere natürlich in Berlin, haben sich durchaus Veränderungen vollzogen. Lediglich der dritte Roman der 30er Jahre, Georg und die Zwischenfälle von 1938 (später als Der kleine Grenzverkehr wiederveröffentlicht), weise keine politischen Anspielungen mehr auf.
Gemeinsam ist diesen Büchern allerdings das Spiel mit Masken und Verwechslungen. In diesem Punkt spiegeln sie Kästners Lebensrealität unter nationalsozialistischer Herrschaft. Nicht nur waren Unterhaltungsromane und Verwechslungskomödien einigermaßen unverfänglich, er selbst arbeitete im Hintergrund an den Werken anderer mit oder nutzte dabei die Namen von Kollegen oder Pseudonyme, um das gegen ihn verhängte Publikationsverbot zu umgehen. Die zentrale Frage Lehmkuhls jedoch, ob Kästner „deswegen ein gespaltener Mensch“ war oder nicht bereits immer schon von Widersprüchen geprägt gewesen ist, bleibt zuletzt unbeantwortet. Wahrscheinlich ist beides nicht falsch.
Die Kapitel sind nach einzelnen Themenkomplexen geordnet, die biographische und literarische Aspekte verhandeln. So geht Lehmkuhl unter anderem auf Kästners Frauenbild ein (das nach heutigem Maßstab nicht unproblematisch ist), fasst die in den 1930er Jahren veröffentlichten Romane zusammen oder stellt den „Kampf mit dem Kriegsschädenamt“ dar. Dieses Vorgehen hat sicherlich den Vorteil, dass zentrale Punkte im Zusammenhang dargestellt werden. Andererseits löst sich beim Lesen die chronologische Einordnung auf und es kommt zu Redundanzen, etwa wenn wiederholt erwähnt wird, dass Kästner die Schriftstellertätigkeit im Café als „Kleine Versfabrik“ bezeichnete, gerne Tennis spielte und zudem öffentlich exponiert arbeitete und damit dem berühmten ‚entwendeten Brief‘ aus Edgar Allan Poes gleichnamiger Erzählung glich.
Kritisch, dabei aber nicht ohne Sympathie entwirft Tobias Lehmkuhl ein kompaktes Bild der widersprüchlichen zwölf Jahre im nationalsozialistischen Regime und stimmt mit seinem gut lesbaren Buch bereits auf das Jubiläumsjahr 2024 ein, wenn sich Erich Kästners Geburtstag zum 125. Mal jährt.
|
||