Schweizer Literatur aus sechs Jahrhunderten im Dienste der Überwindung von Sprachgrenzen

Der Schweizer Romanist Peter Glatthard setzt sich als Herausgeber und Übersetzer für „Fliessende Grenzen“ zwischen den Sprachregionen seines Heimatlandes ein

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Befragt man jemanden im „großen Kanton“, also Deutschland, nach typischen Merkmalen der Schweiz, dann wird neben landschaftlicher Schönheit, wirtschaftlichem Wohlstand und politischer Neutralität auch die Mehrsprachigkeit genannt. Deutsch, Französisch und Italienisch, ach ja, dazu noch Rätoromanisch. Tatsächlich gehören die vier Landessprachen zum Selbstverständnis der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Neben den Sprachterritorien gibt es jedoch auch Mehrsprachigkeit in vier Kantonen und einer Stadt. Außerdem führt zunehmende Mobilität zu mehr individueller Mehrsprachigkeit. Keine Sprachgemeinschaft sucht den Anschluss an Deutschland, Frankreich oder Italien. Vor rund einhundert Jahren freilich gab es Deutschschweizer, die sich dem Deutschen Reich anschließen wollten. Bekannt ist der „Röstigraben“ als Grenze zwischen der Deutschschweiz und der französischsprachigen „Romandie“. Er ist nicht nach einem derzeitigen Bundesrat benannt, sondern nach dem Deutschschweizer Rezept für zu Fladen gebratene geriebene Kartoffeln. Sprachgrenzen müssen bei aller geopolitischen Bedeutung keine unüberwindbaren Schranken sein. Dennoch gibt es immer wieder Konflikte zwischen den Sprachgruppen, so dass die Schweiz zwischen Einigkeit und Zwiespalt lebt. Bemühungen um ein besseres gegenseitiges Verständnis sind dringend geboten.

Dies zum Kontext eines Buchs, dessen Zielrichtung mit dem Titel Fliessende Grenzen (in schweizerdeutscher Rechtschreibung) auf den Punkt gebracht wird. Der als Übersetzer und Redakteur praxiserfahrene Romanist Peter Glatthard hat 37 literarische Texte aus der Schweiz und aus sechs Jahrhunderten zusammengestellt und teils selbst übersetzt. Als Herausgeber praktiziert er Mehrsprachigkeit, indem sämtliche nichtdeutsche Texte in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung erscheinen, die deutschen in französischer Übersetzung.

Unter den Autoren finden sich Berühmtheiten wie der Reformator Huldrych Zwingli, der Friedensnobelpreisträger Henry Dunant und die Dichter Jeremias Gotthelf und Conrad Ferdinand Meyer. Zwingli warnte die Eidgenossen 1524 vor Eigennutz und vor Söldnerdienst für fremde Herren und rief dazu auf, Widrigkeiten gemeinsam durchzustehen. Gotthelf wandte sich 1837 schonungslos gegen Knechtung und Ausbeutung. Eine Erinnerung an Solferino, der Erlebnisbericht von Dunant nach einer dortigen Schlacht 1859, führte zur Gründung des „Roten Kreuzes“. Meyer schilderte 1872 das Schicksal des Kirchenkritikers Ulrich von Hutten, der Asyl in der Schweiz fand.

Spätere und zeitgenössische Autoren sind in sprachlicher und inhaltlicher Vielfalt vertreten, gehen weit in die Schweizer Geschichte zurück oder stellen sich aktuellen Problemen. Sie können hier nicht einzeln gewürdigt werden; zwei seien stellvertretend genannt. Ironisch getönt ist die Apotheose des 1938 geborenen E. Y. Meyer, die auch die „Fünfte Schweiz“ erwähnt: das Ausland, in dem Schweizer eine neue Heimat suchten. In Absolut modern! von Jérôme Meizoz (Jahrgang 1967) geht es drastisch um stockendes Wachstum, überholte Erwartungen und den alles verschlingenden Konsum.

Zu rühmen ist der zweisprachige Apparat des Buchs mit einem erhellenden Vorwort, knappen Inhaltsangaben zu allen Texten und umfangreichen Anmerkungen. Die wissenschaftlich und historisch abgesicherten und tiefgründigen Informationen über die Schweizer Sprachgrenzen, ihre Entstehung und ihre Auswirkungen, münden in den Appell, das Einende vor das Trennende zu stellen. Dies gilt weit über die Schweiz hinaus. Nicht zufällig endet die Textsammlung mit Conrad Ferdinand Meyers Verheißung: „Friede, Friede auf der Erde!“

Titelbild

Peter Glatthard (Hg.): Fliessende Grenzen – Par-delà les frontières. Literarische Texte zur Schweiz – Textes littéraires sur la Suisse.
Schwabe Verlag, Basel 2023.
464 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783796547591

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