Einmal ins düstere Europa und zurück
Das Comic-Duo Zidrou und Frank Pé steuert eine bemerkenswerte Variante zum Erzählkosmos des Marsupilami bei. „Die Bestie“ liegt jetzt komplett in der deutschen Übersetzung vor
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Marsupilami hat in den letzten Jahren neue Aufmerksamkeit erfahren. Was kaum wundert, denn das gelbe, schwarzgefleckte Wesen mit acht Meter langem Schwanz, das sich durch besonders unbändiges Verhalten, einen klaren Gerechtigkeitssinn und einen reduzierten Sprachschatz auszeichnet, bietet sich gerade heute wieder für Neubearbeitungen an. 1952 vom berühmten belgischen Comiczeichner André Franquin (1924-1997) erfunden, trat das Marsupilami anfangs in den Spirou-Bänden als side kick auf, machte sich schließlich aber selbständig. Zu offensichtlich war das Potential des anarchischen Tiers, dessen Vokabular zwar nie wesentlich über ein „hubahuba“ hinausging, das dabei aber durchaus hellsichtig die Verhältnisse in der ach so vernünftigen Welt der Menschen zu durchschauen und zu benennen in der Lage war. Grund genug, das alles gründlich durchzuschütteln, vor allem dann, wenn Geldgier und Machthunger ihre Urständ feierten. Auf 30 Bände brachte es das klassische Marsupilami auf seine urkomische Weise – eine beachtliche Serie.
Auch wenn Franquin sich bald auf eine eher begleitende Rolle beim Marsupilami zurückzog, brauchte es seine Zeit, bis es Nachfolger wagten, sich vom großen Vorbild zu lösen und dem Marsupilami ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Nicht zuletzt hat dies der Berliner Zeichner Flix (vulgo Felix Görmann) versucht, der 2022 bei Carlsen einen Marsupilami erscheinen ließ, der Anfang der 1930er Jahre in Berlin angesiedelt ist. Zuvor war allerdings bereits, ebenfalls bei Carlsen, der erste Teil einer zweibändigen neuen Variante erschienen, die vom frankobelgischen Comic-Duo Frank Pé (Zeichnungen) und Zidrou (Benoît Drousie, Story) kreiert worden ist. Der zweite, abschließende Band ist nun endlich nachgelegt worden.
Endlich? Ja, endlich, denn die beiden Bände beeindrucken nicht nur wegen ihres Umfangs, des Formats und Gewichts, sondern auch wegen ihres erzählerischen Duktus‘. Von Franquins vorgeblicher Albernheit, den kindlichen Zügen der Figuren, deren Abgründe sich erst beim zweiten Blick erschließen, ist bei Frank Pé und Zidrou wenig geblieben. Lediglich in der satirischen Überzeichnung von Figuren, die teilweise provoziert, lässt sich ein bisschen von den putzigen Zeichnungen alter Façon wiederfinden. Der Gaul, der säuft, die Gauner, die vor Dämlichkeit nicht recht laufen können, die geifernden Marktweiber, die sich das Maul über die Kollegin zerreißen, die es mit einem deutschen Besatzer hatte, der hochtrabende Professor, der zu extravaganten, nicht existenten Arten forscht, und dem mit dem Marsupilami ein Lebenstraum in Erfüllung geht – sie verdecken allesamt kaum die düstere und gewalttätige Erzählweise, die die beiden Autoren der Bände gewählt haben.
Und die hat es in sich. Großformatige, in ihrer Durchzeichnung außerordentlich detaillierte Zeichnungen führen durch eine ebenso beeindruckende Erzählung. Die Geschichte ähnelt dabei verblüffend der, die Flix in seiner Berlin-Variante gewählt hatte: Das Marsupilami gerät, in seinem Ursprungsland Palumbien eingefangen, in die fremde Stadt, ins fremde Land, verbündet sich dort mit einem Kind, erlebt mit ihm einige turbulente Abenteuer (die nicht zuletzt der Selbstermächtigung des Kindes in einer widerständigen Erwachsenenwelt dienen) und kann schließlich mit Unterstützung seines minderjährigen Verbündeten wieder dahin zurückkehren, woher es kommt, in jenes fremde südamerikanische Land, dessen Lage wohl bis heute nicht recht klar geworden ist.
In großen Zügen, in Formaten, die die Seiten umfassend füllen und mit einem äußerst düsteren Tonfall wird diese Geschichte erzählt, die im Nachkriegs-Belgien angesiedelt ist, also an dem Ort und in der Zeit, aus denen das Marsupilami ideentechnisch stammt.
Aus dem Marsupilami, das hier mit einem Tiertransport aus Übersee in den Hafen von Antwerpen einläuft und das eines der wenigen überlebenden Tiere, ist ein verrrücktes, unheimliches, eben unbekanntes Tier geworden, das sich seinen Häschern, die in ihm ein letztes verbliebenes Geschäft sehen, entzieht und ins Dunkle verschwindet. An Land und in Brüssel wird es von einem kleinen Jungen, François, aufgelesen, dessen Mutter die Tiraden der anderen Fischverkäuferinnen aushalten muss und der gerade von seinen Schulkameraden kahlgeschoren worden ist, eine gängige Kennzeichnung der Nazi-Kollaborateur:innen direkt nach Ende des Krieges. Er fügt das Marsupilami seiner Menagerie daheim hinzu, die er sich anstelle von Freunden hält. Aber die chaotische Idylle hält nicht lange, die Verfolger nahen, der erste Band endet in einem Desaster: Die Tiere werden ins Tierheim verfrachtet, das Marsupilami kommt zu dem absonderlichen Forscher. Die Mutter Francois‘ sitzt daheim mit dem Säufergaul und ist verzweifelt.
Der zweite Band nun bietet eine Reihe von Überraschungen und kommt mit einem sich stetig erhellenden Stimmungsbild daher: Die mobbenden Schulkameraden, zu denen auch ein jüdischer Junge gehört, solidarisieren sich mit Francois, die Tiere werden aus dem Tierheim befreit, sogar der absonderliche Professor wandelt sich, das Marsupilami kann schließlich nach Palumbien zurückkehren. Ende gut alles gut? Man wird sehen. Die beiden Bände jedoch gehören zu dem Großartigsten, was in letzter Zeit aus dem vormaligen Franquin-Kosmos heraus entstanden ist.