Magischer Realismus trifft auf jüdische Literaturtradition

Tomer Dotan-Dreyfus definiert in „Birobidschan“ den Verlauf der Zeit neu

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Birobidschan liegt im Südosten Russlands, an der Grenze zu China, und ist die Hauptstadt der Jüdischen Autonomen Oblast, die 1928 von Stalin zum jüdischen Siedlungsgebiet erklärt wurde. Auch wenn die jüdische Bevölkerung dort heutzutage nicht mal 10 % aller Einwohner ausmacht, wird die jüdische Tradition dennoch durch die kleine jüdische Gemeinde gepflegt. Birobidschan ist zugleich ein Teil des Settings des gleichnamigen Romans von Tomer Dotan-Dreyfus. Allerdings spielt der physische Ort für die Handlung nur sofern eine Rolle, als dass er als Symbol für eine Welt steht, deren Einwohner kollektiv nach den jüdischen Traditionen leben.

Im Zentrum der komplexen Handlung steht Boris. Er ist ein Fischer und zugleich der älteste lebende Birobidschaner. Als Kind erlebt er eine Nahtoderfahrung, als er in einem Schneesturm – fast eingefroren – einem kleinen Mädchen begegnet. Eben dieses geheimnisvolle, stumme Mädchen verknüpft mehrere Handlungsstränge dieses Romans miteinander und gehört, ähnlich wie zwei nach dem Mädchen suchende Männer, zu den Elementen des magischen Realismus. Die Handlung besteht aus vier Hauptsträngen, die durch den mysteriösen Tod von Boris initiiert werden. So fahren der Arzt, Sulika und Julia in die Nachbarstadt, um die Rabbiner zwecks der Bestattung abzuholen. Zeitgleich wollen Joel und Rachel heimlich das stumme Mädchen nach Moskau bringen. Als Rückblende wird eine Reise von Sascha und Gregory erzählt, die zur Stelle des Tunguska-Ereignisses ins Land der Ewanken führt. Der letzte Handlungsstrang konzentriert sich auf Alex, der die jüngere Generation der Birobidschaner repräsentiert und der als der Protagonist des Romans betrachtet werden kann. Die Figuren des Romans, die ausnahmslos dynamisch und rund aufgebaut sind, sind mehrfach miteinander verbunden und gehören drei Generationen an. 

Tomer Dotan-Dreyfus arbeitet in seinem Roman stark mit Parallelen, mit Kontrastkonstellationen sowie mit Spannung, die sich hauptsächlich aus den inneren Konflikten der Figuren ergibt. Hervorzuheben ist die fein erarbeitete Struktur des Textes. Die Handlungsstränge sind gut miteinander verwoben und verfügen über ein hohes Maß an Komplexität. Der handlungsorientierte Plot basiert auf einem Rätsel, bzw. sogar auf mehreren: wer hat Boris getötet, wer ist dieses stumme Mädchen, wie hängt sie mit den zwei unbekannten Männern zusammen und wie kommt es in dem Roman zur Überlappung der Zeit?

Insbesondere die zeitliche Verbindung zwischen den verschiedenen Erzählsträngen ist intendiert und wird bereits im Vorwort des Erzählers in den Fokus gerückt: „Dieser Text ist ein Experiment, der Versuch einer Umkehrung: Kann die Zeit auch von links nach rechts, von Westen nach Osten kriechen? Kann sie von außen nach innen fließen?“ Darin ist die erzählerisch anspruchsvolle Herausforderung zu sehen, den Plot so zu gestalten, dass die Handlungen der Figuren durch Ereignisse hervorgebracht werden, die bereits vor Jahren passiert sind. Oder doch gerade eben? 

Dieser Roman ist jedoch nicht nur aufgrund seiner Struktur und der spannenden Handlung interessant, sondern auch dank der behandelten Themen.

So wird darin beispielsweise die Frage nach der ortsgebundenen Identität diskutiert. Erzähltechnisch wird dies realisiert, indem der Sicht der Stadtbewohner auf sich selbst der Blick von außen gegenübergestellt wird. Denn während sich die Stadtbewohner als von der Welt abgeschnitten (die Tageszeitungen erreichten die kleine Stadt meist mit einer zweiwöchigen Verspätung) und nicht besonders modern ausgestattet betrachten, wirkt die literarische Stadt Birobidschan – von der Perspektive der nächstgelegenen Stadt aus betrachtet – fortgeschritten. Allerdings auch weniger nach der jüdischen Tradition ausgerichtet. So liefert der Roman eine spannende, bisher literarisch kaum bearbeitete Beobachtung bezüglich der Identität der Orte: Denn beeinflusst die Identität der Stadt ihre Einwohner oder machen erst ihre Einwohner die Identität der Stadt aus?

Behandelt werden in dem Roman zudem die jüdische Identität und die verschiedenen Strömungen innerhalb der Glaubensrichtung, wobei das Jüdische hier weniger zum Thema wird, als dass es die Realität des Romans diktiert. Auch die historische Ebene findet in dem Roman ihre Darstellung, z. B. als Birobidschan plötzlich zu einem Zufluchtsort für Juden aus ganz Europa wird.

Darüber hinaus finden hier einige bereits seit mehreren Jahren in der Literatur diskutierte Themen ihr Echo, wie z. B. die Migration, die Rolle der Kunst und der Literatur in der Gesellschaft oder die Verantwortung der Menschheit der Natur gegenüber.

Gattungstechnisch ist der Roman dem magischen Realismus zuzuordnen, dessen Elemente sich durch den ganzen Text durchziehen und den rätselhaften Plot bestimmen. Diese werden beispielsweise durch das bereits erwähnte stumme Mädchen eingeführt, aber auch durch das Tunguska-Ereignis und die dort lebenden Völker, die Ewanken. Sie zeichnen sich durch eine besondere Beziehung zur Natur aus. Sie sind Schamanen-Stämme, für die manche Tiere als Sterbebegleiter gelten, darunter auch ein Bär. Indem das Mädchen immer wieder mit einem Bären in Verbindung gebracht wird, symbolisiert sie im Text eine Sterbebegleiterin. So ergeben sich auch auf der Textebene rückwirkend spannende Sinnzusammenhänge, die dazu führen, das bereits Geschehene neu zu deuten und so die wahrnehmbare Realität zu verändern.

Die jüdische literarische Tradition zeigt sich insbesondere durch die metaphorische Sprache des Romans, mit dessen Hilfe komplexe Ideen, kulturelle Konzepte und Emotionen vermittelt werden. Im Text gibt es nicht nur eine ausgeprägte Symbolik, wie das Bären-Mädchen als Symbol für den nahen Tod, sondern auch Handlungen und alltägliche Gegenstände werden zu Metaphern, wie z. B. die Darstellung der Tatsache, dass Birobidschan von der Welt fast völlig abgeschnitten ist, da die Tageszeitung die Stadt erst zwei Wochen nach der Erscheinung erreicht.

Würde man nun den Text auf seine möglichen Deutungspotentiale durchleuchten, ergäben sich einige interessante Schlussfolgerungen. So könnte Birobidschan beispielsweise als eine sozialgerechte jüdische Welt gegründet worden sein. Ein Experiment, das langfristig nicht geglückt zu sein scheint. Nun ließe sich als These des Romans schlussfolgern, dass ein „Paradies auf Erden“ nur subjektiv betrachtet werden kann, da sich auch im Paradies Menschen finden, die sich dort wie im Gefängnis eingesperrt fühlen.

Zudem hat der Roman eine moralische Aussage, indem er betont, dass alle unsere Taten, sowohl unmittelbar in der Gegenwart, aber auch diejenigen aus der Vergangenheit, unsere gegenwärtige Welt bestimmen. Dies bedeutet, dass die Realität auf einer reziproken Beziehung zwischen Ursache und Folge basiert: So wie die Vergangenheit in die Zukunft wirkt, bestimmt die Zukunft die Vergangenheit, indem man von der gegenwärtigen Situation ausgehend die Vergangenheit neu deuten und somit verändern kann.

Der Autor bzw. der Erzähler verspricht in seinem Vorwort sehr viel. Überraschenderweise hält er es aber auch ein. Bei Birobidschan handelt es sich nämlich um ein gelungenes Debüt, das mehrfach heraussticht. Der auf Rätsel basierende, handlungsorientierte Plot ist gekonnt komponiert und überzeugt nicht nur durch eine dynamische Erzählweise, sondern insbesondere durch eine unerwartete Tiefe und Komplexität sowohl der Handlung als auch der auf der Textebene geführten gesellschaftlichen Diskurse. Es ist ein intellektueller Genuss für alle, die sich von den im Roman waltenden Elementen des magischen Realismus nicht abschrecken lassen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Tomer Dotan-Dreyfus: Birobidschan. Roman.
Verlag Voland & Quist, Berlin 2023.
318 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783863913472

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