Das Volk erlösen, Polens nationale Einheit stiften

Eine Anthologie mit Werken von Adam Mickiewicz bis Cyprian Norwid

Von Heidi NatelbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heidi Natelberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Polnische Literatur findet ihre Blütezeit in der Romantik, die als Beginn der modernen polnischen Kultur gilt. Ihre Denkmuster haben das literarische Leben Polens bis in die jüngste Vergangenheit beeinflusst. Nach dem Verlust der Unabhängigkeit hat sie der Nation konkrete Überlebensstrategien geboten. Die geschichtsbewusste Polnische Romantik versteht sich als Sprachrohr der nationalen "Auferstehung", gerichtet an diejenigen, die sich nach einem unabhängigen, unsterblichen geeinten Polen sehnen. Sie will der Nation eine ideelle Heimat bieten und versucht sich bewusst von der "schwarzen Romantik" der Deutschen abzugrenzen.

Der Herausgeber des Readers, Hans-Peter Hoelscher-Obermaier, ist Assistent am Lehrstuhl für Slawische Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Mit seiner Anthologie, die die Bereiche Lyrik, Versepik, Prosa und Drama sowie Programme, Pamphlete, Parodien abdeckt, will er dem deutschen Leser einen ersten Zugang zur polnischen Romantik erschließen. Die Werke der wichtigsten Vertreter Adam Mickiewicz und Henryk Rzewuski sind nicht oder weniger repräsentativ vertreten, da ihnen im Rahmen der Polnischen Bibliothek eigene Bände gewidmet sind. Im Mittelpunkt stehen eher der Visionär Juliusz Slowacki, der konservative Aristokrat Zygmunt Krasinski und Cyprian Norwid, dessen Werk erst im 20. Jahrhundert 'entdeckt' wurde. Weiterhin sind Auszüge aus Werken von etwa einem Duzend weniger bedeutender Autoren enthalten.

Das Vorwort stammt von Maria Janion, einer Professorin für polnische Literatur an der Universität Danzig.

In siebzehn Abschnitten führt sie in die Literaturgeschichte Polens von 1822 - 1864 ein, angefangen beim Verlust der Unabhängigkeit Polens, als neue Herausforderung der Dichter der Romantik, bis hin zum Streben nach kollektiver Unsterblichkeit und dem messianististischen Traum der Auferstehung Polens.

Hoelscher-Obermaier versucht in seinem Band, das für die Autoren Besondere darzustellen:

So benutzt Adam Mickiewicz' in seinem programmatischen Gedicht "Romantik" das Motiv des unglücklichen Mädchens, dem in einer Vision der tote Geliebte erscheint. Ein "weiser" Alter tritt zu ihr, um ihren Glauben an die übersinnliche Erscheinung zu kritisieren und an ihre Vernunft zu appellieren. Das "lyrische Ich", als Sprachrohr Mickiewicz, verteidigt die Vision des Mädchens. Mickiewicz ist der Ansicht, dass "Gefühl", "Herz" und "Stimme" die Triebkräfte der menschlichen Kultur und Geschichte sein sollten und nicht der kühle Rationalismus der alten Welt.

Eindrucksvoll auch die Epische Dichtung "Anhelli" des Visionärs Juliusz Slowacki als Beispiel eines ernüchterten messianistischen Traums, mit dem die Dichter das nationale Elend zu überwinden suchten. In der Legende geht es um das Leiden und Sterben "Anhellis", der sich zur Erlösung seines Volkes auserkoren fühlt. Er bietet Gott verzweifelt sein Leben für die Millionen Polen, die aus dem Scheitern des Aufstands von 1830 nichts gelernt haben und sich in Egoismus und Feindschaft gegenseitig umbringen. Ein Engel gibt ihm jedoch zu verstehen, dass er nur für das "kleine Opfer" auserwählt ist. Anhelli beugt sich und stirbt einsam in der Wüste. Ein typisch romantischer Held, der von der großen Tat träumt und ohne politische Aktivität und Beifall der Menge den Auftrag ausführen muss, sein Volk zu erlösen. Man könnte "Anhelli" auch als Symbol für das Schicksal des Dichter lesen, der mit seiner "aufrüttelnden Literatur" auf gegenwärtigen Ruhm verzichten musste.

In Anlehnung an die historische Situation steht "Die Un-Göttliche Komödie" Krasinskis, dessen Vater napoleonischer General und dessen Taufpate Napoleon selbst gewesen ist. Sie thematisiert den Klassenkampf von Sozialrevolutionären gegen die "gottgläubigen" Aristokraten unter der Führung des Protagonisten Graf Henryk. Krasinski gelingt es, dem Leser durch Darstellung von Diskussionen zwischen den Anführern Einsicht in die Denkweisen beider Parteien zu geben, die die Nation erlösen wollen. Thematisiert werden die Rolle des Menschen und das Wirken Gottes in der Geschichte. Der Schluss, bei dem die Anführer als göttliche Strafe für die von beiden Seiten begangenen Verbrechen sterben, spiegelt die Meinung Krasinskis wieder, dass keine Klasse allein fähig sei, die Missstände in der Gesellschaft zu beheben.

Einen ganz anderen Charakter hat der Auszug aus dem vielschichtigen Gedichtzyklus "Vade-Mecum" des Ironikers Cyprian Norwid. Er prangert das Christentum an, das seine soziale Verpflichtung nicht wahrnimmt und mit Gleichgültigkeit und Untätigkeit am Untergang der Gesellschaft zusieht. In anderen Stücken kritisiert Norwid, der selbst aus verarmtem Adel stammt, die leere Konvention (wie in "Der Welten Sinn"), insbesondere die Scheinwelt des eleganten Salons. Seine Werke, denen man seinerzeit ablehnend gegenüberstand, fanden erst bei ihrer Veröffentlichung im 20. Jahrhundert Anerkennung. Heute hat Norwid einen besonderen Platz in der polnischen Literaturgeschichte, und sein Werk übt eine beträchtliche Wirkung auf die moderne, wesensverwandte polnische Dichtung aus.

Die Romantik ist in Polen nicht wie in den meisten Ländern mit dem 19. Jahrhundert zu Ende gegangen, sondern hat sich bis in die jüngste Vergangenheit fortgesetzt. Eine Schlussbemerkung von Maria Janion: "Heute stehen wir vor dem schmerzhaften Paradox, daß die Unabhängigkeit, zu deren Wiedergewinnung die Romantik spürbar beigetragen hat, ihr zugleich die Wirkungsbasis entzieht. [...] Wir müssen über ein neues polnisches Kulturparadigma nachdenken, dessen Umrisse sich bereits abzuzeichnen scheinen. Im Zentrum wird die Freiheit des Einzelnen stehen."

Hoelscher-Obermaiers kurzweiliges, gut gegliedertes Lesebuch bietet einen gelungenen Überblick über die vier romantisch geprägten Jahrzehnte Polens. Dem Liebhaber dient sie zur Erweiterung der ambitionierten und ansprechenden "Polnischen Bibliothek", die vom Suhrkamp Verlag - pünktlich zur Buchmesse - mit 40 Bänden komplettiert wurde.

Titelbild

Hans-Peter Hoelscher-Obermaier: Polnische Romantik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
394 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 3518409778

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