Stolpersteine auf dem Weg zum ‚wahren‘ Selbst
Eine Retroperspektive zum Leben und Werk der Psychoanalytikerin und Bestsellerautorin Alice Miller (1923-2023)
Von Bernd Nitzschke
Who’s Afraid of Alice Miller? lautet der Titel eines Dokumentarfilms aus dem Jahr 2021, den Daniel Howald gedreht hat. Der Film begleitet Martin Miller, den Sohn von Alice Miller, auf einer Reise zu sich selbst. Sie beginnt in der Schweiz, führt in die USA und von dort über Berlin weiter nach Polen, wo er nach den verschwundenen Spuren seiner Eltern sucht, die während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg dort im Untergrund lebten. Ich komme darauf zurück.[1]
Der Titel des Films erlaubt vielfältige Assoziationen. Er erinnert zunächst einmal an das Bühnenstück Who‘s Afraid of Virginia Woolf? von Edward Albee, das 1962 am Broadway uraufgeführt wurde. Weil Martha, die seit zwanzig Jahren mit George verheiratet ist, ohne Rücksprache mit ihm ein jüngeres Ehepaar – Honey und Nick – eingeladen hat, kommt es zum Streit, in dessen Verlauf alle Illusionen zerstört werden, die es bisher möglich machten, im Gefängnis aus Konventionen nicht zu ersticken. Mike Nichols hat das Drama mit Elizabeth Taylor (als Martha) und Richard Burton (als George) in den Hauptrollen 1966 verfilmt. Der Film gewann fünf Oscars.
Man kann ja mal versuchen, ohne Illusionen zu leben. Man wird dann feststellen, dass die Hölle auf Erden ohne den Himmel überlebensnotwendiger Phantasien nur schwer zu ertragen ist. Bekanntlich gehört es zu Freuds Grundüberzeugungen, dass wir ohne Illusionen gar nicht leben können. Er hat zwar eine Schrift mit dem Titel Die Zukunft einer Illusion (1927) verfasst, in der er der Hoffnung Ausdruck gab, die Menschen könnten ihr Zusammenleben eines Tages doch noch vernunftgeleitet und damit menschenwürdig gestalten, anstatt sich mit Phantasien über Begrenzungen – etwa mit der vom Weiterleben nach dem Tod – hinwegzulügen, doch das war, wie der Titel der Schrift bezeugt, eine Illusion: eben Freuds Illusion.
Virginia Woolf, die mit ihrem Ehemann Leonard Hogarth Press gegründet hat, einen Verlag, in dem Sigmund Freuds Gesammelte Werke in englischer Übersetzung erschienen sind, ist das Wagnis, Illusionen über sich aufzugeben, dennoch eingegangen. In ihrem Essay The Leaning Tower (1940) wies sie so auf die damit verbundene menschlich-allzumenschliche Angst vor der Selbstentblößung hin: „Bedenken Sie, wie schwierig es ist, die Wahrheit über sich selbst zu sagen – die unangenehme Wahrheit zuzugeben, dass man kleinlich, eitel, gemein, frustriert, gequält, untreu und erfolglos ist […].“[2] Doch wenn man Literatur von bleibendem Wert verfassen wolle, müsse man sich selbst gegenüber ehrlich sein. Wie sonst könnte man über andere Menschen die Wahrheit sagen? Ein Jahr, nachdem sie diese Feststellung getroffen hatte, brachte sich Virginia Woolf um.
Ja, Virginia Woolf hatte Angst – Angst vor Virginia Woolf. Das heißt, sie hatte Angst vor dem Teil ihres Selbst, der sich in depressiven Zusammenbrüchen und psychotischen Zuständen immer wieder neu Ausdruck verschaffte. Spielen wir assoziativ mit ihrem Namen, fällt uns das Kinderlied Who‘s Afraid of the Big Bad Wolf? ein. Im Disney-Zeichentrickfilm Drei kleine Schweinchen, der erstmals 1933 ins Kino kam, wird dieses Lied gesungen. Es handelt von einem großen bösen Wolf, der alle Schutzwälle durchbricht. Psychoanalytisch formuliert heißt das: Wenn rücksichtsloser Deutungsfanatismus alle Schranken durchbricht und die Abwehr außer Kraft setzt, die das emotionale Überleben bisher absicherte, aber keine Mittel zur Verfügung gestellt werden, die nunmehr freigesetzte Wahrheit zu ertragen, kann das nur zerstörerisch sein. Denn die Macht des Geistes, der bisher in der Flasche gefangen war, ist unbegrenzt. Das heißt, die Angst vor der Freiheit ohne die Macht, den nunmehr unbegrenzten Wünschen Einhalt gebieten zu können, ist die Angst vor uns selbst.
Die Mutter der drei kleinen Schweinchen gibt ihren Kindern die Warnung vor dem großen bösen Wolf mit auf den Weg ins Erwachsenleben. Dieser große böse Wolf ist zwar ‚nur‘ eine Kinderschreckfigur, doch die Angst vor ihm zu überwinden, ist dann kein Kinderspiel, wenn der emotionale Dialog des Kindes mit der Mutter (oder einer anderen emotional ebenso wichtigen Bindungsfigur) dauerhaft ins Leere läuft. Wird das Kind auf diese Weise emotional alleingelassen, dann wird es sich als Erwachsener später inmitten von Menschen ebenso einsam fühlen. Das ist die Form der Einsamkeit, die durch kein geselliges Beisammensein, ja noch nicht einmal durch engere Beziehungen zu beseitigen ist. Sie geht mit Angst und Wut einher und begründet den Ausnahmezustand, den das Kind erlebt, das sich in einer emotionalen Notlage befindet. Es sendet Signale der Angst (Weinen, Zittern) und Wut (Brüllen, Umsichschlagen) aus, in der Hoffnung, einen Menschen zu erreichen, der diese Signale versteht und beantwortet. Das ist die affektive Resonanz, das ist die Hilfe, die das Kind jetzt benötigt, damit es sich beruhigen und sein psychosomatisches Gleichgewicht zurückgewinnen kann. Macht das Kind wiederholt solche Erfahrungen, bedeutet das ins kindliche Erleben übersetzt: Ich bin stark genug und so viel wert, dass ich andere Menschen veranlassen kann, sich um mich zu kümmern. Die Verinnerlichung solcher Erfahrungen der Selbstwirksamkeit begründet die Kohärenz des Selbst und die Stärke des Selbst-Wertgefühls. Darauf beruht das Selbst-Vertrauen, das dem Erwachsenen später hilft, die in Stress- und Konfliktsituationen mobilisierten Affekte zu beruhigen und wieder handlungsfähig zu sein.
Emotionale Abhängigkeit von anderen Menschen ist also der Ausgangszustand des Menschen (primär), während Autonomie wie eine Sprache, das heißt: schrittweise, zu erwerben ist (sekundär). Also sprach Zarathustra: „Das Du ist älter als das Ich“ (Nietzsche). Das Kind kommt zwar mit der Fähigkeit, sprechen zu lernen, auf die Welt, doch welche Sprache es sprechen wird, hängt nicht von ihm, sondern von den Menschen ab, die als erste zu ihm sprechen. In der Regel ist das die Mutter. Die Sprache der Mutter eröffnet dem Kind die Welt mental, aber auch emotional. Das unterscheidet die Mutter-Sprache von jeder Fremd-Sprache.
Und damit sind wir wieder bei Alice Miller, die das allgemeine Menschenrecht auf ein ‚wahres‘ – sprich: unbeschädigtes – Selbst proklamiert hat und sich als Anwältin all der Kinder verstand, die von ihren Eltern (oder anderen wichtigen Bindungspersonen) sexuell missbraucht, durch Schläge misshandelt oder sonst wie emotional ausgebeutet wurden. In drei Büchern, die Bestseller waren, hat sie dargelegt, wie das schwache ‚Ich‘ eines Kindes durch das mächtige ‚Du‘ eines Erwachsenen überwältigt werden kann. Die Wut, die aus solchen Verletzungen des Selbst-Wertgefühls resultiert, müsse das Kind unterdrücken, weil es Angst habe, die Bindung sonst ganz zu verlieren. Depressionen und andere Formen des pathologischen Narzissmus seien die Folgen. Als Erwachsene richteten diese Opfer der Aggression ihre Aggressionen dann entweder gegen sich selbst oder gegen Schwächere (zum Beispiel: Angehörige ethnischer oder sozialer Minderheiten), an denen sie das einst passiv erduldete Leid als Täter aktiv wiederholen könnten. Das therapeutische Ziel bestehe darin, diesen verhängnisvollen Wiederholungszwang zu durchbrechen, was aber nur möglich sei, wenn die Wut zunächst als berechtigt anerkannt werde. Danach könne sie der Trauer weichen.
Bereits der Titel des ersten Buches – Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst (1979) – benennt die Aufgabe, um die es geht. Das ‚wahre‘ Selbst, das verlorenging, soll wieder gefunden werden. An dessen Stelle sei ein ‚falsches‘ Selbst getreten, womit Alice Miller das Ergebnis all der Anpassungsleistungen meint, die das Kind erbringen musste, als es sich den Erwartungen der ausbeuterischen Bindungsperson(en) unterwarf, weil es ohne deren Zuwendung emotional nicht überleben konnte.
Für diese Theorie des falschen Selbst, die Alice Miller unter Berufung auf den Kinderanalytiker Donald Winnicott vertrat, gibt es zwei Kronzeugen: Otto Gross und Wilhelm Reich. Gross hat das Drama des begabten Kindes als den Konflikt zwischen dem Eigenen und dem Fremden (1916) beschrieben und das wahre Selbst als Eigen-Willen des Kindes bestimmt, dem er die Elterngewalt (1908) entgegengestellte, die – verinnerlicht – zum falschem Selbst wird, von dem sich der Mensch durch Ausleben seiner vermeintlich ‚wahren‘ Trieb-Wünsche befreien müsse. Bei Wilhelm Reich repräsentiert der ‚Charakterpanzer‘ das falsche Selbst, das als Resultat der Anpassungsleistungen entstanden ist, die erbracht werden mussten, um unter der Bedingung autoritärer Erziehung emotional überleben zu können.
Diese Gegenüberstellung des Eigenen (Wahren) und des Fremden (Falschen) ist fragwürdig. Was sollte das Eigene ohne das Fremde sein? Ohne das Fremde (den Anderen, die Erziehung, die Kultur) wäre das Eigene (das Selbst, die Trieb-Natur) nur ein Rudiment. Das Kind kommt zwar mit Basisaffekten auf die Welt, zu denen auch der Ekel zählt, doch in welchem Kontext der Erwachsene Ekel erleben wird, das hängt von der Gesellschaft ab, in der seine Affekte sozialisiert wurden. Das heißt: Ob er sich ekeln oder nicht ekeln wird, wenn er Schweinefleisch essen soll, ist nicht genetisch festgelegt, sondern kulturell vermittelt.
Auch der Titel des zweiten Bestsellers von Alice Miller – Am Anfang war Erziehung (1980) – ist Programm. Jede Form der Erziehung – sei sie nun ‚schwarz‘ (autoritär unterdrückend) oder ‚weiß‘ (pädagogisch geschickt mit Lob und Tadel operierend) – verfolge dasselbe Ziel: Aus dem Kind soll ein ‚gut‘ erzogener Erwachsener werden. Diese Zielsetzung widerspreche dem wahren Selbst des Kindes, meint Alice Miller:
[M]eine antipädagogische Haltung wendet sich nicht gegen eine bestimmte Art von Erziehung, sondern gegen Erziehung überhaupt. […] Sämtliche Ratschläge zur Erziehung der Kinder verraten mehr oder weniger deutlich zahlreiche, sehr verschieden geartete Bedürfnisse des Erwachsenen, deren Befriedigung dem lebendigen Wachstum des Kindes nicht nur nicht förderlich ist, sondern es geradezu verhindert. […] Das heißt aber nicht, daß das Kind ganz wild aufwachsen kann. Was es für seine Entfaltung braucht, ist der Respekt seiner Bezugspersonen, die Toleranz für seine Gefühle, die Sensibilität für seine Bedürfnisse und Kränkungen, die Echtheit seiner Eltern, deren eigene Freiheit – und nicht erzieherische Überlegungen – dem Kind natürliche Grenzen setzt. (Herv. im Orig.)
Und wo sollten diese ‚natürlichen‘ Grenzen zu finden sein? Es gibt sie nur im Hinblick auf die genetische Ausstattung des Menschen, und selbst die wird durch die Umwelt beeinflusst, in der der Mensch aufwächst (Epigenetik). Ansonsten gibt es kulturell begründete Grenzen, mögen sie im Hinblick auf Klassenunterschiede oder anhand anderer Kriterien (etwa das Geschlecht oder die ethnische Zugehörigkeit betreffend) auch noch so ungerecht sein. Die entsprechenden Regeln (und der Protest gegen sie) werden im „Prozeß der Kulturentwicklung – Zivilisation sagen andere“ – (Freud 1933), also durch Erziehung vermittelt. Die Regeln der Welt, in der die Eltern mit ihren Kindern leben, verlangen nun aber auch die Regulation der Affekte, das heißt, sie lassen Wunscherfüllung nur unter bestimmten Bedingungen zu. Das ist mit dem ‚Realitätsprinzip‘ gemeint, das dem ‚Lustprinzip‘ oder, wenn man es anders sagen will, dem Eigen-Willen des Kindes widerspricht, der auf sofortiger und uneingeschränkter Wunscherfüllung besteht. Und deshalb bleibt das Kind ein geborener Feind der Kultur, auch wenn es ein gut erzogener Erwachsener wird. Die Forderung „Wo Es war, soll Ich werden“ ist eben nur zum Teil erfüllbar. Schärfer formuliert: „Das Ich spielt dabei die lächerliche Rolle des dummen August im Zirkus, der den Zuschauern durch seine Gesten die Überzeugung beibringen will, daß sich alle Veränderungen in der Manège nur infolge seines Kommandos vollziehen“ (Freud 1914), während sich die Trieb-Wünsche in verkleideter Form durchsetzen.
Freud fasste psychische Erkrankung als Folge unzureichender Vergesellschaftung der Trieb-Natur auf und verstand sie deshalb nicht nur als Störung der innerseelischen, sondern auch der sozialen Ordnung.
Genetisch ergibt sich die asoziale Natur der Neurose aus deren ursprünglichster Tendenz, sich aus einer unbefriedigenden Realität in eine lustvollere Phantasiewelt zu flüchten. In dieser vom Neurotiker gemiedenen realen Welt herrscht die Gesellschaft der Menschen und die von ihnen gemeinsam geschaffenen Institutionen; die Abkehrung von der Realität ist gleichzeitig ein Austritt aus der menschlichen Gemeinschaft. (Freud 1912-13)
Psychoanalytische Behandlung verstand Freud daher als „Nacherziehung des Erwachsenen“ beziehungsweise als „Korrektur der Erziehung des Kindes“ (1926).
Das entspricht dem von ihm bereits in der vor-analytischen Zeit so formulierten Therapieziel:
Ich habe wiederholt […] den Einwand hören müssen: Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen? Darauf habe ich antworten können: – Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben: aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können. (Studien über Hysterie 1895)
Aus heutiger Sicht ließe sich dieses Therapieziel so umformulieren: Unerträgliche Emotionen, die in pathogenen Beziehungen entstanden sind und zu psychischer Erkrankung (‚hysterisches Elend‘) geführt haben, sollen wiedererlebt und in der therapeutischen Beziehung nachträglich so verstanden werden, dass neue – erträgliche, trostreiche, besänftigende – Emotionen möglich werden. Diese Erinnerungsarbeit beseitigt zwar nicht das Geschehene, denn das ist unmöglich, doch sie schafft hier und jetzt Voraussetzungen, neues ‚gemeines Unglück‘ (Enttäuschungen, Verluste usw.) anders zu bewältigen, als es dort und damals möglich war.
Aufgrund des Erfolgs ihrer Bestseller konnte Alice Miller ihre psychoanalytische Praxis aufgeben und hinfort von Honoraren leben, die sie für ihre Bücher und Vorträge erhielt. Auf ihrer Homepage heißt es dazu, sie sei Autorin von „13 Büchern, die in 30 Sprachen zugänglich sind“ (http://www.alice-miller.com/de/ – Aufruf: 22.11.2023). Sie wollte jetzt aber nicht mehr als ‚Psychoanalytikerin‘ bezeichnet werden, vielmehr verstand sie sich nun als „Kindheitsforscherin“, ohne je zuvor als Kindertherapeutin gearbeitet zu haben. Ende der 1980er Jahre trat sie schließlich aus der Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse aus. Diese Abkehr von Freud hat sie in ihrem dritten Buch ausführlich begründet, das wiederum ein Bestseller wurde: Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema (1981).
Mit dem Paradies-Thema meinte sie den biblischen Mythos, der von einer Schlange handelt, die Eva – und durch sie Adam – verführte, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Danach wussten die Menschen, was Gut und Böse sein sollte. Das war gleichbedeutend mit der Vertreibung aus dem Paradies (der kindlichen Unschuld). Denn das Wissen von Gut und Böse ist Voraussetzung des Ge-Wissens und damit Ausgangspunkt der Schuld- und Schamgefühle.
Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse darf man ablehnen. Das Böse ist oft gar nicht das dem Ich Schädliche oder Gefährliche, im Gegenteil auch etwas, was ihm erwünscht ist, ihm Vergnügen bereitet. Darin zeigt sich also fremder Einfluß; dieser bestimmt, was Gut und Böse heißen soll. Da eigene Empfindung den Menschen nicht auf denselben Weg geführt hätte, muß er ein Motiv haben, sich diesem fremden Einfluß zu unterwerfen. Es ist in seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit von anderen leicht zu entdecken, kann am besten als Angst vor dem Liebesverlust bezeichnet werden. Verliert er die Liebe des anderen, von dem er abhängig ist, so büßt er auch den Schutz vor mancherlei Gefahren ein, setzt sich vor allem der Gefahr aus, daß dieser Übermächtige ihm in der Form der Bestrafung seine Überlegenheit erweist. Das Böse ist also anfänglich dasjenige, wofür man mit Liebesverlust bedroht wird; aus Angst vor diesem Verlust muß man es vermeiden. (Freud 1930)
Mit einem Wort: Die Vertreibung aus dem Paradies der kindlichen Unschuld beginnt mit der Erziehung – genauer: mit den Wertvorstellungen der jeweiligen ‚Kultur‘. Das Kind wird belohnt, wenn es gehorcht, ‚gut‘ ist, und bestraft, wenn es ungezogen, ‚böse‘ ist. Das ist Kultur (Erziehung). „Die Kultur ist doch überhaupt auf Triebverzicht aufgebaut, und jedes einzelne Individuum soll auf seinem Wege von der Kindheit zur Reife an seiner Person diese Entwicklung der Menschheit […] wiederholen“ (Freud 1924). Jenseits der Kultur liegt die Natur, in der es keine Unterscheidung von Gut und Böse, Kraut und Unkraut, Nützlichem und Schädlichem gibt. Das ist das Paradies, in dem es den Tod, aber kein Wissen vom Tod gibt. In die Sprache des biblischen Mythos übersetzt heißt das: Nach der Vertreibung aus dem Paradies wussten die Menschen, dass sie sterblich sind – und seither wollen sie Sterblichkeit mit allen (religiösen) Mitteln ungeschehen machen.
Die harsche Kritik, die Alice Miller an Freud übte, bezieht sich auf die psychoanalytische Triebtheorie. Wenn man die Erinnerungen der Patienten an sexuellen Missbrauch in der Kindheit mit Rückgriff auf die Triebtheorie als bloße Phantasien deute, würde man den missbrauchten Opfern von damals heute neues Unrecht zufügen und die einstigen Missbrauchstäter nachträglich freisprechen. Als Beispiel für Freuds fehlende „Einfühlung in die Situation des sexuell früh mißbrauchten Kindes“ führt Alice Miller Freuds Schilderung der Behandlung des Wolfsmanns an (Freud 1918). Er habe diesem Patienten kein Verständnis entgegenbringen können, weil er selbst ein sexuell missbrauchtes Kind gewesen sei, doch „die damit zusammenhängenden Gefühle“ habe er mit Hilfe der Theorie der infantilen Sexualität verdrängt. Damit habe er den missbrauchenden Elternteil – in Freuds Fall sei das der Vater gewesen – freigesprochen und ihn so weiterhin idealisieren können. Die leibhaftigen Kontaktwünsche, mit denen jedes Kind auf die Welt kommt, seien durch diese Theorie inadäquat sexualisiert worden. Das habe dazu geführt, dass „eine ganze Armee von abwehrenden Analytikern“ entstanden sei, „die den Patienten helfen, sich ihr Trauma auszureden“, anstatt es anzuerkennen und dafür zu sorgen, dass „sich die Geschädigten für das Geschehene“ nicht mehr „selber verantwortlich fühlen“ müssten. Diese Trias aus „Elternschonung – Triebdeutung – Zudecken des Traumas“, die Alice Miller in ihrer Ausbildung gelernt und später selbst gelehrt habe, sei Ausdruck ‚schwarzer‘ Pädagogik.
Das Machtgefälle zwischen Kind und Eltern hat Alice Miller entsprechend dargestellt:
Man kann in den ersten zwei Jahren unendlich viel mit dem Kind machen, es biegen, über es verfügen, ihm gute Gewohnheiten beibringen, es züchtigen und strafen, ohne daß dem Erzieher etwas passiert, ohne daß das Kind sich rächt. Das Kind wird nur dann das ihm zugefügte Unrecht ohne schwerwiegende Folgen überwinden, wenn es sich wehren, d.h. wenn es seinen Schmerz und Zorn artikulieren darf. Ist es ihm aber verwehrt, in seiner Weise zu reagieren, weil die Eltern seine Reaktionen (den Schrei, die Trauer, die Wut) nicht ertragen können und sie ihm mit Hilfe von Blicken oder anderen Erziehungsmaßnahmen verbieten, dann wird das Kind lernen, stumm zu sein. Seine Stummheit garantiert zwar die Wirksamkeit der Erziehungsprinzipien, birgt aber zugleich die Gefahrenherde der späteren Entwicklung. Mußten adäquate Reaktionen auf erlittene Kränkungen, Demütigungen und Vergewaltigungen im weitesten Sinn ausbleiben, dann können diese Erlebnisse nicht in die Persönlichkeit integriert werden, die Gefühle bleiben unterdrückt, und das Bedürfnis, sie zu artikulieren, bleibt ungestillt, ohne Hoffnung auf Erfüllung. Es ist diese Hoffnungslosigkeit, die unbewußten Traumata je mit den dazugehörigen Gefühlen artikulieren zu können, die die meisten Menschen in schwere seelische Not bringt. Nicht im realen Geschehen, sondern in der Notwendigkeit der Verdrängung liegt bekanntlich der Ursprung der Neurose. (alle Herv. im Orig.).
Das heißt, die Bedeutung, die das objektiv geschehene Ereignis im subjektiven Erleben des Betroffenen erhält, hängt von den Bedingungen ab, unter denen das Geschehene emotional und kognitiv verarbeitet werden kann. Wurde es anerkannt oder geleugnet? Gab es Menschen, die Trost und Hilfe anboten, oder wurde das Kind mit seinen verwirrenden Gefühlen alleingelassen? Wurde es gar beschuldigt, es habe sich das alles nur ausgedacht? Die Art und Weise der emotionalen und kognitiven Verarbeitung des Geschehenen bestimmte dort und damals das Erleben – und bestimmt noch immer das Erinnern und Verhalten hier und jetzt.
Gekränktes Ehrgefühl bedingt narzisstische Wut. Was geschieht mit dieser Wut? Ein gedemütigter Verlierer will Gerechtigkeit. Wenn er keine Gerechtigkeit erhält, sinnt er auf Rache. Er will nicht länger das ohnmächtige Opfer sein, er will triumphierender Held werden. Die bekannteste literarische Bearbeitung dieses Versuchs der Selbstermächtigung findet sich in Kleists Novelle Michael Kohlhaas. Sie beginnt mit diesen Worten:
An den Ufern der Havel lebte […] ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas […]. Dieser außerordentliche Mann würde bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe […] einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.
Und das kam so: Er begegnete einem Junker, der ihm hinterlistig zwei Pferde abnahm, und als er sie von ihm zurückholen wollte, waren sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Kohlhaas reicht Klage vor Gericht ein, die aber dank des Einflusses des Burgherrn abgewiesen wurde. Daraufhin nimmt Kohlhaas das Gesetz (des Handelns) in die eigene Hand. Und so verwandelte sich die „wohlerzogene Seele“ eines ehrbaren Roßhändlers in die rasend-wütende Seele eines „Räubers und Mörders“ ohne Gnade.
Alice Miller führt in ihren Büchern mehrere derartige Beispiele an, um zu zeigen, wie und warum aus einem sanften Kind unter Umständen ein monströser Verbrecher werden kann. So nennt sie etwa den Kindermörder Jürgen Bartsch, aus dessen Aufzeichnungen sie diese Äußerung zitiert: „Wenn meine Mutter […] rausgefegt kam und ich im Weg war, dann klatsch! klatsch! klatsch! Kriegte ich ein paar ins Gesicht. […] Ein paar Minuten später war ich plötzlich der liebe Junge, den man auf den Arm nehmen und küssen muß.“
Das steht so in dem Buch Am Anfang war Erziehung, in dem Alice Miller einleitend ihren Sohn Martin Miller mit diesen Worten erwähnt: „Dem reichen und klaren Eindruck seiner Erlebnisse verdanke ich einen Teil meiner eigenen Befreiung […]. Viele der hier ausgeführten Gedanken habe ich mit meinem Sohn durchdiskutiert, bevor ich sie niederschrieb.“
Und in einem anderen Buch kommt Alice Miller auf eine Mutter zu sprechen, die ihr Kind zwar nicht selbst quält, aber dem Missbrauch ihres Kindes tatenlos zusieht: „Doch solange die Wahrheit über die Mutter, die den Mißbrauch geschehen ließ, die das Kind nicht beschützte und seine Not ignorierte, ausgeblendet bleibt, darf die volle Realität der Kindheit nicht wahrgenommen werden, nicht für wahr genommen werden.“ Nachdem der Sohn von Alice Miller seine Erinnerungen an die Mutter veröffentlicht hatte, trat die in dieser Passage verdeckt enthaltene Wahrheit offen zutage. Martin Millers Erinnerungen erschienen unter dem Titel Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers drei Jahre nach dem Tod der Mutter, die 2010 wegen fortgeschrittener Krebserkrankung ihrem Leben im Alter von 87 Jahren selbst ein Ende setzte.
Die Verschränkung der Lebensgeschichten von Mutter und Sohn verdeutlicht, was unter transgenerationaler Weitergabe traumatischer Erlebnisse zu verstehen ist. Die Nachfahren traumatisierter Menschen können Traumafolgestörungen erleben, obgleich sie selbst die Traumata der vorhergehenden Generation(en) nicht erlebt haben. Sie erleben die Auswirkungen der schweigend übermittelten unbewältigten Vergangenheit ihrer Vorfahren. Mit dieser Gefühlserbschaft müssen sie leben – ohne sie verstanden zu haben, weil nie darüber gesprochen wurde. Im Fall von Martin Miller thematisiert der Film Who’s Afraid of Alice Miller? diese Problematik. (https://whosafraidofalicemiller.com/en – Aufruf: 15.12.2023)
Im Fall von Alice Miller, die 1923 als Alicja Englard in Piotrków Trybunalski, Polen, geboren wurde und während der deutschen Besatzung von 1939-1945 täglich um ihr Leben fürchten musste, verschränken sich individuell erlebte Traumata mit dem kollektiven Trauma des Holocaust. Während Familienmitglieder umkamen, konnte sie ihr Leben retten. Sie erhielt von der polnischen Untergrundorganisation in Warschau für sich, ihre Mutter und ihre Schwester Pässe mit falschen Namen, die sie als ‚Arierinnen‘ auswiesen. So konnte Alicja Englard den nationalsozialistischen Terror als Alice Rostowska überleben. War das ihr ‚falsches‘ Selbst? Oder war das ihr ‚wahres‘ Selbst, das ihren Eigen-Willen zum Ausdruck brachte, ihren Überlebenswillen? Über ihre Erlebnisse in Polen hat die Mutter nie mit ihrem Sohn gesprochen. Er wusste lange Zeit nicht, dass seine Mutter und damit er jüdisch waren.
Martin Miller wurde 1950 geboren. Als er sechs Jahre alt ist, kommt seine Schwester Julika auf die Welt, ein Kind mit Down-Syndrom.
Die entsetzte Mutter beschuldigt den Vater, genetische Risiken in der Familie verschwiegen zu haben. Der Sohn, der lästige ‚Bettnässer‘, kommt jetzt in ein Heim. Dort, auf der Halbinsel Au am Zürichsee, kaum 30 Kilometer von zu Hause entfernt, besuchen die Eltern ihn kein einziges Mal. Selbst dem ersten Schultag bleibt die Mutter fern. Wieder zurück im Elternhaus, erlebt der Achtjährige sich als fremd, als ‚Ausländer‘, denn die Eltern sprechen polnisch untereinander, das er nicht versteht. Vom Vater wird der Junge geschlagen und zu Waschritualen gezwungen, die er als sexualisierte Übergriffe empfindet. Bei Tisch verspottet der Vater den Sohn. In jeder Kinderfrau, zu der der Junge Vertrauen fasst, wittert die eifersüchtige Mutter eine Rivalin und entlässt sie. Mit 17 setzt der Heranwachsende durch, dass er aufs Internat kommt. Reglementiert und katholisch ging es da zu, doch für ihn ist es Erholung vom elterlichen Irrenhaus. (Caroline Fetscher – https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-maske-der-kinderrechtlerin-3518032.html – Aufruf: 15.12.2023)
Wenn der Sohn vom Vater misshandelt wurde, wandte sich die Mutter ab. Noch bevor er weiß, woher er kommt und wer er ist, wiederholt er später ein Stück des Weges, den die Mutter vorausging. Wie sie, so wendet auch er sich zunächst der Psychoanalyse zu – um sich, wie die Mutter, enttäuscht von ihr wieder abzuwenden. In einem Interview, das er mit dem Spiegel führte, wurde er gefragt: „Sie haben sich auf die Couch gelegt und geschlafen?“ Antwort: „Zwei Jahre lang.“ Frage: „Und das wurde nicht als Abwehr gedeutet?“ Antwort: „Das wurde gar nicht gedeutet. Seitdem war ich der Psychoanalyse gegenüber sehr skeptisch“ (https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/70327191 – Aufruf: 15.12.2023).
Haben wir es hier mit einer grotesken Form der klassisch-abstinenten Psychoanalyse zu tun? Die nachvollziehbare Skepsis des Analysanden leitet zur Frage über, wie sich die von ihm und dem Analytiker gemeinsam gestaltete Folie à deux verstehen ließe? Warum kam es zu keiner Deutung? Der Sohn unterwirft und verweigert sich als Erwachsener so, wie er sich als Kind dem Vater unterworfen und zugleich verweigert hat – und der Analytiker verhält sich in der Gegenwart schweigend ebenso sadistisch wie der brüllende Vater in der Vergangenheit. Es kommt zu keiner Auflösung des Wiederholungszwangs. Zerrissen zwischen dem ‚wahren‘ und dem ‚falschen‘ Selbst liegt der Sohn auf der Couch – und erhält wie schon in der Kindheit wieder keine Antwort. Was er sucht, findet er nicht: die Einheit der Person, die es nur gibt, wenn das ‚wahre‘ und das ‚falsche‘ Selbst zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Bleiben sie getrennt, kann es zur Blockade und damit zu einer Lähmung, sprich zu einem depressiven Stupor, kommen oder zur wechselseitigen Aktivierung der dissoziierten Persönlichkeitsanteile, wie dies Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (Stevenson 1886) literarisch illustriert. Der Arzt Dr. Henry Jekyll ist ein ehrbarer und gottesfürchtiger Mann, der sich tagsüber vorbildlich verhält. In der Nacht verkörpert Mr. Edward Hyde die andere Seite seiner Persönlichkeit: von allen kulturellen Einschränkungen befreit lebt er seine ‚bösen‘ Triebe aus.
Das Buch, das Martin Miller 2013 unter dem Titel Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers publizierte, sollte ihm dabei helfen, eine selbst-bewusste Geschichte seines Lebens zu entwerfen, ein emotional fundiertes und kognitiv geordnetes Narrativ. Das Buch beginnt mit dem Faksimileabdruck eines Briefes der Mutter, den sie 1987 an ihren Sohn schrieb. Er enthält Anklagen gegen den Vater – und gegen den Sohn:
Lieber Martin, ich habe 30 Jahre gebraucht, um herauszufinden, dass ich solange mit einem Mann [Andreas Miller, Professor für Soziologie an der Hochschule St. Gallen – B.N.] lebte und 2 Kinder hatte, der mir in diesen vielen Jahren nicht ein einziges Mal zugehört hat und der mich niemals als das, was ich bin, je wahrgenommen hat. Im letzten Moment konnte ich mich vor der endgültigen Selbstzerstörung retten [die Ehe wurde 1973 geschieden – B.N]. […] Dich konnte ich nicht retten; ich habe es versucht […]. Du hast mein Angebot mit großen Gesten ausgeschlagen […]. Stattdessen beginnst Du immer mehr das Verhalten Deines Vaters zu imitieren, offenbar ohne es zu merken, denn Du bestreitest das heftigst, wenn ich Dich damit konfrontiere.
Am Ende des Buches findet sich der Faksimileabdruck eines weiteren Briefes. Alice Miller schrieb ihn am 9. April 2010, also nur vier Tage vor ihrem Tod:
Mein lieber Martin, ich wünsche dir zu deinem Geburtstag […] ein gutes Gefühl über das, was dir in 60 Jahren gelungen ist. Mein Tod sollte dich nicht von dieser Freude abhalten, weil du ja weißt, dass er für mich eine absolute Erlösung sein wird. […] Es ist schade, dass wir erst jetzt freier miteinander reden konnten, aber ich bin sehr froh und dankbar für das, was du mir in den letzten Gesprächen sagen konntest […]. Ich […] umarme dich von ganzem Herzen. Deine Mutter.
Man muss das Buch des Sohnes gar nicht gelesen haben, es genügt, die beiden Briefe der Mutter an ihn zu lesen, um das Ausmaß der Tragödie zu ermessen, die Mutter und Sohn verband. Kam es am Ende doch noch zu einer Versöhnung mit der Mutter? Im Film Who’s Afraid of Alice Miller? sehen wir den Sohn mit schmerzendem Bein durchs Leben humpeln. Auf seiner Homepage stellt er sich unter der Überschrift „Psychotherapie und Coaching“ als ein Mensch vor, der auf dem Weg zu sich selbst über viele Steine gestolpert ist. Er betont, wie einsam er sich fühlt(e) und wie sehr er sich bemüht(e), alleine zu gehen, selbständig zu sein.
Ich war Jahre lang mit meinen Problemen mir selber überlassen. Mit 22 Jahren wagte ich es, bei einem bekannten Analytiker in Zürich eine Therapie anzufangen. Ich erhoffte mir endlich die Hilfe, meine Probleme mit meinen Eltern zu lösen. Leider stellte sich heraus, dass sich der Therapeut gar nicht für mich interessierte und ich die ganze Zeit während der Behandlung schlief. So suchte ich weiter und machte über Jahre 14 weitere vergebliche Versuche bei Therapeuten verschiedenster Richtung. Ich musste enttäuscht feststellen, dass niemand auf meine Anliegen einging und ich wieder alleine dastand. Nach meiner Arbeit als Volksschullehrer, begann ich nach einer Ausbildung am Psychoanalytischen Seminar 1979 in eigener Praxis als Psychotherapeut zu arbeiten. Bald merkte ich, dass diese Methode sich in der Praxis nicht bewährte und wurde endgültig gezwungen, meinen Weg alleine zu gehen. […]. Ich wollte einen Betrag leisten, dass ich anderen Menschen den schlimmen Weg der Einsamkeit ersparen möchte. […] In meiner fast 40-jährigen Praxisarbeit habe ich eine Methode der Traumatherapie entwickelt, deren Ausganspunkt stets die individuelle Geschichte ist. Die detaillierte biografische Aufarbeitung ermöglicht den Verlauf, die individuellen Hintergründe und den sozio-historischen Rahmen des Traumas zu erkunden und dann in Zusammenarbeit mit dem Klienten in einer emotionalen Geborgenheit das Trauma zu verarbeiten und in die Lebensgeschichte zu integrieren. (Herv. im Text – B.N. https://www.martinmiller.ch/ – Aufruf: 15.12.2023)
Eben diesem Zweck sollte auch das Buch dienen, in dem Martin Miller seiner Großcousine Irenka Taurek dankt, die den Holocaust überlebte, weil sie mit ihren Eltern aus Polen nach Usbekistan flüchten konnte.
Während des Krieges hatte Alicja Englard alias Alice Rostowska in Warschau Andrzej Miller kennengelernt, mit dem sie 1947 in die Schweiz emigrierte. 1949 heiratete die beiden. Von nun an hieß sie Alice Miller und setzte, wie ihr Mann, die bereits in Polen begonnene akademische Karriere fort. Andreas (wie er sich jetzt nannte) Miller promovierte 1951 mit dem Thema Struktur und soziale Funktion der Universität Basel. Sie promovierte mit dem Thema Das Problem der individualisierten Begriffsbildung bei Heinrich Rickert. Um diese Arbeit ungestört abschießen zu können, übergab sie ihren 1950 geborenen Sohn Martin an seine Großcousine Irenka Taurek, die nach dem Krieg auch in die Schweiz emigriert war. All das, was Alice Miller in ihren Büchern als unbedingt nötig für die gesunde Entwicklung eines Kindes beschrieb, bedingungslose Liebe und Zuwendung, erhielt ihr eigener Sohn von ihr nicht. Kurzzeitig wurde Irenka Taurek zu seiner Ersatz-Mutter. Sie kümmerte sich um den Säugling, bevor sie in die USA auswanderte, wo sie sich als Psychotherapeutin niederließ.
Der Film Who’s Afraid of Alice Miller? beginnt mit einem kurzen Tonbandausschnitt eines Interviews, das Cornelia Kazis mit Alice Miller zum Thema Kindesmissbrauch geführt hat (https://whosafraidofalicemiller.com/en – Aufruf: 15.12.2023). Der Sohn hört schweigend zu und schüttelt den Kopf. Dann sieht man Martin Miller mit schmerzendem Knie an einer Straßenkreuzung in der Wüste von New Mexiko stehen, neben ihm seine Großcousine Irenka Taurek, die hier in der Gegend lebt. Mit diesem trostlosen Wüstenbild beginnt ein Roadmovie, das den humpelnden Protagonisten auf den verwehten Spuren seiner Vorfahren zeigt. Irenka Taurek, die einst seine Ersatzmutter war und diese Funktion nun wieder übernimmt, begleitet ihn. „Lügt sie oder lügt sie nicht?“ fragt er an einer Stelle. Er meint damit seine Mutter. Und an einer anderen Stelle, an der er im Stadtarchiv von Piotrków Trybunalski nach Aufzeichnungen sucht, fragt er sich: „Wo steckt mein Vater?“ Hatte Freud nicht recht, als er in einem Brief an Arnold Zweig, in dem er sich für die Glückwünsche zu seinem 80. Geburtstag bedankte, schrieb, „die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen“. Warum nicht? Die Antwort findet sich in der eingangs zitierten Forderung Virginia Woolfs: Man kann die Wahrheit anderer Menschen – in diesem Fall die Wahrheit seiner Eltern – nicht erkennen, wenn man sich selbst gegenüber nicht schonungslos offen ist. Und wer wäre das? Um noch einmal aus dem Brief Freuds an Zweig zu zitieren: Hatte „unser Prinz Hamlet“ nicht recht, als er fragte, „ob jemand dem Auspeitschen entgehen könnte, wenn er nach [moralischem – B.N.] Verdienst behandelt würde“? Die Individualität eines Menschen ist ein Patchwork, das Ensemble der familiären und kulturellen Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist – und deren Wertvorstellungen er verinnerlicht hat. Man wird sie nicht los, indem man sie bekämpft. Man muss andere Wege finden, um sich mit sich zu versöhnen. Das wird bei der Betrachtung dieses Films Szene um Szene, Schritt für Schritt, Archiv für Archiv, Gespräch für Gespräch deutlich. Nachdem er die Orte besucht hat, an denen seine Eltern lebten und litten, bevor er geboren wurde, sagt der Sohn: „Jetzt kann ich die Gefühle meiner Eltern verstehen.“ So hat er sein Leiden verstanden.
[1] Der vorliegende Text ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich am 15.12.2023 in der Black Box, Filmmuseum Düsseldorf anlässlich der Vorführung des Films Who’s Afraid of Alice Miller? gehalten habe.
[2]„Consider how difficult it is to tell the truth about oneself—the unpleasant truth; to admit that one is petty, vain, mean, frustrated, tortured, unfaithful, and unsuccessful. The nineteenth-century writers never told that kind of truth, and that is why so much of the nineteenth-century writing is worthless […]. If you do not tell the truth about yourself you cannot tell it about other people“ (Virginia Woolf: The Leaning Tower, 1940. https://www.gutenberg.net.au/ebooks15/1500221h.html#ch18 – Aufruf: 29.10.2023).