Masha Gessen und das große Vergessen des Totalitären

Die jüdisch-russische US-Autorin hätte gar nicht erst für den Hannah-Arendt-Preis in Betracht gezogen werden sollen

Von Rainer BielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Bieling

Zwei Wochen im Dezember 2023: Die US-amerikanische Aktivistin und Autorin Masha Gessen steht im Kreuzfeuer der Kritik, allerdings nicht bei sich zu Hause in den Vereinigten Staaten, sondern in Deutschland. Hier nämlich, in Bremen, sollte sie mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet werden, obwohl sie wenige Tage vor der Preisverleihung in einem Text im heimischen Magazin The New Yorker zu erkennen gegeben hatte, wie sehr sie von eben jenem sozialistischen Geist beseelt ist, den Hannah Arendt, lebte sie noch, totalitär genannt hätte.

Der real existierende Sozialismus, das lässt sich bei Masha Gessen ablesen, ist auch ohne Sowjetunion quicklebendige Ideologie, die das Denken und Handeln sozialistischer Eliten und ihrer intellektuellen Entourage weltweit prägt und leitet. Wie ein fünfblättriges Kleeblatt hat der Sowjetsozialismus bis heute für jede Region das passende Blatt:

– Antifaschismus ist Realsozialismus für Europa;
– Antikolonialismus war realer Sozialismus für Afrika, und weil es dort keine europäischen Kolonien mehr gibt, heißt er jetzt Postkolonialismus.
– Antizionismus ist Realsozialismus für oder besser gegen Israel;
– Antirassismus ist das Blatt für antiamerikanische Innenpolitik,
– Antiimperialismus das Blatt gegen amerikanische Außenpolitik.

Masha Gessen, geboren 1967 in Moskau, hat die Sowjetideologie von Kindesbeinen an aufgesogen und ist bis ins Teenageralter als Schulkind mit ihr indoktriniert worden. Erst als sie 14 Jahre alt und schon Oberschülerin war, emigrierten ihre Eltern 1981 mit ihr in die USA nach New York City. Die Auswanderung aus dem sowjetischen Vielvölkergefängnis war nur möglich, weil es eine jüdisch-russische Familie war.

Als Masha Gessen in New York auf die Oberschule ging, war die Neue Linke, die es in den 1960er-Jahren auch in den USA gegeben hatte, längst Geschichte und damit auch ein Sozialismus Vergangenheit, der sich explizit als Alternative zur Alten Linken, zum realen Sozialismus sowjetischer Prägung definiert hatte. Längst hatte der wieder die Oberhand gewonnen. In den USA war er als Antirassismus der Black-Power-Bewegung auch unter weißen Akademikern hegemonial geworden, die eine Angela Davis verehrten, die ebenso in der DDR lebendige Ikone war.

Der Teenager Masha Gessen wird sich mehr mit der (musikalischen, modischen) New Wave der 1980er-Jahre identifiziert haben, die in New York eine Hochburg hatte, als sich von ihrem aus der Alten Welt mitgebrachten Denken der Alten Linken zu emanzipieren, schon allein deshalb, weil dieses Denken in Amerika mittlerweile hip geworden war: black is beautiful. New Wave und Old Left, das verkörpert Masha Gessen heute noch – ihr Auftritt bei der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. Dezember 2023 in Berlin machte es augenfällig, die Fotos am Ende des Beitrags zeigen es: kurze Haare, riesen Brille, cooles Outfit – schwarzer Anzug und rote Socken. „Rote Socken“, so hatten unangepasste DDR-Bürger ihre SED-Ideologen genannt. Und genau so klingt Masha Gessen heute, nur dass sie dabei hip aussieht und nicht wie ein roter Bonze alten Schlags.

Als West-Berliner habe ich meinerseits die Ablehnung der Sowjetideologie von Kindesbeinen an aufgesogen und als Teenager John-F. Kennedys Berlin-Besuch als Beruhigung erlebt: Solange die Amerikaner hier sind, sind es die Russen nicht. Da war ich ganz auf der Linie von Willy Brandt, unserem damaligen Regierenden Bürgermeister: antitotalitär antikommunistisch. (Damit kein Missverständnis entsteht: Es gibt auch totalitären Antikommunismus, der nationalsozialistische war so einer, die mit dem Sowjetsozialismus rivalisierende Ideologie.)

Die rote Ideologie alten Schlags rieche ich seither zehn Meilen gegen den Wind, selbst wenn sie neu etikettiert als Postkolonialismus daherkommt. In meiner Jugend Ende der 1960er und in den frühen 1970er-Jahren selbst in der Neuen Linken aktiv, habe ich etliche Unterwanderungsversuche von SEW-Kadern in der bezirklichen Basisgruppe und an der Hochschule geholfen abzuwehren – ausgerechnet an der Freien Universität Berlin bin ich, sind wir gescheitert: Mein Institut für Publizistik, dessen Mittelbau und die Studentenvertretung, wurde von den ADSen gekapert, einer jener „Aktionsgemeinschaften von Demokraten und Sozialisten“, die im Sinne der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) und im Geist der Komintern den Antifaschismus praktizierten. Im Klartext: Der Gründungsgedanke der Freien Universität, das Totalitäre im Nationalsozialismus wie im Realsozialismus zu erkennen und sich dem einen wie dem anderen zu widersetzen, wurde als bürgerlich und reaktionär denunziert und Hannah Arendt als eine von gestern abgetan – vergesst sie.

Das große Vergessen des Totalitären war nicht allein ein Sieg der Alten Linken – auch jener Teil der Neuen Linken trug dazu bei, der sich 1969/70 dem Marxismus-Leninismus zuwandte, allerdings einem rivalisierenden, dem chinesischen. Der Maoismus, bis auf die Knochen totalitär, als Alternative zum Revisionismus, wie der real existierende Sozialismus russischer Prägung nun geschmäht wurde, positionierte sich zwar gegen die Alte Linke, übernahm aber deren Denkmuster bis hin zur Bolschewisierung einer neu zu gründenden Kommunistischen Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse. Das alles geschah in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre und löste sich in deren zweiter Hälfte teils in Wohlgefallen auf, teils mündete es in der Alternativbewegung und der Gründung der Grünen Partei im Jahr 1980.

Erst jetzt kamen Reste der undogmatischen Neuen Linken und geläuterte Maoisten, einst dogmatischer Zweig der Neuen Linken, wieder in einem Boot zusammen. Wie winzig der undogmatische, antitotalitäre Zweig immer war und nach über 40 Jahren bis heute ist, konnte ich am 18. Dezember 2023 in der Heinrich-Böll-Stiftung erleben. Die beiden Vorstände der Böll-Stiftung, Imme Scholz und Jan Philipp Albrecht, kassierten Buhrufe, weil sie der Preisverleihung, die im kleinen Kreis zwei Tage zuvor am 16. Dezember 2023 in Bremen doch noch stattgefunden hatte, ferngeblieben waren. Masha Gessen erhielt für ihre Auslassungen riesen Beifall. Und das mit den Auslassungen ist wörtlich zu nehmen: Nicht nur fand sie keine Worte für das Massaker vom 7. Oktober 2023, dem Hamas-Geschenk zu Putins 71. Geburtstag, sie fand überhaupt keine Worte zur Kollusion von russischem Postsozialismus und arabischem Islamismus oder auch nur zur Beschreibung der Terrorherrschaft des Hamas-Staates auf dem Territorium des Gazastreifens.

Die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft der Hamas über die arabische Bevölkerung in Gaza seit 2006 und die Elemente und Ursprünge partieller Herrschaft der Hamas über die israelische Bevölkerung in den Kibbuzen und auf dem Musikfestivalgelände nebenan an dem einen Tag des 7. Oktober 2023 zu benennen, zu beschreiben und zu beurteilen wäre wahrlich einen Hannah-Arendt-Preis wert. Stattdessen zitiert Masha Gessen jüdisch-polnische Stimmen, die im Mai 1943 die Zerstörung des Warschauer Gettos durch die Wehrmacht nach dem Gettoaufstand beschrieben, um ihre im New Yorker vom 9. Dezember 2023 in dem Aufsatz In the Shadow of the Holocaust aufgestellte Behauptung von der Liquidierung des Gettos Gaza zu stützen, oder eine jüdisch-israelische Stimme, die von Uri Avnery, der vor zehn Jahren schon die Belagerung von Leningrad durch die Wehrmacht zum Vergleich mit der Situation in Gaza heranzog.

Der Schlüssel für diese Sichtweise ist seit September 2023 (und noch bis 14. Januar 2024) im Jüdischen Museum Berlin zu finden. Dort zeigt die Sonderausstellung Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR ein Foto von Erich Honecker als Staats- und Parteichef in Begleitung von Horst Brasch, Mitglied im Zentralkomitee der SED, und dessen Tochter, der jungen Marion Brasch als Teenager. Die Aufnahme entstand 1974 in dem Augenblick, in dem der muslimisch-arabische Staatsgast Jassir Arafat dem jüdisch-deutschen Mädchen die Wangen tätschelte. Da war Marion Brasch 13 Jahre alt und die antizionistische Haltung der SED genau doppelt so alt. Sozialistische Einheitspartei Deutschlands meinte nicht nur die erzwungene Gleichschaltung der ostdeutschen Sozialdemokraten, sondern auch die Selbstgleichschaltung der aus dem Exil in die SBZ/DDR zurückgekehrten jüdisch-kommunistischen Emigranten, die sich (mehrheitlich) gegen Israel positionierten und für den Befreiungskampf des palästinensischen Volkes engagierten.

Es ist diese Ideologie, mit der Eltern und Lehrer des damals noch in Staatsgestalt real existierenden Sozialismus die Teenager in der DDR und in der UdSSR gleichermaßen indoktrinierten und instrumentalisierten, Marion Brasch in Ost-Berlin und die sechs Jahre jüngere Masha Gessen in Moskau. Marion Brasch hat in einer Begleitveranstaltung im Vorfeld der Sonderausstellung im Jüdischen Museum am 12. Juli 2023 zum Thema Ostdeutsche Juden: Emanzipation von der Geschichte erkennen lassen, wie schwer ihr die Emanzipation von diesem ihr von Kind an eingetrichterten totalitären Denken und Handeln gefallen ist. Masha Gessen ließ bei der Begleitveranstaltung zum Hannah-Arendt-Preis in der Böll-Stiftung am 18. Dezember 2023 eine vergleichbare Emanzipation nicht erkennen.

Möglicherweise fehlt ihr nicht nur das persönlicher Erlebnis des Kollabierens des sozialistischen Staates. Als sie Moskau 1981 verließ, war ihr Heimatland Sowjetunion noch zehn Jahre vom eigenen Kollaps entfernt. Und ihre neue Heimatstadt New York bot ihr einen Erlebnisraum, in dem New Wave im Alltag und Old Left im Kopf nur selten kollidierten. Wer vierzig Jahre später Bilder aus New York sieht, wo Demonstranten im Dezember 2023 die Central Station mit Plakaten wie Queers for a Liberated Palestine blockieren, begreift sofort, wie tief sich der Realsozialismus ohne Sowjetunion inzwischen in die Köpfe US-amerikanischer Aktivisten eingegraben hat.

Masha Gessen ist eine dieser Aktivisten, nicht an dem Tag, da saß sie ja vor mir in Berlin, aber sie gehört zu diesem Milieu, das gleich drei der fünf Kleeblätter des Sowjetsozialismus in der Hand hält und wahlweise ausspielt: Antizionismus, Postkolonialismus, Antirassismus. Nie wird sie sich mit diesem Milieu überwerfen, dem sie alles verdankt, zuletzt den Hannah-Arendt-Preis. New Wave, das zeigt sie mit ihrem Outfit, und Old Left, das offenbart sie mit Worten, koexistieren auf preiswürdige Weise. Masha Gessen verkörpert das große Vergessen des Totalitären auf perfekte Weise – und das nun auch noch im Namen von Hannah Arendt. Das lässt sich schwer toppen.

Foto 1 Leinwand

Über der Bühne auf der Leinwand der Anlass der Veranstaltung vom 18. Dezember 2023: „Gespräch mit Masha Gessen“.

Foto 2 Bühne

Unter der Leinwand nehmen die Gesprächsteilnehmer auf der Bühne pünktlich um 18 Uhr Platz. Masha Gessen, mit der die Böll-Stiftung das Gespräch sucht, ist die zweite von links.

Foto 3 Podium

„Gespräch mit Masha Gessen“ in der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. Dezember 2023. Auf dem Podium von links nach rechts: Jan Philipp Albrecht (Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung), Masha Gessen (Hannah-Arendt-Preisträgerin), Dr. Tamara Or (Geschäftsführende Vorständin der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum), Dr. Imme Scholz (Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung).

Fotos © Dr. Rainer Bieling