Brummt da jemand?
Harald Hartung zieht „Provisorische Schlüsse“
Von Helmut Sturm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor gut einem Jahr, im Oktober 2022, titelte Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Er ist der älteste aktive Kritiker der F.A.Z.: Zum neunzigsten Geburtstag des Dichters und Literaturwissenschaftlers Harald Hartung.“ In diesem Jahr ist nun ein weiteres Buch Hartungs erschienen. Er versammelt auf etwa 100 Seiten zumeist noch nicht erschienene Texte – nur sechs davon sind bereits aus der F.A.Z., der „Frankfurter Anthologie“ und dem „Marbacher Katalog“ bekannt. Es handelt sich dabei um kurze Prosaarbeiten, deren Ausgangspunkt sehr häufig eine Erinnerung an, eine Begegnung mit oder ein Werk von einer Persönlichkeit des literarisch-philosophischen Lebens in Deutschland ist. Daneben finden sich aber auch kondensierte Urlaubserinnerungen, die Betrachtung und Auseinandersetzung mit Bildern, Erfahrungen in der Natur und ganz persönliche Kindheitserinnerungen. Am Schluss des Bandes kommt der Lyriker auch praktisch zu Wort. Die Überschrift der 12 Gedichte, „Haikus des Alten“, zeugt von Realismus, Humor und Prägnanz. Allein diese paar Seiten sind Grund genug, das Büchlein in die Hand zu nehmen.
Apropos Realismus: Es gibt ja nicht so viele Menschen, die in ihren 90ern noch Bücher publizieren. Harald Hartung entdeckt dazu in Goethes Maximen und Reflexionen Interessantes: „Der Alte verliert eines der größten Menschenrechte, er wird nicht mehr von seines Gleichen beurteilt.“ Daraus wird der Schluss gezogen: „Schön ist es natürlich, wenn der Jüngere dem Alter Höflichkeit erweist. Nicht immer ist sie von Herablassung zu unterscheiden.“ Sicher ist, dass jede Herablassung, bestimmt in diesem Fall, fehl am Platz ist.
Nicht sonderlich überraschend werden auch der Tod und eschatologische Gedankenkonstrukte immer wieder thematisiert. Harald Hartung plädierte dabei für einen konsequenten Agnostizismus und meint: „Vermutlich kann man sich die Religion nicht aussuchen. Eher ist sie es selbst, die uns wählt oder verschmäht. Das möchte auch für den Atheismus gelten.“
Bei einem Vergleich von Tizians Himmlischer und irdischer Liebe mit der Kopie im Kopiensaal der Schack-Galerie fällt Hartung auf, dass das Original nach seiner Restaurierung ein helleres Kolorit als Lenbachs Kopie hat: „Als wären die Zeiten vertauscht, als wäre das 19. Jahrhundert älter als die Renaissance. Vielleicht ist eben dies der Fall.“
Hinsichtlich Urteil und Welthaltigkeit erscheinen die Provisorischen Schlüsse oftmals aktueller als manches Schaffen viel jüngerer Kolleg:innen. Wie gut das Vermeiden apriorischer Zumutung und fälschlicher Sicherheit doch tut, zumal jeder Schluss doch Trugschluss sein kann. Unter den vorgebrachten „Schlüssen“ befindet sich übrigens auch ein recht harscher über die Gegenwartslyrik, der durchaus kontrovers diskutiert werden kann: „Dass die Kunst schwer, ja unmöglich wurde, diese Einsicht ist der Gegenwart verloren gegangen. […] Die Lyrikszene fabelt von einer neuen Blüte der Poesie. Gedichte als Blüten sehen, das ergibt einen hübschen Doppelsinn. Wir haben die Inflation von Papierblüten.“
Die Notiz „Das letzte Bild“ gibt den Hinweis darauf, dass sich Harald Hartung wie viele Autor:innen auch als Maler betätigt. Nüchtern wird festgehalten, dass sich ob der gestapelten Leinwände die Frage stellt: „Wohin damit, wenn man abtritt?“ Doch Hartung verharrt nicht im Negativen: „Vergiss dein Glück nicht, Dilettant!“
Kritisches, Anekdotisches, einfühlsame, wohl bedachte Interpretation kennzeichnet die Texte, in deren Mittelpunkt eine Autorin, ein Autor steht. Die Empathie Harald Hartungs gilt allerdings nicht bloß Menschen, sondern der ganzen Natur. Sie lässt ihn von einer „Bruderschaft mit den Tieren“ schreiben.
Der, der angeblich nicht „altersschwach“ brummt, ist der neue Kühlschrank, der „Liebling der Hausfrau.“, „ich weiß / er überlebt mich“. Das ist das erstaunliche Ende eines der Haikus. Es ist zu hoffen, und der Hausfrau (und uns allen) zu wünschen, dass der Kühlschrank lange überlebt wird.
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