Nichts ist so, wie es scheint

Anina Mirjam Schärer stellt „Im ausgeschriebenen Haus“ sprachliche Gewissheiten in Frage

Von Petra BrixelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Brixel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wort-Kombination „Im ausgeschriebenen Haus“ irritiert – gemessen am „gesunden Menschenverstand“ – auf den ersten Blick. Aber was ist schon die menschliche Vernunft in einer dystopischen Welt? Dass dieses Büchlein von nur 72 Seiten keine schnelle Nummer ist, soll gleich zu Beginn gesagt sein. Irritation ist das rechte (von richtig abgeleitete) Wort, das beim ersten Durchblättern in den Kopf kommt. Dann: dadaistisch.

Ein Verlag mit Anspruch

Das Konzept des Verlags edition taberna kritika (etkbooks) beschäftigt sich nach Aussage auf seiner Homepage mit „experimenteller, konzeptueller und visueller literatur.“ (Anmerkung: Kleinschreibung ist ein Merkmal des Verlags.) Die Edition sei „angelegt als differentielle exempelsammlung in progress. in den medien buch, objekt und digitales objekt erschliesst sie das feld eines erweiterten literatur- und lesebegriffs und untersucht die vielfältigen produktions- und rezeptionsmöglichkeiten literarischer ausdrucksformen. der durch markt und betrieb verengten ästhetik hält sie ein breites spektrum an arbeiten entgegen, die einschlägige kategorisierungen um autorschaft, werk und gattung problematisieren.“ Das 2007 in Bern als independent-Literaturverlag gegründete Unternehmen setzt dem Literaturbetrieb ein alternatives Konzept entgegen. Stichworte des Verlagsprogramms sind neben Prosa auch korpuspoetische Verfahren, literarische Weblogs und Hybrid Publishing. Das macht neugierig.

Das Buch von Anina Mirjam Schärer erscheint in der Reihe „etkbooks hauptreihe print“, der weitere sechzehn Bücher angehören. Sie alle deuten die Welt der Sprache als mehrdimensional, abseits von schwarz-weiß, rechts-links und entweder-oder. Die sprachliche Welt wird atomisiert, die entstandenen Teilchen lassen sich immer wieder neu zusammensetzen. So entstehen zunächst verstörend-beunruhigende, doch letztlich geordnete Formen, die eine Herausforderung an den Denkapparat bedeuten. Wer kauft Bücher der edition taberna kritika? Nicht viele, aber genug, um im Gespräch zu bleiben. „Absatzzahlen spielen keine Rolle“, sagt Verlagsleiter Hartmut Abendschein in einem Interview. Er ist ein glücklicher Verleger, dem das Konzept, weniger das Geld wichtig ist. Für Abendschein gibt es andere finanzielle Quellen, auch bürgerliche.

So hat das Konzept etwas Anarchistisches und berührt die Kreise des Dadaismus. „Es gibt keine Hierarchie unter den Werken“, sagt Abendschein und meint damit, dass zehn Jahre alte Werke nicht zum alten Eisen gehören, nur vermeintlich nicht aktuell seien, sondern gleichberechtigt mit neuen Büchern nebeneinanderstehen.

Dass die edition taberna kritika vom Schweizer Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 sowie von der Stadt Bern unterstützt wird, mag ein Zeichen sein, dass kontrollierte Irritation – in der Schweiz – wertgeschätzt wird.

Paratext mit Zeichen und einem Interview

Auch wenn der Verlag – in Bern in der Gutenbergstraße ansässig, nomen est omen – sich auf der Webseite ein für gutbürgerliche Augen mühsam zu lesendes Image gibt – durchgehend Kleinschreibung, auch nach Punkten –, darf beruhigt festgestellt werden, dass in dem Büchlein von Anina Mirjam Schärer die Groß- und Kleinschreibung nach dem deutschen bzw. Schweizer Regelwerk verläuft, also alles – in dieser Hinsicht – leicht lesbar ist (dass Schweizer kein „ß“ benutzen, stört nicht). Das Cover ist minimalistisch gestaltet: oben Autorin und Titel in gleich großer Schrift, unten links klein der Name des Verlags, dazwischen extra-groß eine Büroklammer. Und das alles auf hellem Braun, einer der 192 gedeckten Pastellfarben des Gerhard Richter`schen 1966 in Öl auf Leinwand gemalten Bildes. Schon außen ist die Botschaft zu erkennen: Alles hat System.

Für den rückseitigen Buchdeckel hat Anina Mirjam Schärer acht Schlagworte bzw. Begriffe als Trigger gewählt und alphabetisch angeordnet: #071; #graphisches symbol; #haus (motiv); #konkrete poesie; #lesbarkeit; #semiotik; #text-bild und #zeichen (motiv). Diese acht Begriffe sollen im Folgenden als Leitsystem der Interpretation dienen.

#071

Zufälle gibt es im Verlag edition taberna kritika nicht, und so ist auch #071 keine beliebige Zahl, sondern verbindet sich mit der Herkunft des Verlagsgründers. Die Suchmaschine google generiert zu „071“ als einziges Angebot eine Liste mit 56 telefonischen Orts-Vorwahlnummern, die mit 071 beginnen. Das passt, denn der Verlagsleiter ist „in der der Nähe von Stuttgart“ geboren. Eine weitere Erklärung der „071“ ist die Anzahl der Verlagspublikationen, und da kommt Schärers Buch auf den 71. Platz.

#graphisches symbol

Mit einem graphischen Symbol beginnt das Buch schon auf dem Cover. Eine überdimensionale Büroklammer hält den Inhalt „buch“stäblich zusammen. Grafik ist im Folgenden ein vorherrschendes Merkmal. Da gibt es Doppelseiten, die randvoll bedruckt sind mit „#“. Da sind Schachbrettmuster und Zahl- Buchstabenanordnungen, die sich „Bleistiftparade“ nennen. Waffelmuster sollen rechte und linke Maschen einer Strickarbeit darstellen. In der Küche des „ausgeschriebenen Hauses“ besteht der Plattenboden aus 81 Kreuzen (+). Vier gleichmäßig angeordnete Uhren zeigen an einem namenlosen „Aufenthaltsort“ die Zeiten 3 Uhr und 9 Uhr an. Das Spielzimmer hat einen „Intarsienholzboden“ mit senkrecht und waagerecht liegenden Achten, eine Acht in Form von Schienen stellt die Spur einer Modelleisenbahn dar, und vier identische Bauklötze sind übereinandergestapelt. Ein Büchergestell aus zwei senkrechten und fünf waagerechten Strichen ziert das Arbeitszimmer. All diese graphischen Symbole wechseln sich mit Texten und Textteilen ab.

#haus (motiv)

Anina Mirjam Schärers Buch kommt als Büchlein, als Broschüre oder gedrucktes Notizheft daher. Es ist eine „Schrift“ im doppelten Wortsinn, die den Anspruch hat, ein Haus zu sein. So definiert es die Autorin in einem Interview am Ende der Lektüre: „Was wäre, wenn das Buch ein Haus wäre? Und in diesem Haus wären verschiedene Zimmer, die sich nicht direkt zeigen, die lediglich als Aufenthaltsorte von Gegenständen fungieren.“ Sie stellt das Haus als vorwiegend unbekannten Ort dar, von dem nur bekannt ist, dass dort Räume sind und darin „Gegenstände“. Die Gegenstände sind bekannt. Klingt das spannend? Noch nicht.

Man muss in dieses Buch resp. Haus hineingehen, um es zu erkunden. Tatsächlich gibt es Arbeitszimmer, Küche, Vorratskammer und Spielzimmer. Davon erzählt Schärer in dem ersten Gedicht mit dem Titel „Axiome“, was heißt: Der Leser/die Leserin möge die Wahrheit von Schärers „Haus“-Begriff nicht anzweifeln. Die Prämisse steht am Anfang: „Da ist ein Haus. Es hat kein Aussen. Darin sind vier Räume: Arbeitszimmer, Küche, Vorratskammer, Spielzimmer.“ So ist es.

Was sich in diesen Zimmern abspielt, sind „spielerisch“ zusammengestellte Verse, Buchstaben-, Wort- und Satz(teil)reihen, die manchmal auf den ersten Blick einen Sinn ergeben, manchmal beim dritten Lesen, manchmal dem Sinn-Verständnis der ungeübten Leserschaft entzogen sind. Aber zum Nachdenken regen die Vers-Objekte an.

Plötzlich kommt wie aus dem Orkus die Erinnerung an Bruce Low und Das alte Haus von Rocky Docky: „Dieses Haus ist alt und hässlich, dieses Haus ist kahl und leer […]. Dieses Haus ist halb verfallen, und es knarrt und stöhnt und weint, dieses Haus ist noch viel schlimmer als es scheint.“ Wie wäre es, Schärer würde eine szenische Lesung in diesem alten Haus von Rocky Docky machen und dem Gemäuer Atem einhauchen?

Der Leser/die Leserin werden sich fragen, ob sie in diesem von Schärer konstruierten und mit nur vier Zimmern ausgestatteten Haus leben möchten. Ich könnte zustimmen, denn wozu braucht der Mensch Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinder- und Gästezimmer, wenn er ein Arbeitszimmer hat? Nur eine Toilette wäre noch praktisch.

#konkrete poesie

Tatsächlich gibt es sie, diese wunderbar konkrete Poesie, die immer wieder überrascht und wie aufgehängte Bilder in dem „ausgeschriebenen Haus“ die Ästhetik befriedigt. Beim Streunen durch das vierzimmrige Haus trifft man auf poetische Juwelen. Sie sind mit „888 Gedichte“ und einer Seitenzahl überschrieben, die impliziert, es gäbe einen solchen Gedichtband. Doch das ist Fake, man wird das Buch in keiner Bibliothek finden. Schade.

„888“ ist als Engelszahl bekannt und steht für eine positive Fülle an Energie, Glück und unendlichen Möglichkeiten. Die 888 soll den Fluss von Liebe, das spirituelle Wachstum, Wohlstand und materiellen Erfolg symbolisieren, dazu Harmonie in Beziehungen und Partnerschaften. Schärer gibt ein Beispiel:

Um endlich
Am anderen Ende des Wortes
Zu dessen Beginn
Nicht klar war
Wohin die semantische Reise
Führen würde
Anzukommen

Würde man in diesen Versen den Begriff „Wort“ mit „Buch“ ersetzen, so könnte der Text einen harmonischen Abschluss dieser Schrift geben. Es sollte auf der letzten Seite stehen. Das Gedicht versöhnt mit manch einer Wort-Spielerei, deren geistiger Zugang erschwert ist.

Auch Schärers „Aphorismen“ gehören zur Poesie. Da sind einem fiktiven Buch mit dem Titel „Gestammelte Aphorismen“ – ja, gestammelt, nicht gesammelt – kluge Zeilen zu entnehmen, wie: „Wenn das Fernglas die Beschränkung des Blickfelds auf einen Ausschnitt in der Ferne ist, erlaubt das Kaleidoskop einen mehrstimmigen Blick auf die Dinge.“

Was könnte Schärers Buch besser beschreiben als der Vergleich mit einem Kaleidoskop? Schärers akribisch angeordnete Grafiken und Texte sind ein „mehrstimmiger Blick auf die Dinge“. Diese werden gedreht und gewendet, manchmal auch auf den Kopf gestellt, in andere Zusammenhänge gebracht, zerpflückt, zerrissen, zerfetzt, amputiert, verformt, vergrößert, verkleinert, verhunzt, verschachtelt und – auch das gibt es – sinnvoll wieder zusammengesetzt.

#lesbarkeit

Das Buch ist – technisch gesehen – gut zu „lesen“, aber ist es auch „lesbar“? Lesbarkeit fragt nach Verständlichkeit, Prägnanz und Sinnhaftigkeit (Logik) der Aussagen. Ist unter diesen Aspekten das Buch für jeden Nutzer „lesbar“? Die individuelle Akzeptanz von „Lesbarkeit“ ist unterschiedlich. Manch einer wird das Büchlein ungeduldig zur Seite legen oder in den öffentlichen Bücherschrank stellen, da er keinen Zugang findet. Andere werden ihre Freude und viel Spaß an Texten und Zeichen haben, an Diagrammen und musikalischen Notationen, an Aperçus aus fiktiven Büchern, an Symbolen und Behauptungen, die Anlass zum Hinterfragen von scheinbaren Gewissheiten geben.

„SINN IS N SOHN IN HOSN“ – ist für den einen lesbar, für den andern nicht. Gleiches im Falle von „H I N O S X Z“. Einen Anspruch an Lesbarkeit hat Schärer nicht, doch ist ihr der Begriff so wichtig, dass sie ihm einen Platz auf dem Buchrücken einräumt.

#semiotik

Als Nächstes steht „semiotik“ zur Debatte, die Theorie von den Zeichen. Tatsächlich adelt dieses Buch die Wissenschaft von den Zeichensystemen. Es sind die Bilderschrift und die zerpflückte Sprache, es sind die Formeln, die mathematischen, physikalischen und chemischen Zeichen, die auf jeder neuen Seite in ungewohnten Verbindungen und Zusammenhängen sichtbar werden und Überraschungen bieten. Was sich doch alles mit Buchstaben, Zahlen, Worten und Wörtern machen lässt!

Wo sich die Bedeutung
Einstellt oder
Eingestellt wird
Abgestellt wird
Ändert sich je
Nach Richtung die Annäherung

So heißt es in einem Poem. Wie wahr!

#text-bild

Schärers Anspruch, einen Text bildlich darzustellen, wird auf spielerische Weise gelöst. Beispiele sind auf den Seiten zu finden, wo das mit einem „Kreuzworträtsel“, einem „Lied“, der „Bleistiftparade“, einer „Schachnotation“ oder Auszügen aus dem „Ersten Lesebuch“ gelingt. Ein Bild als Text oder einen Text als Bild lesen, bedeutet, sich unterschiedliche Sichtweisen anzueignen. Diese „Kippmomente“ sind Schärer wichtig, wie sie in einem Interview betont: „Wie kann man Objekte beschaffen machen, dass sie in Richtung verschiedener Zeichensysteme kippen können?“

#zeichen (motiv)

Dies ist der letzte der acht Trigger auf der Buchrückseite. Es sind gerade die Zeichen als Symbole für Motive, die konzentrierte Aufmerksamkeit erfordern. Eine Spielkarte mit einer Achtelnote, der Aufenthaltsort von vier Uhren, die Strickanweisung für rechte und linke Maschen … alles hat einen Sinn, und zwar den, welchen der Leser/die Leserin hineinlegt. Schärer gibt keine Interpretation vor, sie appelliert an die Entdeckerfreude der Nutzer:innen.

Ist das dadaistisch? Wenn sich Dadaisti:innen der Zerstörung gültiger Werte und Normen verschreiben und sich respektlos künstlerische Aussagen vornehmen, wenn sie provozieren wollen mit Satire und Neuschöpfung von Wort- und Sinnzusammenhängen – auch mit angeblich sinnfreien Lautgedichten –, wenn sie mit rhythmischen Klangbildern und dem Zerhacken von sprachlichen Gewissheiten aufrütteln wollen, dann könnte sich Schärer mit ihrem Werk dort einreihen.

Theorie mit Erkenntnisgewinn

Es ließe sich diesem Büchlein auf zweierlei Wegen nähern. Man könnte von vorne nach hinten lesen oder auch mal hier und mal dort. Oder aber man liest das angehängte Interview zuerst, das nicht als Nachwort zu verstehen ist. Die Befragung der Autorin durch den Schriftsteller Francesco Micieli ist ein spannender, unbedingt lesenswerter Teil des Werks. Ein Muss. Das Interview sollte jedoch am Anfang stehen, so dass der Leser/die Leserin zwar nicht beeinflusst wird, doch mit einer Basis an Wissen – und somit Vorfreude, Spannung und Neugierde – an die Lektüre geht. Einen theoretischen Überbau aus der Sicht der Autorin zu erfahren, ist ein Erkenntnisgewinn von nicht unwesentlichem Nutzen.

Schärer hebt die Zweideutigkeit des Titels hervor. Dieser besage, dass alles, was zum „Haus“ zu sagen ist, nun schriftlich festgehalten, also „ausgeschrieben“ sei. Und dann sei da auch die Immobilie Haus mit den vier Räumen, die zum Kauf „ausgeschrieben“ wird. Die Autorin setzt das vorliegende Buch mit diesem zur Disposition stehenden, möblierten Haus gleich. Schärer betont: „Es sind die vorkommenden Gegenstände, die Protagonisten sind im Buch und die durch ihre Anwesenheit in den Räumen die Räume erst konstituieren, das Haus erst konstituieren.“ Die Gegenstände – Verse, Reime, Buchstabenanordnungen, Zeichen, Texte u.v.a. – machen aus dem Haus=Buch ein Buch=Haus.

Wer sollte das Buch lesen?

Diese Frage stellt Francesco Micieli der Autorin. Sie stutzt: „Hm, ich wüsste es nicht.“ Doch dann imaginiert sie eine Person, die gerne Romane liest und der man sagen müsste, dass es sich bei ihrem Buch eben nicht um eine stringente Geschichte handelt, sondern um eine Auseinandersetzung mit Zeichensystemen und um die Grundlagen des Schauens und des Lesens. „Wie gewillt bin ich, mich auf etwas einzulassen, das mir seltsam vorkommt, bei dem ich vielleicht nicht weiss, was zu tun ist, bei dem ich zunächst orientierungslos bin […]?“ Dem ist nur noch hinzuzufügen: Der Leser/die Leserin kann sich gerne auf das Experiment einlassen, es bereichert den literarischen Horizont und bestätigt: Nichts ist so, wie es scheint.

Titelbild

Anina Mirjam Schärer: Im ausgeschriebenen Haus.
Mit einem Interview von Francesco Micieli.
edition taberna kritika, Bern 2023.
72 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783905846713

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