Der Vater ist tot. Es lebe der Vater!
Elisabeth Bronfen bearbeitet in ihrem ersten Roman „Händler der Geheimnisse“ den Tod ihres Vaters und kommt dabei zu einem bemerkenswerten Schluss
Von Christine Frank
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGenau 30 Jahre lang hat die weit über ihre Disziplin hinaus anerkannte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen als Professorin am Department for English and American Studies der Universität Zürich gelehrt. Bekannt und 1993 nach Zürich berufen wurde sie durch ihre Habilitationsschrift Over Her Dead Body. Death, Femininity and the Aesthetic. Nun, 30 Jahre später und nur wenige Monate nach ihrer Emeritierung, publizierte sie ihren ersten Roman: Händler der Geheimnisse. Der autofiktionale Text führt zurück in jene Zeit, als Bronfens Habilitationsschrift gerade abgeschlossen war, kurz bevor sie von München nach Zürich wechselte. Diesmal geht es um einen männlichen Toten und mit ihm geht es nicht um Weiblichkeit und Ästhetik, sondern um Geschichte – um von Männern repräsentierte Geschichte.
Im Zentrum des Romans steht der Tod des amerikanischen Kriegsveteranen George Bromfield, dem in New York lebenden jüdischen Vater von Eva, einer „fünfunddreißigjährigen Theaterwissenschaftlerin“ an der Münchener Universität, der am Karfreitag 1992 – in diesem Jahr zugleich der Beginn des Pessachfestes – unerwartet stirbt. Wie in einer Teichoskopie auf der Bühne wird der Tod ausschließlich in Berichten anderer referiert. Die in Europa lebende erste Ehefrau und die Kinder Lena und Eva erfahren davon ebenso per Telefon wie der in New York als Anwalt tätige Sohn Max, der gerade eine zweiwöchige Meditation in einem buddhistischen Retreat in Japan hinter sich gebracht hat. Mit den Überlegungen, wie es zu dem plötzlichen Tod kommen konnte, beginnen die Kinder das zurückliegende Leben des Vaters zu befragen. Wie in Bronfens Habilitationsschrift ist auch im Roman der Körper ein „issue“. Bromfield hat einen Schlaganfall erlitten und wird im Krankenhaus behandelt. Ein Schlauch ermöglicht ihm das Atmen, verhindert aber, dass er selbst sprechen kann. Seine zweite Frau lehnt den aus ärztlicher Sicht erforderlichen Kehlkopfschnitt als untragbaren Eingriff in den Körper des Mannes ebenso ab wie sie weitere lebensverlängernde Maßnahmen untersagt. Sie hält seinen Zustand für nicht mehr lebenswert und führt allem Anschein nach Bromfields Tod aktiv herbei, indem sie selbst den Schlauch entfernt. Obwohl sie argumentiert, gemäß einer geheimen Abmachung im Einverständnis mit dem Vater gehandelt zu haben, reagieren die Kinder des Verstorbenen verstört. Evas Bruder Max zieht einen Vergleich mit Klaus Barbie. Das harte und herrische Auftreten der Frau, die Benutzung eines Alias anstelle ihres eigentlichen Namens und schließlich ihre Herkunft aus dem Dachau der 1930er Jahre schaffen einen suggestiven Kontext, der die Deutsche als Vollstreckerin eines nur von ihr gewollten Todes erscheinen lässt. Das Schicksal des Vaters wird zum historisch paradigmatischen Fall.
Wie viele andere junge Amerikaner jüdischer Herkunft hatte sich Bromfield während des Zweiten Weltkriegs zum Einsatz in Europa gemeldet. Als Offizier der amerikanischen Militärregierung war er nach Kriegsende zuerst mit der Entnazifizierung betraut; später arbeitete er für den amerikanischen Nachrichtendienst OSS (Office of Strategic Services) und baute sich in München eine Anwaltskanzlei für Restitutionsfragen auf, die nebenbei als konspirativer Treffpunkt genutzt wurde. Bis in die frühen 1970er Jahre hinein agierte der Vater so diskret als „eine Art Kontaktmann, eine Anlaufstelle für die Agenten, die sich zwischen Osten und Westen hin- und her bewegten“, wobei sein Hauptinteresse der Suche nach dem Verbleib von Nazi-Raubkunst galt: „Es hatte etwas mit Rückerstattungen an Deutsche zu tun, die während des Kriegs in den USA ansässig waren“, erklärt Evas Mutter Inge in auffallend sperrigem, das Eigentliche verschweigenden Amtsdeutsch die damalige Tätigkeit des Vaters.
Dem Buch hätte ein sorgfältigeres Lektorat gutgetan, sowohl im Hinblick auf die stellenweise triviale Sprache mit allzu vielen schmückenden Adjektiven und Incipit-Formeln als auch im Hinblick auf sachliche Ungenauigkeiten (so dreht sich der Kreisel bei Bronfen „um seine Spitze“; korrekt müsste es heißen „um seine Achse“). Was sich über viele Seiten hinweg wie ein Krimi liest, wird erst auf den zweiten Blick erkennbar als überraschendes Statement zur Frage der Erinnerungskultur, die eine wesentliche Rolle in den theoretischen Debatten der letzten drei Jahrzehnte gespielt hat. Dass die Rollenverteilung zwischen Guten und Bösen nicht aufgeht, liegt auch daran, dass die einstigen Kontrahenten der realen Geschichte, Holocaustüberlebende wie deutsche Adelige, dem Fraternisierungsverbot unterworfene amerikanische Militärs wie junge deutsche Frauen, nach Kriegsende einfach wieder leben wollten – ein Befund, den Bronfens Roman immer wieder hervorhebt. Als Jahrzehnte später die Geister der Vergangenheit wiederzukehren scheinen, schreckt nicht allein die New Yorker Polizeibehörde vor einer Strafanzeige zurück. Der mit der Untersuchung betraute Detective wird am Ende zur moralischen Instanz der vaterlos gewordenen Geschwister, indem er Eva den Rat mitgibt: „Wohin auch immer die Fakten und die Umstände, die wir in diesem Fall herausgefunden haben, führen mögen, es ist wichtig, dass Sie und Ihr Bruder für sich eine Lösung finden.“ Auch diese Formulierung hinterlässt einen zweifelhaften Nachgeschmack. Während die Geschwister eine Zivilklage erwägen, ist es schließlich die Mutter, die sich strikt dagegen ausspricht. Zuletzt rät Evas Freundin, die Geister der Vergangenheit ruhen zu lassen: „[E]ine Gerichtsverhandlung würde allerlei Dinge, die im Verborgenen liegen, ans Tageslicht rücken. Sie würde Dinge aufwühlen, die wie in einem Schließfach ausgelagert sind. Dinge, von denen man nicht weiß, dass sie dort ruhen.“ Der Ruf nach Gerechtigkeit, so das Argument der Freundin, sei für Evas Trauer nicht der richtige Weg. Und so werden die Dokumente der Geschichte des Vaters in einem edlen alten Lederkoffer zur Ruhe gebettet. Die fast den gesamten Roman erfüllende Suche nach Klärung der Geheimnisse klingt mit einem Glas Champagner aus.
Nach so viel aufgewühlten Geschichten und damit aufgeworfenen Fragen zur frühen Nachkriegszeit ist dies ein überraschender Schluss, zumal in einem Setting zu Beginn der 1990er Jahre – nur wenige Jahre nach dem Mauerfall und der Wende in Europa. Von der damaligen Aufbruchstimmung ist in dem Roman, in dem die Geschwister problemlos zwischen Tokio, New York und München jetten und ihre Sensibilitäten mit dezenter Dekadenz pflegen (auffällig ist die sorgfältige Wahl der Restaurants, der Weine, der Speisen) wenig zu spüren.
Tatsächlich ist der Roman nicht in den 1990ern, sondern dreißig Jahre später geschrieben worden. Vielleicht ist es gerade aus der Erfahrung der heutigen Zeit heraus das Anliegen der Autorin gewesen, den Euthanasieverdacht, der sich gegen die von der Familie wenig geschätzte zweite Frau des Vaters richtet und dessen Berechtigung von den LeserInnen kaum bezweifelt werden kann, am Ende nicht in eine auf Indizien beruhende Anklage zu überführen, sondern stattdessen für einen Umgang mit der Vergangenheit zu plädieren, bei dem die bestehenden „Geheimnisse“ anerkannt und nicht mehr aufgeklärt werden. Welcher Logik folgt diese Argumentation angesichts einer die frühe Nachkriegszeit kennzeichnenden Kultur der Verschwiegenheit und des Verschweigens, wie sie von der Autorin über lange Strecken hinweg fokussiert und in Bezug auf den Umgang mit der Nazivergangenheit mit Recht problematisiert wird?
Das erschließt sich erst, wenn man mit einbezieht, welche Rolle die Einbettung der Geschichte des Vaters in einem zweiten Erzählstrang, nämlich dem der Gespräche Evas mit ihrer Jugendfreundin, der Fotojournalistin Sam (Samantha), spielt. Während Eva Beweise für die vorsätzliche Herbeiführung des Todes des Vaters durch dessen zweite Ehefrau sucht, kuratiert Sam zusammen mit dem Kriegsfotografen Tony eine Fotoausstellung. Die Sichtung und Anordnung von dessen Aufnahmen aus der frühen Nachkriegszeit wird mit der Ermittlung des NYPD Detectives in Sachen Bromfield verglichen. „Tonys Fotografie verwandelt den alltäglichen Nachkriegsschauplatz in ein Bildgedicht“, erkennt Sam schließlich. „Doch es sind alles nur Indizien. Sie beweisen nichts, sie legen nur etwas dar.“
Auch das von Eva und Sam geplante gemeinsame Shakespeare-Projekt, bietet einen Deutungsrahmen für die Auseinandersetzung mit dem Tod des Vaters. „Verschneidung“ oder „crossmapping“ nennt Bronfen im Rückgriff auf eine Formulierung von Stanley Cavell die von ihr entwickelte Methode wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung durch genre- oder medienüberschreitendes Vergleichen. Bereits 2020 hatte Bronfen zusammen mit Muriel Gerstner eine „Verschneidung“ von The Merchant of Venice und Othello erarbeitet, die unter dem Titel THIS IS VENICE von Sebastian Nübling am Wiener Burgtheater inszeniert wurde. Ganz ähnlich konstruiert ist nun das Theaterprojekt im Roman, das Eva und Sam betreiben, die William Shakespeare’s Was ihr wollt mit Julius Caesar „verknüpfen“ wollen. Es wird allerdings durchkreuzt von dem unerwarteten Zusammenbruch und wenig später erfolgenden Tod von Evas Vater, der über Monate Evas ganze Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Die auf die Unbegreiflichkeit des plötzlichen Verlusts folgende Trauerarbeit mündet in eine Beschäftigung mit den geheimnisvoll gebliebenen Zügen des Vaters und rückt nun, angesichts der zweifelhaften Umstände des Todes von George Bromfield, Shakespeare’s Hamlet als kommentierendes Handlungsschema in den Vordergrund – jenes um die ermordete Vatergestalt kreisendes Psychodrama, in dem der junge Prinz zu sich selber finden muss und in dem es am Ende für keine(n) der Beteiligten mehr eine Zukunft gibt. So weit kommt es bei Bronfen allerdings nicht. Denn obwohl sowohl die Tochter Eva als auch der Sohn Max vom „Geist“ des Vaters in ihren Träumen aufgesucht werden, und obwohl sich eine von der Stiefmutter und dem mit ihr kollaborierenden Hausarzt des Vaters geschmiedete Intrige abzuzeichnen scheint, ist die „Familienaufstellung“ in Bronfens Roman doch eine andere als bei Shakespeare. Während Prinz Hamlet sterbend den Tod aller Beteiligten konstatiert („the rest is silence“), führt Sam die Freundin Eva sanft zu dem gemeinsamen Shakespeare-Projekt zurück und gibt den unaufgelösten Geheimnissen neuen Sinn:
Erinnerst du dich, dass wir davon gesprochen haben, dass es auch in unserem Shakespeare-Projekt etwas Verborgenes geben muss? Wie in einem discovery space, diesem mit Vorhängen ganz abgeschirmten kleinen Raum auf der frühneuzeitlichen Theaterbühne, von dem die Zuschauer wussten, dass dort etwas ist, zu dem sie keinen Zugang haben. Wir wollten doch die Spannung, die von der Kryptomanie ausgeht, erhalten. Geheimnisse sind nur wirksam, wenn sie nicht aufgelöst werden.
Im Romangeschehen wird Evas Suche nach Gerechtigkeit in der symbolischen „Bestattung“ der Fundstücke der Geschichte ihres Vaters zum Abschluss gebracht, der Geist gebannt.
Für die LeserInnen des Romans aber eröffnen – wiederum wie in einem Theaterstück – Prolog und Epilog noch weitere Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf die Verhandlung der Geheimnisse. In beiden Teilen geht es um Bilder, um Abbildungen oder um imaginierte Bilder, deren Gedächtnisfunktion Bronfen herausarbeitet und der gesuchten Aufklärung der Geheimnisse der Geschichte entgegenhält.
Im Prolog betrachtet Eva eine Fotografie aus dem Besitz der Familie. Dabei fallen ihr Ungereimtheiten auf, die mit ihrer Erinnerung nicht übereinstimmen und die sie sich nicht erklären kann. Erst die durch den Tod des Vaters initiierte Spurensuche ermöglicht ihr zu erkennen, dass gerade diese Ungereimtheiten auf die geheim(nisvoll)e Tätigkeit des Vaters verweisen, der von den Nazis beschlagnahmten oder entwendeten Gemälden auf der Spur war. Denn die Fotografie bildet auf seltsame Weise die eigene Familie ab wie ein Palimpsest. Auf der von Eva betrachteten Fotografie wie auch auf einem ganz ähnlich arrangierten Familiengemälde im Besitz von Evas Mutter wurden die Positionen und Gesichtszüge einer anderen, verschwundenen jüdischen Familie, deren Hinterlassenschaft der Vater ausfindig machen sollte, in die Mitglieder der Familie Bromfield eingetragen. So wird die Fotografie selbst zur Überschreibung, zum Abbild einer und zugleich einer anderen Familie – eine Momentaufnahme, die erinnert und doch in ihrem ganzen Ausmaß und ihrer ganzen Bedeutung nie vollständig eruiert werden kann. Erst nach dem Tod des Vaters hat Evas Suche die Konvergenz der nicht zur Deckung kommenden Bilder zum Vorschein gebracht und in der Fotografie jene andere Familie mit abgebildet gefunden – als anwesend-abwesend wie die eigene Familie ihrer Jugend. Aufgehoben, ohne doch ihr Geheimnis zu lüften. Auf diese Weise wird das Verschwinden festgehalten – und zugleich die Vergeblichkeit der Bemühung um Restitution, um ‚Wiedergutmachung‘ dessen, was auf dem Bild auch zu sehen und doch für immer verloren ist. Die Überschreibung, das „crossmapping“, das Palimpsest, so lässt sich resümieren, erscheint damit als veritable Alternative zur vergeblichen Suche nach Aufklärung, als Modus eines Gedächtnisses, das der Komplexität der Ereignisse der Geschichte gleichwohl gerecht werden könnte.
Während sich aus dem Rückblick des erzählten Romangeschehens dem im Prolog betrachteten realen Geschichtsbild eine bedenkenswerte neue Stellungnahme zu Erinnerung und Gedächtnis in der Verschränkung von öffentlicher Zurschaustellung und diskreter Verschwiegenheit entnehmen lässt, scheint Bronfen am Schluss gewissermaßen den „reset button“ zu drücken, indem sie an den Anfang der Geschichte des Vaters zurückkehrt und den dynamischen Aufbruch des unterdessen verstorbenen Helden noch einmal imaginär in Szene setzt. Gleich dem Fallschirm, mit dem der Vater gegen Kriegsende als junger Soldat vom nächtlichen Himmel aus dem Flugzeug abgesprungen und in Bayern gelandet ist, entfaltet sich hier noch einmal die Option mit der Sprache aus Gelesenem und Gehörtem ein lebendiges, wenn auch imaginäres Erinnerungsbild zu schaffen, in dem das Vergangene stets von neuem wiederauferstehen kann – gelandet wird allerdings auf nur allzu bekanntem Boden. Im Schlussbild des Romans steht der Vater im Gegensatz zu seinen beiden deutschen Mitstreitern, die beim Absprung umkommen, in seiner vollen Körperkraft wieder auf – ein Prototyp des American Hero, der mutig und entschlossen über die Gefallenen – over their dead bodies – hinwegschreitet, um seine Mission zu erfüllen.
Man mag der an den Schluss gesetzten Apotheose der heldenhaften Vaterfigur – die zugleich die Befreiung Nazideutschlands durch die Amerikaner repräsentiert – skeptisch gegenüberstehen. Zweifellos ist der Roman mehr als ein weiteres Beispiel autofiktionaler Prosa. Elisabeth Bronfen hat mit ihrem komplex angelegten, wenn auch sprachlich nicht immer überzeugenden Roman auf eindrucksvolle Weise Stellung bezogen zur nach wie vor bedeutenden Frage nach dem Umgang mit den Geistern der Vergangenheit. Er verhandelt die Geheimnisse auf wahrhaft literarische Weise, weil er auf Lebens- wie auf Leseerfahrung beruht und hoffentlich nicht nur literaturwissenschaftlich geschulte LeserInnen zur weiteren Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit denen, die Geschichte schreiben, inspirieren wird.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||