Auschwitz-Erinnerungen, die heute noch zu uns sprechen

„Gebranntes Kind sucht das Feuer“ von Cordelia Edvardson in neuer Übersetzung

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Vergangenheit ist unserer Barmherzigkeit ausgeliefert.“ Das Zitat von Lars Gyllensten dient dem ersten und längsten Teil der Erinnerungen von Cordelia Edvardson (1929-2012) als triftiges Motto. Denn ihr Buch Gebranntes Kind sucht das Feuer handelt in diesem Teil nicht nur von ihrer Zeit im Vernichtungslager Auschwitz, sondern auch von der konflikthaften Beziehung zu ihrer Mutter, der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, ohne die diese Erinnerungen nicht zu verstehen sind. Das Buch ist, wie Daniel Kehlmann in seinem Nachwort schreibt, irreführend als „Roman“ bezeichnet, ein Roman, „der keiner ist“: „in kühler Ablehnung von hohem Pathos, ohne Beschönigung, ohne Furcht und mit einem Mut zur Klarheit“.

Obwohl das auf Schwedisch verfasste Buch schon 1986 in deutscher Übersetzung vorlag, und die gebürtige Münchnerin im selben Jahr noch den Geschwister-Scholl-Preis gewann, zählt es zu den weniger bekannten autobiographischen Zeugnissen der Holocaust-Literatur. Nun liegt das lange vergriffene Werk in sprachlich transparenter Neuübersetzung durch Ursel Allenstein wieder vor und trifft uns bis ins Mark. Es sind Erinnerungen an eine Kindheit in Berlin, an das die Erzählerin von Beginn an begleitende Gefühl des Andersseins, Erinnerungen an die schwierige, exzentrische und doch von ihr bewunderte Mutter, an die Deportation und das Vernichtungslager. Edvardson wurde mit 14 Jahren über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert, in das „leere[] Niemandsland“. Sie war das uneheliche Kind eines jüdischen Vaters und bei ihrer Mutter aufgewachsen, die – Hitlerverehrerin und durch ihr literarisches Werk als glühende Katholikin bekannt – den „Rassegesetzen“ zufolge ebenfalls Halbjüdin war. Die Tochter befand sich damit, als Volljüdin“ eingestuft, in unmittelbarer Lebensgefahr.

Eine, womöglich sogar die Schlüsselszene des Buches ist der Bericht einer folgenreichen Unterschrift: Nachdem die Mutter die Adoption der Tochter durch spanische Bekannte arrangiert hatte, um ihre Deportation zu verhindern, werden beide zur Gestapo zitiert. Trotz der Aussicht, sich der Lebensgefahr durch die Annahme der spanischen Staatsbürgerschaft zu entziehen, unterschreibt das Mädchen auf Druck, die deutsche beizubehalten – was auch ihren „Abtransport“ in den Osten beinhalte. Wenn nicht, so die Drohung der Gestapo, werde die Mutter zur Rechenschaft gezogen. Edvardson unterschrieb nach einem Blick in die Augen der Mutter, denn „es hatte nie eine Wahl gegeben, sie war Cordelia, die ihren Treueschwur hielt“.

Sie überlebt und strandet in Schweden, von wo aus sie der Mutter erst ein Jahr nach Kriegsende ein Lebenszeichen sendet. Im Buch schreibt sie über den damals wieder aufgenommenen Briefkontakt, über die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen einer Lebenden – die eigene Mutter – und ihr selbst. Und hält fest, seinerzeit den „Muttermord“ nicht gewagt zu haben: „Er hätte auch Cordelia vernichtet, die Auserwählte, Auserkorene, die ihren Treueschwur hielt.“ Das Stigma des Jüdischseins, die frühe Ausgrenzung und der gegen sie gerichtete Vernichtungswille werden zum Gefühl des Auserwähltseins, und dieses zum Leitmotiv der Mädchenerinnerungen. Ihre Mutter sieht sie nach dem Überleben nur noch ein einziges Mal wieder.

Schon am Anfang der Erinnerung steht das vage Gefühl, anders zu sein: Als die Mutter neu heiratet und Kinder bekommt, die Gefahr durch den Nationalsozialismus sich dramatisch verdichtet, ahnt sie – noch in ihrem Zuhause – , „dass sie dort nur Gast und Fremde ist.“ Sie bekennt, die „Todesuhr“ schon ticken zu hören; als Sternträgerin beschreibt sie sich als „Kuckucksjunge“, das aus dem Nest geworfen werden müsse. Auch aus dem katholischen Mädchenbund, wo ihr der Glaube und die Gemeinschaft Halt gegeben haben, wird sie ausgeschlossen. „Wenn es eine gibt, die geopfert werden, die das Boot verlassen muss, dann natürlich sie, die Auserkorene, Auserwählte.“

Die verschwommensten Stellen des Buchs, wie aus dem Rahmen jeglicher Ordnung gefallen, sind die aus Auschwitz. Ihre Nummer A 3709 wird zum Gegenstand der Reflexion, die Wahrnehmung der anderen Inhaftierten, die schonungslosen Beschreibungen des KZ-Arztes Joseph Mengele, auch die sexuelle Gewalt, die die Gefangenen erleiden müssen. Es sind Szenen unerträglicher Erniedrigung, die nur durch das Pronomen der dritten Person „sie“ aufgefangen werden. Der Griff zum „ich“ bleibt verstellt.

Von ihrer Mutter hat das Mädchen den Mythos, die Welt der Bilder, erhalten; die Erinnerungen zeigen aber auch scharf und unverstellt deren Kehrseite, das Ausweichen vor der Wirklichkeit, der die erdachte Welt nicht standhalten kann – weder bei der Mutter noch bei der Tochter. Eine von Edvardson im Lager beobachtete Frau im Moment der Selektion, die beharrlich darauf besteht, mit ihrem Kind in den Tod zu gehen und trotz Anweisung nicht die Seite wechselt, wird zu einem angesichts der eigenen Geschichte gefährlichen und bedrohlichen Bild, das aber nicht verdrängt werden kann. An Eindrücklichkeit kaum zu überbieten ist der Bericht eines Traums, als Gegenblende zum Lager, der Traum der erwachsenen Frau, die ins Elternhaus zurückkehrt: „Alles ist hier, und alles ist vorbei, es war, wie es war, und nichts kann verändert oder ausradiert werden.“

Der zweite Teil des Buchs ist der Post-Auschwitz-Zeit, dem Weiterleben gewidmet: „Sie wurde eine Überlebende. Eine, die übrig war; eine, die hinübergezogen worden war, die über die Grenze zwischen Leben und Tod geglitten war und zurückgeblieben im grauen Nebel des Niemandslands.“  Es ist auch eine Zeit des Schweigens, der Sprachlosigkeit – mehr noch als die Zeit der Lager, so der Eindruck der Leserin. „Im Anfang war das Wort, am Ende jedoch Asche.“ Die Autorin schildert, wie sie den Zorn, den „Feuerball“ in sich mutwillig unterdrücken muss in der Welt der Lebenden, weil sie nicht vergessen und nicht „gesund“ werden will – und weil sie spürt, dass ihr Zorn zu überwältigend wäre, um nicht auch sie selbst zu verletzen. Sie schildert aber auch ihren Lebenshunger, den zweischneidigen Willen, „da zu sein“, wie sie wiederholt schreibt.

1973 siedelt Edvardson nach Israel über: Von dem Leben dort, dem aufgefundenen „wir“, handelt der kürzeste, nur vier Seiten umfassende letzte Teil des Buches. Der Satz, der den Titel des Buches bildet, erscheint erst auf diesen letzten Seiten. „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ bezieht sich auf Edvardsons Ankunft in Israel während des Jom-Kippur-Krieges 1973: Als Reporterin nach Israel gekommen, bleibt sie in Jerusalem.

Eine „furchtbare Lektüre“, und dennoch „ein echtes Versäumnis der Erinnerungskultur“, dass dieses Buch noch so wenig bekannt ist: Den Worten Kehlmanns ist voll und ganz zuzustimmen.

Titelbild

Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer.
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein.
Carl Hanser Verlag, München 2023.
144 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446277564

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