Am Rande der Schreibarbeit
Ein Katalog der Wiener Galerie „nächst St. Stephan“ dokumentiert eine Ausstellung Friederike Mayröckers aus dem Jahr 2020
Von Gabriele Wix
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAusstellungskataloge sind eher selten Gegenstand von Besprechungen in dieser Zeitschrift. Hier geht es jedoch um Friederike Mayröcker, die große österreichische Schriftstellerin (1924–2021), zu deren 100. Geburtstag im kommenden Jahr eine Reihe von Publikationen erscheinen werden. Den Auftakt macht nun ein Katalog, der ebenso zurückhaltend wie selbstverständlich mit Friederike Mayröcker betitelt ist. Auf 100 Seiten wird eine Ausstellung dokumentiert, die Rosemarie Schwarzwälder 2020 in ihrer Galerie nächst St. Stephan im Rahmen des jährlich in Wien stattfindenden Festivals curated by gezeigt hatte.
Fotos mit Ausstellungsansichten eröffnen den Katalog. Sofort wird deutlich, dass hier nicht der Versuch unternommen wird, der Dichterin eine zweite Existenz als bildende Künstlerin an die Seite zu stellen. Das geht auf den ausdrücklichen Wunsch Mayröckers zurück. Dem ursprünglichen Konzept des Kurators Hans Ulrich Obrist, eine historische Ausstellung ihrer Zeichnungen zu machen, setzte sie – ungeachtet der Kunstgalerie als Ort der Schau – die vorrangige Bedeutung ihrer Schreibarbeit entgegen. Ihre Arbeiten auf Papier hängen in schlichten Holzrahmen an den Wänden oder liegen in Vitrinen aus. Blickfang ist ein Büchertisch, eher: eine fließende Installation von miteinander verbundenen kurvigen Tisch-Ausstellungsflächen in Schwarz, entworfen von der koreanischen Künstlerin Koo Jeong A. Über 100 von Mayröckers Büchern waren zum Anfassen und Blättern ausgelegt. Zusätzlich konnte man eine Auswahl ihrer Hörspiele hören und den Fernsehfilm Traube aus dem Jahr 1971 anschauen, eine Gemeinschaftsproduktion von und mit Friedrike Mayröcker, Ernst Jandl und Heinz von Cramer, WDR.
Den Ausstellungsansichten – wunderbar die doppelseitige Großaufnahme der ausgelegten und eben nicht ausgestellten Bücher – folgen nach einem Vorwort der Galeristin Reproduktionen von zwei Typoskripten Friederike Mayröckers aus der Handschriftensammlung der Wien-Bibliothek. Den Typoskripten und nicht den Zeichnungen im Katalog den Vorrang zu geben, ist ihrer Bedeutung angemessen. Es handelt sich hierbei um Schlüsseldokumente für die Poetologie des Zeichnens bei Mayröcker. Sie sind überschrieben mit „zu meinen zeichnungen, an georg jappe, 15.11.83“ und „zu meinen Zeichnungen:“, wohl ein Vorentwurf (nicht datiert). „meine zeichnungen oder bildgedichte entstehen am rande meiner schreibarbeit.“, heißt es darin. Sie seien „unbedeutende randbemerkungen“, „kritzeleien ohne jeglichen formenreichtum“, „spiele, die ich mit mir selber spiele.“ An Georg Jappe schreibt sie weiter: „und eigentlich sind sie nicht als eigentliche ‚arbeiten‘ zu verstehen“.
Sofort könnte sich ein Einwand erheben: Wenn Zeichnungen kuratiert und in einer Galerie gezeigt werden, erhalten sie dann nicht quasi automatisch einen Kunststatus? Ganz abgesehen davon, dass zuweilen auch Handschriften ein Kunstwerkcharakter zugesprochen wird? Der Münsteraner Literatur- und Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt hat sich in den 1980er und 90er Jahren umfassend mit Mayröckers Werk beschäftigt. Grundsätzlich bestätigt er die durch einen bestimmten Kontext geprägte Rezeption. Ob Mayröckers Zeichnungen Kunstwerke seien oder nicht, werde „wie bei anderen visuellen Phänomenen über deren Kopf hinweg entschieden; zum einen von jeder Betrachterin und jedem Betrachter; zum andern in dem (immer weißer werdenden) Rauschen der Kunst-Kommunikation von Kritikern, Galeristen, Verlegern und Moderatoren.“ Doch kommt er in Bezug auf Mayröcker zu einem überraschenden Ergebnis: Bei ihren „Bildstenogrammen“ erweise sich die akademische Frage nach ihrem Kunststatus als überflüssig, „denn sie gewinnen und verlieren durch eine positive Antwort so viel und so wenig wie durch eine negative.“ Seine Überzeugung ist: „Diese kleinen Sinnmaschinchen unterlaufen, ja decouvrieren durch ihre Flüchtigkeit und scheinbare Nebensächlichkeit den längst historisch gewordenen Anspruch visueller Oberflächen auf Vollendung und zeitenthobene Geltung.“ Das entspricht auch der Theorie des Adressaten von Mayröckers Brief, Georg Jappe, der die Entwicklung des künstlerischen und literarischen Schaffens im 20. Jahrhundert als „Weg zurück von der Spezialisierung“ begreift.
Schmidt hatte 1995 in der Reihe „Arbeiten auf Papier“ des Verlags Kleinheinrich, Münster, unter dem Titel den fliegenschrank aufgebrochen eine aufwendig gedruckte limitierte Ausgabe von Zeichnungen Friederike Mayröckers herausgegeben, die zum Teil auch in der Wiener Ausstellung zu sehen waren. Bildgedichte, der Untertitel der Publikation, signalisiert über den intermedialen Ansatz des Verlegers hinaus – seine Leidenschaft gilt Büchern, „in denen Text und Bild zusammenkommen“ – den literarischen Schwerpunkt, den Friederike Mayröcker dann auch so entschieden in der Wiener Präsentation von 2020 setzen sollte. In seiner Einführung in dieses Buch, dem die Zitate oben entnommen sind, gibt Schmidt auch den Inhalt des Briefes Mayröckers an Georg Jappe wieder. Er war schon zuvor in einem 1984 ebenfalls von Schmidt bei Suhrkamp herausgegebenen Materialband zu Mayröcker abgedruckt worden, und Mayröcker selbst hatte den Brief 1987 als autonomen Text in ihr Buch Magische Blätter II aufgenommen. Umso mehr mag es die Leserinnen und Leser freuen, dass im Wiener Katalog mit den Reproduktionen der beiden handkorrigierten Typoskripte der Schreibprozess dieses wichtigen Zeugnisses von Mayröckers Selbstverständnis als Zeichnerin dokumentiert ist.
Das Konvolut der Originalzeichnungen und Drucke, die der Katalog nach einem mit „Schutzgeister. Friederike Mayröcker“ überschriebenen Beitrag des Kurators abbildet, ist in verschiedene Gruppen gegliedert. Es handelt sich zum einen um die neunteilige Folge „Schutzgeister für E“ aus dem Jahre 1967. Sie stammt wie fast alle Exponate aus dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Mit dem Kugelschreiber hat Mayröcker auf neun Blättern „16 Schutzgeister für E (express: Stuttgart /Frankfurt November 67)“ gezeichnet. E ist das Kürzel für Friederike Mayröckers Lebenspartner, den Dichter Ernst Jandl. Der Zusatz in Klammern, der die Schreibsituation beschreibt, und der Kugelschreiber, eher alltägliches Schreib- als künstlerisches Zeichenwerkzeug, sind deutliche Indizien für die Abwehr des Kunstwerkcharakters, für das Interesse an dem Flüchtigen. Den Variationen frontal dargestellter fragiler, kindlicher Engelgestalten, gelockt, bezopft, lang- oder kurzhaarig, schmal oder rund, kurz oder lang gewandet, streng lineare Notate ohne jegliche Andeutung eines Hintergrunds, sind kurze Texte handschriftlich beigestellt. Sie benennen die jeweilige Schutzfunktion der Geister, etwa gegen morgendliche Müdigkeit, gegen Schnupfen und Alleinsein oder Haarausfall und Blitzschlag. Für den Kurator hat Mayröcker 2020 einen Schutzgeist gegen Corona gezeichnet, den er zurecht mit Stolz als eine Art Frontispiz vor seinem Beitrag abdrucken lässt.
Ebenfalls neunteilig ist die im Katalog abgebildete Zeichnungsfolge ABC-thriller, ein Druck von 1992 nach Originalen von 1968 in einer signierten und nummerierten Auflage von 150 Exemplaren der Edition Freibord, Wien. „Liebe Kinder“, notiert Friederike Mayröcker, „sicherlich habt Ihr Euch schon einmal einen ABC-thriller gewünscht …“. In alphabetischer Reihenfolge werden in kleinen Skizzen kindliche Figuren, auch Läuse und andere Tiere, von A wie „Aloisia, Miss Universum 70“ über „Ypps, der schreckliche Fremde“ bis „Zillie, das gefräßige Hechtfräulein“ porträtiert, unnachahmlich „Nettie, das eifrige Stubenmädchen“ mit ausgebreiteten Armen, Hüftschwung und einem „N“ in Rot über das Gesicht gezeichnet. Ein elliptischer Satz: „… und nun? ? ?“ beendet das Buch. Der Zauber vermittelt sich über die unbeholfene, fast naive Strichführung, die kindliche Darstellung und die skurrile Vielfalt der Charaktere, die den Leserinnen und Lesern in dem Thriller begegnen. Im Jahr zuvor war in der Edition Freibord eine 13-teilige Zeichenserie von 1965 erschienen, ein Kinder-Ka-Laender. Im Wiener Katalog sind der Druckversion die Entwürfe im Original beigestellt. Deren Bearbeitungsspuren gewähren erneut einen Blick in die Schreib- und Zeichenwerkstatt der Autorin. So werden etwa verschiedene Entwürfe für den Oktober verworfen, und schließlich heißt es: „IM OKTOBER / FEG ICH BLÄTTER VON DEN BÄUMEN“, in großen Druckbuchstaben über einer Figur notiert, die sich mit einem Fächer von zehn Armen statt der zehn Finger und zehn Beinen statt der zehn Zehen der Blätterflut stellt. Gestrichen wird in den Entwürfen auch: „IM NOVEMBER / FREU ICH MICH / AUF DEN / DEZEMBER“, über die Zeichnung eines Kalenderblatts mit dem 30. November geschrieben. In der Druckversion ist nun über einer Regenwolke zu lesen: „IM NOVEMER / LASS ICH MICH ALS REGEN FALLEN“.
Zwei Fotografien von 1980 und 14 Blätter mit teils farbigen Zeichnungen beenden die Dokumentation der Werkschau. Diese sind bis auf drei Arbeiten von 1964/65, 1970 und 1978 undatiert, was wiederum den Gelegenheitscharakter unterstreicht. Irritierend ist eine Filzstiftzeichnung, in der ein Falter mit menschlichem Gesicht von einer roten Nadel aufgespießt wird. Die in der Ausstellung gezeigte Entwurfsskizze trägt keinen Titel. In der Münsteraner Publikation ihrer Zeichnungen ist das Motiv in einer Variation abgebildet. „Friederike Mayröcker: „Mordlust der Falterfänger“ hat Mayröcker auf das Blatt geschrieben. Es wird begleitet von zwei weiteren Blättern, „Mordlust der Angler“ und „Mordlust der Schützen“, die in Wien nicht ausgestellt sind.
Irritierend sind auch die Zeichnungen in der Ausstellung, auf denen die Finger einer Hand in Flammen münden, „Blattgrün“ betitelt, oder die Zeichnungen und Entwürfe aus dem Mappenwerk im Nervensaal, Himmel am zwölften Mai, 1983 in der Herbstpresse erschienen. Auf ihnen sind menschliche Figuren mit einer brennenden Kerze unter der Achsel dargestellt; „Experiment 1“ steht auf einem der drei undatierten Blätter. Mit „son et lumière“ sind zwei im Katalog abgebildete Zeichnungen betitelt, die die Silhouette eines Kanarienvogels im Käfig zeigen, auf einer S/W-Zeichnung als rückwärtige Ansicht des Vogels zu lesen (so auch in Mayröckers Mappenwerk von 1983 abgedruckt) und auf einer kolorierten Zeichnung als Flamme. Das Brennen und der Regen, der Schaffensrausch und Phasen des Sichfallenlassens gehen ineinander über.
Was Mayröcker in ihren Büchern und auch in ihren Zeichnungen nicht verschweigt, was sie berührend und in ihrer gewitzten, humorvollen Haltung erschreckend ehrlich macht, ist die Thematisierung der Erschöpfung, des Niedergeschlagenseins und der Angst vor dem Ende. Dieser Werkkomplex ist aus guten Gründen in der Ausstellung ausgespart. Es sind Blätter wie eine Arbeit aus dem Jahr 1978: „im mai erfahrungen, von anfälligkeit, während einer russlandreise“ steht mit der Schreibmaschine geschrieben am oberen Bildrand. Darunter ist der Buchstabe „R“ spiegelverkehrt gezeichnet, er wirkt wie eine stilisierte menschliche Figur (Я, „ja“, im kyrillischen Alphabet bedeutet im Russischen auch „ich“). Die Senkrechte ist nach links geneigt, die Figur scheint ihren Halt zu verlieren. Oder es sind Blätter wie eine undatierte Zeichnung, auf der inmitten von Grabkreuzen mit feiner Strichstärke eine auf zwei Linien reduzierte Figur zu sehen ist, die den Kopf tief hängen lässt. „nein, ich kann nicht mehr!“ hat Mayröcker um 90 Grad gewendet neben der Zeichnung notiert. Im Rückblick auf die Ausstellung kommt die Todesthematik im Katalog zur Sprache, wenn Hans Ulrich Obrist am Schluss seines Beitrags aus der Trauerrede des mit Friederike Mayröcker eng verbundenen Schriftstellers Marcel Beyer zitiert.
Mit den Originalzeichnungen und Entwürfen gibt der Katalog nicht nur einen Einblick in die zeichnerisch-dichterische Arbeitsweise Mayröckers. Die Dokumentation der Ausstellung von 2020 zeigt darüber hinaus eindrucksvoll, wie die Schriftstellerin auch im hohen Alter die ihr eigene Sicht auf ihr Schaffen zu vertreten wusste. 2020, im Jahr der Ausstellung, ist das letzte Buch von Friederike Mayröcker erschienen, da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Jede Druckseite liefert ein neues typografisches Bild, und ab und an stehlen sich winzige Zeichnungen in den Text. Am 4. Juni 2021 ist Friederike Mayröcker gestorben.
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