Franz Kafkas lebensbedrohliche Krankheit, seine Reise nach Zürau und seine emotionale Philosophie
Von Axel Grube
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZürau. Ein böhmisches Dorf, das heutige Siřem, etwa siebzig Kilometer südwestlich von Prag gelegen. Acht Monate, vom September 1917 bis April 1918, lebte Kafka hier auf einem kleinen Gutshof, den seine Schwester Ottilie etwa eineinhalb Jahre bewirtschaftete. Gegen den Widerstand des Vaters hatte Ottla den Hof von ihrem Schwager Karl Hermann gepachtet. Hermann Kafka, der wohl berühmteste Vater der Literaturgeschichte, kam aus armen, ländlichen Verhältnissen und hatte sich, gemeinsam mit seiner Frau July Löwy, einen mittleren Wohlstand erarbeitet. Dass seine Tochter diesen Weg nun gleichsam wieder zurück gehen wollte, war ihm ganz unverständlich. Franz aber hatte, in der für den Vater berüchtigten Komplizenschaft, seine Schwester in dem Vorhaben unterstützt.
Von der „beste[n] Zeit [seines] Lebens“ sprach Kafka etwa zwei Jahre nach dem Aufenthalt über die acht Monate in Zürau. Dabei lebte er dort in der ersten Zeit des Wissens um seine lebensbedrohliche Krankheit. Im Sommer 1917, Anfang August, wenige Wochen vor der Reise nach Zürau hatte er, nach einem nächtlichen Blutsturz und der Konsultation zweier Ärzte, die Diagnose seiner Lungen-Tuberkulose erhalten. Zum Erstaunen der Freunde in Prag zeigte sich Kafka jedoch wenig bestürzt über die Nach- richt. Ja, er erschien ermutigt, befreit. Im „Schutze der Krankheit“ waren nun lang ersehnte Veränderungen möglich: Die Beurlaubung vom Brotberuf in der Versicherungsanstalt, eine Beendigung der für beide Seiten quälenden Verbindung mit Felice Bauer und – mit der Möglichkeit des Rückzugs auf den Hof der Schwester – die Gelegenheit, für eine längere Zeit der Enge der elterlichen Wohnung zu entkommen.
Am 15. September reiste Kafka nach Zürau. Max Brod hätte sich eher ein komfortables Sanatorium im südlichen Europa zur Genesung seines Freundes vorgestellt; Kafka aber entschied sich für den ärmlichen Hof der Schwester im winterlichen, böhmischen Dorf. Er bezog ein kleines, ebenerdiges Zimmer, in das kaum Licht fiel und in dem Mäuse hausten. Für die Aufgabe, die ihm mit dem Ausbruch der agonalen Erkrankung deutlicher denn je vor Augen stand, schien ihm die Gesellschaft der Schwester und der Bauern des Dorfes, „Wirkliche[n] Erdenbürger[n]“, wie er notierte, förderlicher, als die Umgebung eines mondänen Sanatoriums. Am 28. September, etwa zwei Wochen nach der Ankunft in Zürau, notiert er im Tagebuch: „Dem Tod also werde ich mich anvertrauen. Rest eines Glaubens. Rückkehr zum Vater. Großer Versöhnungstag.“
Kafkas Beschäftigung mit dem Tod in dieser Zürauer Zeit mag zunächst von der nähergerückten Wahrnehmung im Wissen um die lebensbedrohliche Krankheit zeugen. Was aber nun besonders zum Ausdruck kam, war je schon ein Leitmotiv: die stets präsente Intuition vom Tod als Signatur der Begabung zum Überzeitlichen. Hier erwächst in jedem Augenblick das Aufgabe-Seindes Menschen („Du bist die Aufgabe“)als Herausforderung in seiner transzendenten Begabung, in seiner bereits somatischen Transzendenz. Die Angst ist die „bildende Angst“ (Kierkegaard), die Herausforderung zur Versöhnung, ja zur Überwindung des Todes in der Erfahrung des Augenblicks unverbrüchlicher, ewiger Teilnahme und zugleich zur intrinsischen Verantwortlichkeit, einer anarchischen Gefühls-Moral und ethischen Sensibilität.
Die Menschheitsentwicklung – ein Wachsen der Sterbenskraft
Eine andere Gewichtung in Kafkas Arbeit deutet sich an. Wenige Tage vor dem Eintrag vom 28. September, ebenfalls schon in Zürau, schrieb er:
Zeitweilige Befriedigung kann ich von Arbeiten wie „Landarzt“ noch haben, vorausgesetzt dass mir etwas derartiges noch gelingt (sehr unwahrscheinlich) Glück aber nur, falls ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann.
„Die ungeheure Welt die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten und begraben. Dazu bin ja hier, das ist mir ganz klar.“ Seiner Aufgabe war Kafka sich, verstärkt seit dem Schreiberlebnis in der Nacht vom 22. September 1912, der nächtlichen Niederschrift der Erzählung Das Urteil schon länger bewusst. Nun aber schien die Zeit gekommen, „das Entscheidende“, den Horizont seiner Arbeit hervorzuarbeiten. Es galt für ihn jetzt mehr denn je, sich über die „letzten Fragen“seiner Arbeit zu vergewissern und der Prosa in besonderer Form zur Seite zu stellen. Am 10. November notierte er im Tagebuch: „Das Entscheidende habe ich bisher nicht eingeschrieben, ich fließe noch in zwei Armen. Die wartende Arbeit ist ungeheuerlich.“
Es war der vorletzte Eintrag, bevor Kafka sein Tagebuch für beinahe zwei Jahre zu Seite legen sollte. Auch der Niederschrift von Prosa enthielt er sich in der Zürauer Zeit. Im „Schutze der Krankheit“ und einem „gnadenweise[n] Überschuss der Kräfte“ schien er sich ganz dieser Aufgabe widmen zu wollen. Was bisher „in zwei Armen“ verlief, die reflexive Beschäftigung im philosophischen und religionshistorischen Interesse einerseits und der implizite Ausdruck in der Prosa andererseits, wollte er nun in einer expliziten Form zusammenführen. „Was ich zu tun habe, kann ich nur allein tun. Über die letzten Dinge klar werden“, sagte er zu Max Brod bei dessen Besuch in Zürau am 26. Dezember 1917.
Das „ungeheuerliche“der „wartenden Arbeit“ lag neben der Vergewisserung auch darin, einen adäquaten Ausdruck zu finden. Ein ,klassischer‘, theoretischer Duktus oder gar eine systematische Philosophie lagen Kafka nicht und hätten der Musikalität und dem Humor des Kafka`schen Denkens nicht entsprochen. Es zeigte sich aber bald, dass Kafka in der Form der Zürauer Betrachtungen an bildhaft-reflexive Eintragungen in den Tagebüchern sowie gleichnishafte Wendungen in der Prosa anknüpfen konnte.
Schon als Schüler beschäftigte sich Kafka mit philosophischen und religionshistorischen Fragen. Durch Emil Gschwind, den Ordinarius der Gymnasialzeit, über dessen lange nachklingende Anregungen im Unterricht Kafka seiner Verlobten Felice Bauer berichtet, durch Verabredungen zur gemeinsamen Lektüre mit den Freunden, die Teilnahme am philosophischen Salon Berta Fantas und die Mitarbeit an den Schriften seines Freundes Felix Weltsch, war Kafka mit philosophischen Fragen vertraut. Seine besondere Neigung galt dabei einer poetischen Philosophie. Die platonischen Dialoge, Texte Kierkegaards und Nietzsches, auch Meister Eckhart und Eberhard Fechner, Fundstücke aus der jüdisch-christlichen Gnosis, die Philosophie der russischen Erzähler Tolstoi und Dostojewski, lagen ihm näher als eine Systemphilosophie, etwa im Stil des deutschen Idealismus. Auch die erwähnten Übungen im talmudischen Gespräch und die gemeinsame Lektüre der platonischen Dialoge mit Max Brod zeugen von der Neigung Kafkas zu Überlieferungen einer poetisch-aporetischen und dialogischen Philosophie.
Dass Kafka bei seiner Vergewisserung die Form eines, wie er einmal nach einer Dostojewski-Lektüre im Tagebuch notierte, „gefühlsmässig durchdrungen[en] Denken[s]“ suchte, mag also kaum verwundern. Die Zürauer Texte entstehen in einer bildstarken, mitunter verrätselten Form, unsystematisch notiert, in denkbar kürzesten Sentenzen. Der gleichnishafte Charakter und die verstreute, fragmentarische Form scheinen eher dazu gemacht, das Rätselhafte hervorzuheben und sich gegen Erklärungen zu verwahren. Eingetragen in zwei Notizhefte, die Kafka zu Beginn des Aufenthalts in Zürau neu anlegte, den später so genannten Oktavheften G und H, verstreut zwischen Beobachtungen und tagebuchartigen Notizen, lassen die Betrachtungen einen Zusammenhang oder das Bild einer kohärenten Philosophie kaum erkennen. Auch bei der Auswahl und eigenhändigen Edition Kafkas etwa zwei Jahre nach Zürau – er redigierte und übertrug 109 Stücke der Zürauer Hefte handschriftlich auf einzelne, durchnummerierte Blätter – verbleibt der Eindruck des aphoristischen Charakters. So ist es kaum verwunderlich, dass die Zürauer Schriften von nahezu allen Kommentatoren in ihrer geheimen Bedeutsamkeit wohl gewürdigt, ein innerer Zusammenhang ihnen jedoch weitgehend abgesprochen wurde. Auch mit der späteren Bezeichnung der Kafka`schen Auswahl als ‚Aphorismen‘ wird ein Zusammenhang des Denkens oder gar eine Philosophie Kafkas eher verneint.
Musikalität des Zweifellosen
Kafka allerdings war mit dem Ergebnis offensichtlich zufrieden, ja glück- lich. Er hatte etwas erfahren, das weit über die thematische Vergewisserung hinausging. Etwa zwei Jahre nach Zürau schreibt er in einem Brief an Milena Jesenská in Form einer Selbstansprache:
Und darum sagen meine 38 jüdischen angesichts Ihrer 24 christlichen Jahre: […) „Denke auch daran, dass vielleicht die beste Zeit deines Lebens, von der du eigentlich noch zu niemandem richtig gesprochen hast, vor etwa 2 Jahren jene 8 Monate auf einem Dorf gewesen sind, wo du […] Dich nur auf das Zweifellose in Dir beschränktest, […] und dabei gar nicht viel an dir verändern sondern nur die alten engen Umrisse Deines Wesens fester nachziehn mußtest […].
So liegt Kafkas Zufriedenheit über die Zürauer Zeit wohl in der Erfahrung des Zugangs zum Eigensten als der alles bestimmenden Resonanz. Die Erfahrung des „Zweifellosen“ als der persönliche Grund, als Kern der gesamten Arbeit und des philosophischen Zusammenhangs erscheint ihm bewusster denn je.
„Die Intelligenz muss nichts finden, sie muss den Weg freiräumen“, schrieb Simone Weil. Und Kafka ergänzt: „Jedenfalls muss man sich nun zu diesem seinem eigenen Grund ja erst durcharbeiten“.
Das Gewicht der persönlichen Vergewisserung über das letztlich alles bestimmende Selbstgefühl ist tragend für die ganz andere philosophische Form Kafkas. Was in einer Philosophie der ,reinen Vernunft‘ keinen Platz hat, sie jedoch stets, so Nietzsche, als „durchgesiebter Herzenswunsch“ prägt: die Gestimmtheit, das seelische Grundklima, die Herzensbildung, die geistige Atmosphäre eines Menschen, sein Grundgefühl und Humor, seine Musikalität – erscheint bei Kafka als der eigentliche Quellgrund des Denkens und das Unhintergehbare des Einzelnen in jedem Augenblick der „erfüllten Zeit“.
Philosophie erscheint hier nicht als ein autochthones Gebilde der Vernunft und vom persönlichen unabhängiges System oder Gedankengebäude, sondern als „gefühlsmässig durchdrungen“, als ein komplementäres Wechselspiel von Denken und Fühlen. In Kafkas diatribischer Form einer Philosophie spiegelt sich seine ausdrückliche Methodik wider. Im stets offenen Komplement von Allgemeinem und „zügelloseste[m] Individualismus“ erscheint die Möglichkeit einer neuen Überlieferung, einer offenen Form von Tradierbarkeit:
Diese ganze Litteratur ist Ansturm gegen die Grenze und sie hätte sich, wenn nicht der Zionismus dazwischen gekommen wäre, leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala entwickeln können. Ansätze dazu bestehen. Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit dem allen sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt.
Bis auf die schon erwähnte eigenhändige Edition im Jahr 1919 unternahm Kafka keine weiteren Schritte zur Vermittlung der Zürauer Betrachtungen, sei es durch eine Kommentierung, Zuordnung oder Sortierung der verstreuten Motive.
Möglich, dass er, wie Robert Musil schrieb, „schließlich mit indianischer Eitelkeit zu tragen vermochte, dass vieles ihm nicht zu sagen gelingt und mit ihm zugrunde gehen wird“. Wahrscheinlicher aber ist, dass Kafka, im Glück der Vergewisserung über das „Zweifellose“, als den Grund seiner Arbeit und Persönlichkeit, sowie im Zuge der Bewältigung der „wartenden Arbeit“, des Gelingens in der Form, dem adäquaten Ausdruck, fortan in dem Vertrauen lebte, dass diese Arbeit in der Welt war und wirksam ist; und dass er sich, in diesem Gefühl, um eine weitere Vermittlung nicht mehr bemühte. Schon bei einer einfachen Sortierung der Texte aus Zürau, aus Briefen, Tagebuch und Prosa, offenbart sich aber in den gegenseitigen Verweisen, Varianten und Wiederholungen der Zusammenhang eines Denkens. Schon in einer ersten Zuordnung vermögen die Texte für sich zu sprechen. Neben der philosophischen Perspektive selbst, zeigt sich, dass Kafka sich über den Zusammenhang dieses Denkens durchaus bewusst gewesen sein muss.
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist mit kleineren formalen Änderungen entnommen aus Axel Grube: Im Paradies wie immer. Eine poetische Philosophie Franz Kafkas. onomato Verlag, Düsseldorf 2023. Wir danken dem Autor für seine Genehmigung dazu.
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