Endlich in deutscher Übersetzung
Benny Morris‘ Untersuchung über den ersten arabisch-israelischen Krieg „1948“
Von Franz Sz. Horváth
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSelten, dass ein Standardwerk der Geschichtsschreibung dermaßen aktuell publiziert wird, wie dieses Ende November 2023 erschienene Buch von Benny Morris über die Vorgeschichte, den Ablauf und die Folgen des Krieges von 1948, den der gerade erst ausgerufene jüdische Staat gegen seine arabischen Nachbarn zu führen hatte. Abgesehen von den tagespolitischen Ereignissen seit dem 7. Oktober 2023, die einmal mehr die Notwendigkeit seriöser historischer Darstellungen zur Geschichte Israels offenbarten, war diese Publikation umso gebotener, als zum Thema auf Deutsch bislang nur Ilan Pappés verzerrte, einer Präkonzeption unterliegende Die ethnische Säuberung Palästinas vorlag. Die Einseitigkeiten dieses Buchs korrigiert nun Morris‘ Untersuchung, die bereits 2008 auf Englisch erschienen war und nun, erfreulicherweise flankiert von mehreren Begleittexten, dem deutschen Publikum zugänglich gemacht wurde.
Die Besonderheit von 1948: Der erste arabisch-israelische Krieg liegt in der gelungenen Verschränkung der Vor-, der Ideologie- und der Ereignis- bzw. Schlachtengeschichte, so dass sich der Leser je nach Interesse auf den einen oder anderen Aspekt konzentrieren kann. Die ersten vier Kapitel befassen sich streng genommen mit den Ereignissen vor dem eigentlichen Krieg, der am 15. Mai 1948 nach der Ausrufung des israelischen Staates ausbrach. Der Autor beschreibt zuerst die Einwanderung (Aliya) von Juden nach Palästina seit Ende des 19. Jahrhunderts und schildert plastisch die Verfasstheit der dort lebenden arabischen Gemeinde, deren Fragmentierung und fehlendes nationales Bewusstsein. Als wesentlich für die Stärke (und Kampfkraft) dieser Gemeinschaft beurteilt er das Ende der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen (1936-39), die zur sozialen und politischen Enthauptung der Araber führte. Dadurch fehlte es ihnen 1948 an geeigneten politischen Wortführern, Organisatoren und ausgebildeten Kämpfern, was sie entscheidend schwächen sollte.
Im zweiten Kapitel beeindruckt die detaillierte Beschreibung der jüdischen Lobbyarbeit im Vorfeld der UN-Teilungsresolution (29. November 1947). Bis zuletzt konnte sich der Jischuv, die jüdische Gemeinde des Mandatsgebietes, nicht sicher sein, ob er die benötigte Zweidrittelmehrheit der Stimmen bekommen würde. Denn sehr viele Länder, die zwar mit der geplanten jüdischen Staatlichkeit sympathisierten, trauten sich nicht, dafür zu stimmen, um ihre muslimische Minderheit nicht zu verärgern (Indien, China). Die arabischen Staaten lehnten die sich abzeichnende jüdische Staatlichkeit vehement ab und drohten sowohl mit einem Heiligen Krieg als auch der Vertreibung ihrer jüdischen Minderheit in einer Größenordnung von einer Million Menschen. Bei diesen Staaten handelte es sich aber, betont Morris, um Despotien und die Herrscher standen, obschon manche von ihnen sich mit der Existenz Israels durchaus hätten arrangieren können, unter dem Druck der „Straße“. Sie mussten demnach der Stimmung der Bevölkerung nachgeben, wollten sie nicht ihre eigene Herrschaft gefährden.
Als wesentlich für den späteren Erfolg der Juden im Bürgerkrieg sowie dem sich daran anschließenden Unabhängigkeitskrieg arbeitet Morris die Versäumnisse der arabischen Bevölkerung im Vorfeld heraus, welchen die gelungene Vorarbeit der jüdischen Gemeinde gegenüberstand. So fehlten auf der Seite der Palästinenser effektive eigene Verwaltungsstrukturen, es gab kein eigenes Steuersystem (dafür jede Menge Korruption), kein nationales Ethos und Selbstbewusstsein und keine organisierten militärischen Strukturen (da die Gesellschaft sehr zerstritten war). Die Juden beschreibt der Autor hingegen als (nach der Erfahrung des Holocaust) hoch motiviert und opferbereit, als auf einem hohen militärischen und intellektuellen Ausbildungsstand stehend, sie verfügten über ein gut ausgebildetes Schulsystem (nebenbei gesagt: seit 1925 existierte ihre Jerusalemer Universität), eigenes Steuersystem und Gewerkschaften und einen festen Einheitswillen. David Ben-Gurion, der Vorsitzende der „Jewish Agency“ und später der erste Ministerpräsident des Landes, war sich der Notwendigkeit der finanziellen und militärischen Vorbereitung des erwarteten Krieges früh bewusst. Daher schickte er 1947 die junge Politikerin Golda Meir in die USA, die in sehr kurzer Zeit 100 Millionen US-Dollar sammelte, womit jene Waffen gekauft werden konnten, die später den Ausschlag gaben.
In den Kapiteln drei und vier schildert Morris die beiden Phasen des arabisch-jüdischen Bürgerkriegs, der nach der UN-Teilungsresolution ausgebrochen war. Er nahm die Form von Anschlägen, Überfällen und Attentaten an, mit welchen die radikalen Araber ihre Ablehnung der jüdischen Staatlichkeit und zunehmend auch jeglicher jüdischer Existenz zeigen wollten. Befand sich der Jischuv bis April 1948 hierbei in der Defensive, so ging die Haganah, die vormalige jüdische Untergrundorganisation, die sich im Juli 1948 in die „Israeli Defense Forces“ umbenannte, danach in die Offensive über. Denn es wurde offensichtlich, dass ein Sieg über die Araber im Land die Voraussetzung für das Bestehen der Auseinandersetzung mit den arabischen Nachbarstaaten war. Diese Auseinandersetzung, die vielen Operationen, Waffenstillstandsabkommen und Überlegungen sowie militärischen Strategien breitet Morris sehr ausführlich in den Kapiteln 5-10 aus.
Als Gründe für den Erfolg des jungen jüdischen Staates führt Morris auf der arabischen Seite (Ägypten, Syrien, Jordanien, Irak) aus, dass diese Länder es nicht geschafft haben, eine ordentliche, zentralisierte Kriegsführung zu vereinbaren, sie führten keine ernsthaften nachrichtendienstlichen Arbeiten aus, ihre Waffen und Munitionsvorräte waren sehr knapp bemessen und von schlechter Qualität und ihre Logistik erwies sich als unzureichend. Die Realität ihrer Kriegsführung entsprach nicht ihrer hochtrabenden, aggressiven militaristischen und antijüdischen Rhetorik, so dass sie ihr erklärtes offizielles Ziel, die Beseitigung des jüdischen Staates, nicht erreichen konnten. Hierzu trug auch bei, dass manche dieser Länder (etwa Jordanien) mehr an ihren privaten Zielen interessiert waren (Eroberung des Westjordanlandes) als am gemeinsamen Kriegserfolg, während Syrien etwa das Erstarken Jordaniens zu verhindern trachtete. Israels Mobilisierung erwies sich im Laufe des Krieges zudem als erfolgreicher als die der arabischen Staaten. Sie verdeutlichte einmal mehr, dass es den Juden schlichtweg um das Überleben und die Verhinderung eines zweiten Holocaust ging, während die arabischen Soldaten Invasoren in einem fremden Land waren, das sie im Falle einer Niederlage problemlos wieder verlassen konnten.
Die Flucht und Vertreibung von etwa 750.000 Palästinensern im Zuge des Krieges und die von den jüdischen Soldaten verübten Massaker (z. B. in Deir Jasin oder Tantura) sind die Themen, die bis heute immer wieder kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Morris analysiert ausführlich vor allem das erste Thema und geht darauf in seinem Schlusswort noch einmal dezidiert ein. Er plädiert letztlich für eine nuancierte Erörterung der Problematik, die der komplexen Gemengelage der damaligen Vorgänge eher gerecht wird als der plakative Gebrauch von Schuldzuweisungen. Bereits in der Phase des Bürgerkriegs sei eine Flucht vor allem von wohlhabenden Arabern aus den Städten erfolgt. Der Anfang März 1948 entworfene „Plan D“ zielte vor allem auf einen Eroberungskrieg und den Umgang mit jenen Gebieten (Dörfer und Städte) ab, die bezwungen werden mussten und aus welchen die Bevölkerung vertrieben werden konnte (aber nicht musste). Der Plan überließ den jeweiligen Militärkommandeuren die Entscheidung, wie mit der eroberten Bevölkerung umgegangen werden sollte. Laut Morris ging es jedoch darum, die örtliche widerständige Bevölkerung in die arabischen Kernbereiche größerer Städte zu verweisen. Jedoch habe es keine allgemeinen Pläne zur generellen Vertreibung der arabischen Bevölkerung gegeben. Vor allem im Bürgerkrieg sei im Land eine Spirale der Gewalt und Gegengewalt entstanden und es sei auf beiden Seiten zu Massakern gekommen. Ein solches sei eben in Deir Jasin durch jüdische Kämpfer geschehen, auch wenn Morris die Zahl der dort Getöteten entgegen den kursierenden Gerüchten als viel geringer einschätzt (100-120 Personen).
Morris leugnet nicht, dass es im Laufe des Bürgerkriegs und des Krieges zu Vertreibungen gekommen war. Allerdings geht ein Großteil der Bevölkerungsbewegungen seines Erachtens auf den Schrecken zurück, den solche Massaker wie das in Deir Jasin ausgelöst haben. Auch betont er, dass die zionistische Führung sehr wohl die Vorteile erkannte, die darin lagen, dass ein Großteil der Araber das Land verlassen hatte, auch wenn sie keinen einschlägigen und generellen Plan diesbezüglich besaß. Morris verweist stattdessen auf die Ziele der arabischen Staaten, alle Juden des Landes zu verweisen und allenfalls jene zu dulden, die bereits 1917 (Balfour-Deklaration) im Land wohnten. Dementsprechend kam es im Laufe des Krieges wiederholt zu Vertreibungen jüdischer Einwohner und nach dem Krieg zum Ende aller jüdischen Gemeinden von Marokko bis Irak. Das 1948 entstandene Flüchtlingsproblem sei jedenfalls, so betont es der Historiker in seinem Schlusswort, bis heute virulent, was einmal auf die Weigerung Israels, die Flüchtlingen wieder ins Land zu lassen, zum anderen aber auch auf deren Nichtintegration und Segregation in den Nachbarländern zurückgeht. Zuletzt betont Morris zudem, welchen Risiken sich jene Herrscher aussetzen, die sich auf arabischer Seite für den Frieden mit Israel einsetzen – bis zum heutigen Tage.
Den Band leitet ein Interview ein, das Peter Kathmann, neben Johannes Bruns einer der Übersetzer, im Juli 2023 mit Benny Morris geführt hat. Darin rekapituliert Morris zum einen seine Hauptthesen, geht auf einige weitere Veröffentlichungen zum Thema ein und beschreibt die Schwierigkeit der Quellenlage und des Quellenzugangs vor allem auf arabischer Seite. Ein Vorwort des Antisemitismusforschers Jörg Rensmann bettet das Buch schließlich in die allgemeinen Zusammenhänge des globalen Antisemitismus ein und rühmt es aufgrund seiner Qualitäten als Standardwerk. Zuletzt sei das umfangreiche Nachwort Stephan Grigats erwähnt, eines Professors für „Theorien und Kritik des Antisemitismus“ an der Katholischen Hochschule NRW. Darin zeichnet Grigat die Geschichte Israels seit 1948 nach, geht auf die vielen internationalen Friedensbemühungen ein, die allesamt von der palästinensischen Seite abgelehnt wurden und betont zuletzt die Gefahr, die für Israel von Iran ausgeht. Etliche Karten, 32 zeitgenössische Aufnahmen, ein Abkürzungs- und ein Literaturverzeichnis runden das Buch ab.
Morris‘ Buch beeindruckt nicht nur durch die Fülle des sorgsam ausgebreiteten Materials, sondern insbesondere durch die behutsame Einführung in die Vorgeschichte des arabisch-israelischen Krieges, die Einbeziehung aller wichtigen Akteure (neben den Juden und den Palästinensern geht er auf die Sicht der Briten, der arabischen Nachbarstaaten und die UNO ein) und auch durch seine differenzierten Urteile. Die Darstellung ist das längst fällige Korrektiv zum erwähnten Buch Pappés, es ergänzt aber auch die bisherigen Darstellungen zur Entstehung Israels hervorragend (z. B. Tom Segev: Die ersten Israelis oder ders.: Es war einmal ein Palästina). Es sei daher vorbehaltlos all jenen empfohlen, die sich in die Entstehungsumstände Israels vertiefen wollen und sich über eine reine Militärgeschichte hinaus mit der Gedankenwelt der damaligen jüdischen und arabischen Akteure vertraut machen wollen. Es ist zu hoffen, dass diesem Werk bald Übersetzungen von weiteren Büchern von Benny Morris folgen werden (z. B. von Righteous victims: A History of the Zionist-Arab Conflict 1881-1999). Doch fehlen der Forschung wie auch dem interessierten Publikum auch Übertragungen wichtiger Quellen zum Thema („Plan Dalet“, die Tagebücher Ben Gurions usw.). Daher bleibt es zu hoffen, dass der Verlag Hentrich & Hentrich mit diesem Werk lediglich den Anfang einer sehr wichtigen und politisch-aufklärerisch nötigen Reihe gelegt hat.
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