Motive des Militärischen in Kafkas Erzähltexten

Seit Beginn des Ersten Weltkriegs

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Am 28. Juli 1914 erklärt Österreich Serbien den Krieg. Am 31. Juli schreibt Kafka in sein Tagebuch: „Ich habe keine Zeit. Es ist allgemeine Mobilisierung. […] Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.“ (T S. 543) Betont man, was nahe liegt, im letzten Satz „mein“, dann besagt er folgendes: ,Während Österreich um seine Selbsterhaltung kämpft, kämpfe ich um meine. Und meinen Kampf führe ich schreibend‘.

Als „Kampf“ hat Kafka sein literarisches Schreiben schon vor 1914 begriffen und die Anstrengungen, sich in seiner Schriftstellerexistenz zu behaupten, in den Beschreibungen eines Kampfes wiederholt zum Thema gemacht. Seit dem August 1914 bekommt die Metaphorik des Kampfes jedoch zusätzliches Gewicht. Und zusammen mit dem Ersten Weltkrieg beginnt für ihn eine Phase neuer literarischer Produktivität. Am Tag nach der Kriegserklärung, am 29. Juli, verfasst er literarische Entwürfe, die Vorstufen zu dem Roman Der Prozess bilden. Und neben der Arbeit an dem Roman, die er im Januar 1915 abbricht, schreibt er in einem Urlaub zwischen dem 5. und 18. Oktober die Erzählung In der Strafkolonie und das von Max Brod später so genannte Kapitel „Das Naturtheater von Oklahoma“ aus dem Amerika-Roman Der Verschollene. Es scheint, als habe der Krieg den Horizont von Kafkas Schreiben erheblich erweitert. Zwar bleiben die alten Konflikt- und Handlungsmuster (Auflehnung und Unterwerfung, Schuld und Strafe) bestehen, aber an die Stelle des Vaters und der Familie tritt zu weiten Teilen die verästelte Macht von Richtern, Führern, Personalchefs, Offizieren, Kommandanten oder Aufsehern, von Kanzleien, Akten oder Maschinen. Und das weit über das Kriegsende hinaus: Eines der im Herbst 1920 entstandenen Erzählfragmente handelt von „Truppenaushebungen, die oft nötig sind, denn die Grenzkämpfe hören niemals auf“. (NSF II S. 273) Ein anderes von einem kaiserlichen Oberst, der mit wenigen Soldaten ein Bergstädtchen beherrscht. Motive des Militärischen nehmen auch spätere Texte auf. Im Sommer 1922 erzählt Kafka von drei Soldaten, die einen Zaun verteidigen – „oder vielmehr den ganzen Hof, der von ihm umschlossen war.“ (NSF II S. 495) In dem Hof sitzen zeichnende und schreibende Männer. Einer zeichnet einen Plan des Hofes, nach dem ein anderer, der Kommandant, „die Anordnung für die Verteidigung“ (NSF II S. 495) verfasst.

Konkrete Bezüge zum Geschehen des Ersten Weltkrieges scheinen diese Werke kaum zu haben. Aber es fällt doch auf, wie sich Motive und Metaphern des Militärischen in seinen Texten häufen. Die geplante Exekution eines Soldaten „wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten“ (DzL S. 203) und das militärische Personal (ein Offizier, ein weiterer Soldat, ein abwesender Kommandant) verweisen in der Erzählung In der Strafkolonie auf Kriegsverhältnisse. Der Ort des Geschehens ist zwar eine Insel, die weit entfernt vom europäischen Schauplatz des Krieges liegt. Doch die Militärgerichtsbarkeit und die Regression zu archaischen Opferritualen lassen sich durchaus auf die weitgehende Suspendierung ziviler Verhältnisse nach Beginn des Krieges beziehen. Dass die Militärzensur offeneren Bezugnahmen Kafkas auf gegenwärtige Kriegsverhältnisse entgegenstand, ist vermutet worden[1] und durch die Befürchtung Kafkas gedeckt, eine geplante Lesung seiner Erzählung in München könnte durch die Kriegszensur verhindert werden. „Die Genehmigung ist allerdings noch nicht ganz gesichert“, schrieb er an Felice Bauer, „die Manuskripte sind ja erst Montag dort angekommen. Es macht mich noch immer nervös und um die Wahrheit zu sagen, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß es genehmigt wird, so unschuldig es in seinem Wesen ist.“ (B S. 272) Bezieht man die Szenarien in der fernen Strafkolonie auf die nahen Kriegsszenarien, liegt es nahe, das ambivalente Verhalten des Reisenden, der mit dem Offizier darin übereinstimmt, „daß hier besondere Maßregeln notwendig waren und daß man bis zum letzten militärisch vorgehen mußte“ (DzL S. 214), mit Kafkas ähnlich ambivalenten Äußerungen über das Kriegsgeschehen zu vergleichen.

Die These, dass die Problematisierung von naheliegenden Kriegsverhältnissen an einen fernen, wenig verdächtigen Ort[2] verlegt wird, um Zensurmaßnahmen zu unterlaufen, verkennt jedoch eine für Kafkas Schreiben konstitutive literarische Technik. Sie mag zwar zur Verhinderung von Zensur beigetragen haben, Kafka hatte sie aber schon vor Beginn des Krieges ausgebildet. Ich meine die Technik indirekter, verschlüsselter, andeutender Bezugnahmen zu den persönlichen und den überpersönlichen, allgemeineren Peinlichkeiten seiner Zeit (um Kafkas berühmte Formulierung in einem Brief an seinen Verleger aufzugreifen; B S. 253). Es ist eine Technik der befremdenden Darstellung von fiktiven Szenarien, die mehr oder weniger bewusst darauf abzielt und oft auch den tatsächlichen Effekt hat, im Leser vorhandene und vertraute Vorstellungsmuster über partiell ähnliche Szenarien zu evozieren und diese mental gespeicherten ,scripts‘ (wie man in der Terminologie der ,cognitive poetics’ sagen könnte)[3] zugleich zu irritieren. Zu den Effekten gehören Überblendungen unterschiedlicher Szenarien, literarisch, mythologisch oder auch religiös vermittelter, familiärer, beruflicher oder auch politischer Szenarien von Liebesbeziehungskonflikten oder literarischer Schreibakte.

„Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung“. – Der eingangs zitierte Satz, der das Kriegsszenario der allgemeinen Mobilisierung mit der inneren Mobilisierung zum Schreiben als Kampf um die Selbstbehauptung überblendet, oder die Rede von der Peinlichkeit seiner Erzählung In der Strafkolonie und der Peinlichkeit „unsere[r] allgemeine[n] und meine[r] besondere[n] Zeit“ (B S. 253) sind dabei nur Beispiele für das, was die literarischen Texte elaborierter vorführen. Vorstellungen von damaligen Kriegsszenarien evozieren sie auch da, wo Vokabeln wie Feind, Gegner, Sieg, Niederlage, Kampf, Verteidigung, Heer, Truppe und dergleichen ohne direkten Bezug zu Szenarien des Ersten Weltkriegs verwendet werden. Mit solchen Vokabeln werden dem Leser jedoch Informationen angeboten, die ihn dazu anleiten, auch andere Informationen des Textes mit damaligen Wissensbeständen über Kriegsszenarien zu ergänzen.

Wenn man dabei beispielsweise die im Frühjahr 1917 geschriebenen Erzählungen Ein altes Blatt und Beim Bau der chinesischen Mauer auf die Kriegssituation bezieht, so fällt auf, dass hier die Schilderung der Verteidigungsanstrengungen, mit denen das Kaiserreich vor den wilden Nomaden zu schützen ist, frei von jedem imperialen Machtanspruch und nationalem Überschwang bleibt. „Es ist“, so beginnt Ein altes Blatt, „als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unsers Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind unserer Arbeit nachgegangen; die Ereignisse der letzten Zeit machen uns aber Sorgen.“ (DzL S. 263) Das fragmentarische Bauwerk der chinesischen Mauer, von „Arbeitsheere[n]“ errichtet, ist „zum Schutz gegen die Nordvölker gedacht.“ (NSF I S. 337f.)

Das Bild des Baus fungiert bei Kafka wiederholt zur Überblendung von zwei Szenarien: dem des literarischen Schreibens bzw. allgemeiner der Produktion von Kunst und dem Szenario des Krieges. Beide werden als Szenarien der Verteidigung und Selbsterhaltung vorgestellt. Eines der markantesten Beispiele für solche Überblendungen ist das späte, im Winter 1923/24, ein halbes Jahr vor seinem Tod entstandene Erzählfragment Der Bau, eine von Kafkas Tiergeschichten, hier die Geschichte eines Dachses oder Maulwurfs, der sich mit seinem unterirdischen Bau gegen reale oder imaginierte Feinde absichert. Der Bau hat einen getarnten Eingang und ein offen sichtbares Loch, das nur einen Eingang vortäuscht und in Wirklichkeit in eine Sackgasse führt. Zusätzlich hat sich das im Bau hausende Tier mit der labyrinthischen Konstruktion von Gängen vor feindlichen Eindringlingen zu schützen versucht. Der Feind ist nicht sichtbar, aber er wird hörbar: Ein zischendes Geräusch verweist auf ihn. Auf der Suche nach dem Feind lassen sich bald die Gänge des eigenen Baus von möglichen Gängen des feindlichen Tieres nicht mehr unterscheiden. Rainer Stach hat die Erzählung unter anderem auf das Szenario des tuberkulosekranken Kafka bezogen: „Das Geräusch des eigenen, allmählich kürzer werdenden Atems, dieses Lebenszeichen, das immer schon da war, auf das aber erst der Kranke angstvoll horcht, dieses Geräusch ,ist‘ der Gegner“.[4] An anderer Stelle interpretiert Stach die angestrengte Bautätigkeit als die „emsige und niemals vollendbare Arbeit am eigenen Selbst, die jeder zu leisten hat, der sein Leben unter den Primat der Sicherheit stellt“.[5]

Der Bau enthält deutliche Hinweise, dass das hier beschriebene Verhältnis eines Tieres zu seinem Bau zugleich auch als Bild für die Beziehung des Autors zu seinem Werk gelesen werden kann. Und insofern ist es berechtigt, wenn Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrer vielbeachteten Kafka-Studie von 1975 auf diese Erzählung zurückgreifen, um die Möglichkeiten des Zugangs zu Kafkas Werk zu reflektieren: „Wie findet man Zugang zu Kafkas Werk? Es ist ein Rhizom, ein Bau. […] Der Bau in der gleichnamigen Erzählung scheint zwar nur einen Eingang zu haben; allenfalls denkt das Tier an die Möglichkeit eines zweiten, bloß zur Überwachung. Aber das ist eine Falle, aufgestellt vom Tier und von Kafka selbst; die ganze Beschreibung des Baus dient nur zur Täuschung des Feindes“.[6]

Textinterpreten erscheinen in dieser Perspektive mit ihrem Verlangen nach Sinnzusammenhang, in dem sich alle Teile zu einem geordneten Ganzen fügen, als Vergewaltiger des vieldeutigen, labyrinthischen Werkes, als Feinde des Textes und seines Autors. Das gewaltsame Eindringen eines Interpreten in den kunstvollen Bau zerstört diesen und bedroht die Integrität des Erbauers. Der Autor hat demnach sein Werk so konstruiert, dass es den zudringlichen Gegner, den Interpreten, systematisch in die Irre führt.

Dass die Erzählung zugleich die Vorstellung eines für den Ersten Weltkrieg prototypischen Kriegsszenarios evoziert, ist inzwischen mehrfach bemerkt und ausgeführt worden. „Maulwurfskrieg“ wurden von den Soldaten im Ersten Weltkrieg die Minenkriege unter der Erde genannt. Vor etlichen Jahren hat Wolf Kittler in Kafkas spätem Erzählfragment Der Bau eine Kontrafaktur von Bernd Kellermanns Zeitungsbericht Der Krieg unter der Erde entdeckt und in Kafkas Darstellung eines maulwurfähnlichen Tieres, das sich mit seinem Bau vor einem „äußeren Feind“ und einem nie gesehenen „im Innern der Erde“ schützen möchte, Szenarien der Kämpfe in Schützengräben während des Ersten Weltkrieges wiedererkannt.[7] Kafka kannte zwar selbst den Grabenkrieg nicht, hatte aber etliches darüber gelesen und gehört. Am 4. November 1914 schreibt er in einer Tagebuchnotiz über die Erzählung seines auf Fronturlaub heimgekehrten Schwagers Josef Pollak: „Pepa zurück. Schreiend, aufgeregt, außer Rand und Band. Geschichte vom Maulwurf, der im Schützengraben unter ihm bohrte und den er für ein göttliches Zeichen ansah, von dort wegzurücken. Kaum war er fort, traf ein Schuß einen Soldaten, der ihm nachgekrochen war und sich jetzt über dem Maulwurf befand. – Sein Hauptmann. Man sah deutlich, wie er gefangen genommen wurde. Am nächsten Tag fand man ihn aber nackt von Bajonetten durchbohrt, im Wald.“ (T S. 697) Maulwürfe und Soldaten gemeinsam unter der Erde, bohrend, grabend, Geräusche produzierend!

Vor der Stadt Prag konnte Kafka 1915 eine Nachbildung eines Schützengrabens besuchen. Am 19. November 1915 meldete das Prager Tagblatt: „Der Prager Schützengraben steht seit seiner Wiedereröffnung im Mittelpunkte des regsten Interesses des Publikums. Besonders die Sonntage führen Tausende von Besuchern auf die Kaiserinsel zur Besichtigung der großzügigen militärischen Anlage, welche jedem Besucher soviel des Interessanten und Belehrenden bietet“.[8] In einer Tagebuchnotiz vom 6.11.1915 hatte Kafka den „Anblick der Ameisenbewegung des Publikums vor dem Schützengraben und in ihm“ (T S. 772) festgehalten.

Wolf Kittler nahm die Geschichte Josef Pollaks zum Anlass, schon in dem Fabelwesen des Riesenmaulwurfs, von dem die im Dezember 1914 niedergeschriebene Erzählung Der Dorfschullehrer handelt, „den Grabenkämpfer des Ersten Weltkriegs“ zu identifizieren. Überzeugender sind allerdings seine Ausführungen über die Ähnlichkeiten zwischen Kafkas Erzählung Der Bau und Kellermanns besagtem Bericht über den Krieg unter der Erde. Er wurde im Juli 1915 im Berliner Tageblatt und gleichzeitig auch einem Buch veröffentlicht, das sich in Kafkas Bibliothek befand. Julia Encke hat in ihrer Dissertation Augenblick der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914-1934 die Anregungen Kittlers aufgenommen und auf erhellende Weise ergänzt.[9] Eine ihrer Hauptgesichtspunkte ist dabei, wie die Technik der Grabenkämpfe im Ersten Weltkrieg vor allem den Gehörsinn herausfordert, mit dem der Feind geortet werden muss.

Die unterschiedlichen Lesarten der Bau-Geschichte, wie sie hier skizziert wurden, schließen einander nicht aus. Sie entsprechen vielmehr Kafkas Technik der Überblendung unterschiedlicher Szenarien. Eine dieser Überblendungen, die sich damals unter Schriftstellen, etwa bei Thomas Mann[10], großer Beliebtheit erfreute, ist die von Krieg und Kunst, der Arbeit des Künstlers und der des Soldaten. Sie findet sich ansatzweise auch in der Reportage von Kellermann, wenn dieser schreibt: „Peinlich genau werden die Kisten mit der Sprengladung aufgebaut, mit Sprengkapseln versehen, aber währenddessen wird ohne Pause das Wühlen und Graben fortgesetzt, und er, der die Sache macht, muß ein Künstler sein, soll das Werk gelingen“.[11]

Die Überblendung von Szenarien der Kriegs- und Kunstarbeit wiederholt sich in Kafkas Texten, wo sie Motive des Militärischen einsetzen, immer wieder. Dominant ist dabei das Motiv der Verteidigung. Die von Kafka erzählten Kriegsszenarien sind in der Regel an Figuren gebunden, die defensiv agieren, die um Selbsterhaltung kämpfen. Das wohl früheste Erzählfragment, das nach dem Kriegsbeginn solche Überblendungen vornimmt, macht dabei allerdings eine Ausnahme und unterscheidet sich von dem spätesten, Der Bau, erheblich. Ich meine jenes Kapitel aus dem Romanfragment Der Verschollene, das Kafka im Oktober 1914 schrieb, das Max Brod mit „Das Naturtheater von Oklahoma“ überschrieb und irrtümlich als das den Amerika-Roman abschließende Kapitel ausgab. Hier geht es noch nicht um einzelkämpferische Aktionen zur Selbstverteidigung, sondern um anderes.

Vor etlichen Jahren habe ich mich selbst mit den Bezügen dieses Kapitels zu Szenarien des Ersten Weltkriegs eingehender befasst[12] und fasse hier die Ergebnisse mit einer etwas anderen Perspektivierung zusammen.

Vorstellungen von Kriegsszenarien vermag das Kapitel zunächst durch die Penetranz zu evozieren, mit der es das Wort „Truppe“ verwendet. Und obwohl dieses nur das ebenfalls häufig gebrauchte Wort „Werbetruppe“ abkürzt und zugleich eine Theatertruppe meint, ist es nicht abwegig, es auch im militärischen Sinn zu lesen. Die Bewerber und die für das Theater Aufgenommenen werden jedenfalls entsprechenden Prinzipien der Ordnung und des Gehorsams unterworfen. Und militärischen Floskeln entspricht es, wenn Karl nach seiner Aufnahme aufgefordert wird: „Machen Sie unserer Werbetruppe Ehre!“ (V S. 409)

Bemerkenswert ist der permanente Gebrauch des Wortes „Truppe“ auch deshalb, weil er sich in dem Text, aus dem Kafka nachweislich zahlreiche Anregungen und sogar einzelne Formulierungen übernommen hat, Arthur Holitschers Reisebericht Amerika heute und morgen, nur beiläufig findet.[13] Die Übereinstimmungen zwischen Kafkas Romankapitel und Holitschers Reisebericht sind insgesamt so frappierend, dass sie den Blick der Forschung auf andere, kaum weniger naheliegende Übereinstimmungen vollkommen versperrt haben: auf die mit der Mobilmachungsszenerie zu Beginn des Ersten Weltkriegs.

Welche sozialintegrative Kraft die Mobilmachung und der Kriegsbeginn in Deutschland und Österreich entfalteten, ist bekannt. Die rückblickende Lektüre jener beiden Prager Tageszeitungen, die Kafka regelmäßig las, vermittelt ein anschauliches Bild von der Integrationsmacht der Mobilmachung auch in Prag. Berichtet die Bohemia am 30. Juli von dem Taumel der Bevölkerung, „als das kaiserliche Manifest an den Straßenecken befestigt wurde“, von Damen, Marktweibern, kleinen Ladenmädchen, Kaufleuten und Offizieren, die „den Appell ihres Kaisers lasen“, und von dem Gefühl aller „für die grandiose Werbekraft der Worte“[14], so sieht Karl Rossmann „an einer Straßenecke“ (V S. 387) das Plakat der Werbetruppe, vor dem sich viele Leute versammeln, und zumindest auf Karl übt es große Wirkung aus. Die Mobilmachung umfasste nicht nur die für den Militärdienst tauglichen Männer, sondern suggerierte, jeden brauchen zu können. Die Bohemia wirbt in zahlreichen Aufrufen um Männer, Frauen, Studenten und Schüler, die alternativen Kriegsdienst leisten sollen: „Kommilitonen! Keiner zögere, sich in dieser oder jener Form dem Vaterland zur Verfügung zu stellen. Keiner säume, sich zu melden!“[15] In der Sonderausgabe am 30. Juli steht der Appell: „Jeder sei opferwillig, fest, treu und schaffensbereit auf seinem Platz!“[16] In Kafkas Der Verschollene wirbt das Theater mit dem dann mehrfach wiederholten und variierten Satz: „Wir sind das Teater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort!“ (V S. 387) Wie die Mobilmachung keineswegs nur um Soldaten warb, sucht die Werbetruppe für das Theater in Oklahama nicht bloß Schauspieler. Karl selbst wird als „technischer Arbeiter“ aufgenommen. Und auch ein alter Bekannter von ihm war, wie er verwundert bemerkt, „nicht als Schauspieler sondern als Liftjunge aufgenommen, das Teater von Oklahama schien wirklich jeden brauchen zu können.“ (V S. 414)

Im Prager Tagblatt vom 6. August ruft die Wiener „Lese- und Redehalle deutscher Studenten“ „jedes Mitglied“ auf, „seine vollen Kräfte freiwillig in den Dienst des Vaterlandes zu stellen, sei es durch Mithilfe im Sanitätswesen, sei es durch Ausfüllen der Lücken im Verwaltungsdienst, sei es auf andere Art“.[17] Darunter steht ein Aufruf an Bauingenieure, sich „in den Dienst des Vaterlandes“ zu stellen. In Kafkas Roman hat die Aufnahmestelle für das Theater zahlreiche Kanzleien eingerichtet, und zwar für jede Berufsgruppe eine gesonderte. Die „erste Kanzlei ist […] für Ingenieure bestimmt“ (V S. 399), eine andere „für Leute mit technischen Kenntnissen“ (V S. 400), und es gibt weitere für Schüler. Die Gründung eines „Schülerhilfskorps“, so meldet die Bohemia am 9. August, habe den Zweck, „Schüler und Schülerinnen, die das 11. Lebensjahr zurückgelegt haben, während der Kriegszeit zu freiwilligen Dienstleistungen im Interesse der Allgemeinheit heranzuziehen“[18]: zu Botendiensten bis hin zu Feld- und Gartenarbeiten.

In Clayton findet Karl in Kafkas Roman schließlich Aufnahme in der „Kanzlei für europäische Mittelschüler“. (V S. 401) In Prag berichtet die Bohemia am 30. Juli: „Auch viele Studenten, besonders Mittelschüler der obersten Klassen, haben sich beim Bürgermeisteramte zum freiwilligen Sanitätsdienste angeboten“.[19]

Für die strukturellen, sprachlichen und inhaltlichen Bezüge der fiktiven Werbekampagne für das Theater in Amerika zur realen Mobilmachungsszenerie in Prag ließen sich viele weitere Anhaltspunkte anführen: der beiden Szenerien gemeinsame Stellenwert von Verben wie ,aufnehmen‘ und vor allem ,melden‘; der hier wie dort exzessive Umgang mit dem Epitheton ,groß‘ (der 1914 verbeiteten Rede von der „großen Zeit“ oder vom „großen Krieg“ entspricht im Roman die Rede vom „großen Theater“); der Einsatz von Musik[20] und einschlägigen Instrumenten (Trompeten und Trommeln); die Verflechtung von (Kriegs)Propaganda- und Werbesprache[21], bei der sich die Grenzen zwischen Lockungen, Aufforderungen, Befehlen und Strafandrohungen verwischen[22]; die strikten Terminsetzungen; die sakrale Stilisierung der Kriegsereignisse in religiöse, oft apokalyptische Dimensionen[23]; die damit einhergehende Mischung von Heilserwartungen (die Trompete blasenden Frauen sind als Engel verkleidet) und Unheilsbefürchtungen (die trommelnden Männer als Teufel); die Truppentransporte mit der Eisenbahn oder vor allem auch der gigantische bürokratische Aufwand.

Das Bild einer die Mobilisierung perfekt organisierenden Bürokratie, das die Prager Zeitungen vermitteln, hat im bürokratischen Apparat der Aufnahmestelle für das Theater mit seinen zahllosen Kanzleien und umfangreichen Akten zwar Entsprechungen, doch wie alle anderen möglichen Realitätsbezüge wird auch dieser ins Groteske verfremdet. Einen Zugang zum Verständnis der ,Tendenz‘ dieser Verfremdung einer damals allen vertrauten Szenerie eröffnet vielleicht am ehesten die Theatermetaphorik des Roman-Kapitels.

Das ,Theater‘ metaphorisch auf den Ersten Weltkrieg und die Mobilmachungsszenerie zu beziehen entspricht dem Sachverhalt, dass die Assoziation von Theater und Krieg zur Zeit der Textenstehung nahelag. Dem Theater wird sowohl in der Bohemia als auch im Prager Tagblatt im Rahmen der Kriegsberichterstattung ein erstaunlich hoher Stellenwert zugeschrieben. In welchem Ausmaß das Theater nach dem August 1914 zum Ort mentaler Mobilmachung umfunktioniert wurde, lässt sich etlichen Berichten entnehmen.

Den Krieg darüber hinaus metaphorisch als „Theater“ oder „Drama“ zu bezeichnen war damals ebenfalls nichts Ungewöhnliches. In zwei Beiträgen zur damals geführten Debatte über die Beziehung zwischen Krieg und Kunst verwendete Oskar Bie, der Redakteur der von Kafka regelmäßig gelesenen Neuen Rundschau, die Metapher „Kriegstheater“.[24] Und ein Bekannter Kafkas, der Wiener Publizist Anton Kuh, veröffentlicht im Prager Tagblatt vom 11. August eine Glosse über den Krieg, die mit dem Satz beginnt: „Ein Traumtheater ist die Welt geworden“.[25]

Dass das „Teater von Oklahama“ als ein suspektes Unternehmen dargestellt ist, gehört inzwischen mit Recht fast schon zum Konsens der Kafka-Forschung. Karls dringender Wunsch, von dem Theater aufgenommen zu werden, ist zwar größer als sein Zweifel an dem Unternehmen, doch der Text setzt seine Skepsis für den Leser nicht außer Kraft. Dass „alles Großsprecherische, was auf dem Plakate stand, eine Lüge sein“ (V S. 388) könnte, dass „die Lockmittel der Werbetruppe gerade wegen ihrer Großartigkeit“ (V S. 396) unglaubwürdig erscheinen könnten, dass von der Werbetruppe „ein großer Mißbrauch“ (V S. 393) mit den Musikinstrumenten getrieben wird (vielleicht als Kritik am Missbrauch der Kunst für die Kriegspropaganda zu lesen), dass die schöne und sehr kostbare „Ausstattung“ (V S. 393) mit Kostümen wie überhaupt der „Aufwand an Engeln und Teufeln“ mehr abschrecken als anziehen, dass der ganze ästhetische, technische und bürokratische Überfluss keine solide ökonomische Basis haben könnte (V S. 395) und dass auf dem Bild von der Theaterloge des Präsidenten der Vereinigten Staaten alles „so selbstherrlich“ (V S. 413) aussieht, diese Skepsis erscheint durchaus berechtigt. Dass hier mit Lockungen und Drohungen, Engeln und Teufeln, Pseudoästhetik und Scheinbürokratie für ein gigantisches Betrugsunternehmen geworben wird, das alle brauchen kann, doch vielleicht alle missbrauchen wird, legt der Text als Möglichkeit durchaus nahe.

Die ganze Werbeaktion und das ganze Unternehmen sind, so gesehen, in der Tat ein ,großes Theater‘ im metaphorischen und kritischen Sinn. Dem entspricht, was der Autor im September 1915 über das unglückliche Ende seines ,Helden‘ notierte: „Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen.“ (T S. 757)

Es ist erstaunlich, dass selbst diejenigen Kafka-Forscher, die den bedrohlichen Charakter des Theaters hervorgehoben haben, so blind gegenüber der historischen Situation geblieben sind, in der der Text entstanden ist. Der „Transport“ der für die „Truppe“ neu Gewonnenen, mit dem Kafkas Romanfragment abbricht, wird von einem mit der späteren Deportation der Juden assoziiert. Die Beschreibung der Zugfahrt verdüstert sich im letzten Absatz in der Tat in einer Weise, die unheimlich und bedrohlich wirkt. „Bläulichschwarze Steinmassen“ nähern sich dem Zug, „dunkle schmale zerrissene Täler“ öffnen sich, und breite Bergströme „waren so nah daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte.“ (V S. 419) Doch statt Kafkas Werbe- und Theatertruppe mit der „Hitlerarmee“[26] zu assoziieren, läge die Assoziation mit den Armeen der beiden Kaiserreiche historisch sehr viel näher. Denn von Truppentransporten berichten die Zeitungen in den Wochen der Mobilmachung ständig. Im Militärzug lautet die Überschrift eines Feuilletonartikels im Prager Tagblatt vom 4. August. Eine Glosse vom 27. September 1914, der Verfasser ist Ernst von Wolzogen, beginnt so: „Das Unheimlichste an diesem Kriege ist die Heimlichkeit, mit der er geführt wird. Unsere Söhne, Brüder, Gatten und Väter besteigen den Zug – wir wissen nicht, wohin er sie trägt. Unsere Angehörigen dürfen uns nicht schreiben, wo sie sind, und wenn wir ihren Namen in den Verlustlisten lesen, so ahnen wir nicht, wo sie begraben liegen, in welcher Schlacht sie ihre Verwundung empfingen.“[27] Etwas von solcher Unheimlichkeit bekommt auch der Truppentransport in Kafkas Roman. Dass die theatralischen Verheißungen vom Sommer 1914 in tödliches Grauen umschlagen, legt sein Text nahe.

Anmerkungen

Der Beitrag ist die etwas modifizierte Fassung meines Vortrags bei einer Kafka-Tagung 2010 in Oxford, der zwei Jahe später veröffentlicht wurde in Manfred Engel / Ritchie Robertson (Hg.): Kafka. Prag und der Erste Weltkrieg / Prague and the First World War. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2012. S. 173-183.

Die im Text mit Abkürzungen belegten Zitate aus Kafkas Schriften sind entnommen aus

1. Franz Kafka: Schriften Tagbücher. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2002.

T = Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley.

NSF I = Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. von Malcolm Pasley.

NSF II = Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit.

DzL = Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann.

V = Der Verschollene. Hg. von Jost Schillemeit.

2. Franz Kafka: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Gerhard Neumann, Malcolm Pasley, Jost Schillemeit und Gerhard Kurz. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2005.

B = Briefe April 1914-1917. Hg. von Hans-Gerd Koch.

[1] Ulrich Schmidt: Von der ,Peinlichkeit‘ der Zeit. Kafkas Erzählung In der Strafkolonie. In: JDSG 28 (1984), S. 407-446.

[2] Vgl. U. Schmidt (Anm. 1), S. 411.

[3] Vgl. den Überblick in Tilmann Köppe und Simone Winko: Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft. In: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart 2007, S. 285-371; hier S. 332-336.

[4] Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt a.M. 2008, S. 592.

[5] R. Stach (Anm. 4), S. 33.

[6] Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M. 1976, S. 7.

[7] Wolf Kittler: Grabenkrieg – Nervenkrieg – Medienkrieg. Franz Kafka und der 1. Weltkrieg. In: Jochen Hörisch/Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870-1920. München 1990, S. 289-309.

[8] Prager Tageblatt, Morgenausgabe, 19.11.1915, S. 5.

[9] Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne 1914-1934. München 2006.

[10] Zuerst in Thomas Mann: Gedanken im Krieg. In: Die neue Rundschau 25 (1914), H.11 (November), S. 1471-1484.

[11] Zit. n. W. Kittler (Anm. 7), S. 295.

[12] Thomas Anz: Kafka, der Krieg und das größte Theater der Welt. In: Neue Rundschau 107 (1996) H. 3, S. 131-143. [Erweiterte Fassung in: Uwe Schneider/Andreas Schumann (Hg.): „Krieg der Geister“. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Würzburg 2000, S. 247-262.]

[13] Arthur Holitscher, Amerika heute und morgen. Reiseerlebnisse. Berlin 5. Aufl. 1913. Ähnlich wie Kafka verwendet Holitscher das Wort „Truppen“ bezogen auf das amerikanische Theater (siehe S. 413f.).

[14] Bohemia Nr. 207, Morgenausgabe, 30.7.1914, S. 9.

[15] Bohemia Nr. 209, Morgenausgabe (3. Aufl.), 1.8.1914, S. 6.

[16] Bohemia Nr. 207, Morgenausgabe, 30.7.1914, S. 4.

[17] Prager Tagblatt, Abendausgabe, 6.8.1914, S. 6.

[18] Bohemia, Morgenausgabe, 9.8.1914, S. 2.

[19] Bohemia Nr. 207, Abendausgabe (2. Aufl. nach der Konfiskation), 30.7.1914, S. 3.

[20] Aus Komotau berichtet die Bohemia am 30. Juli (Erste Sonderausgabe, S. 3): „Seit der Mobilisierung gleicht unsere Stadt einem Kriegslager. […] Seit mehreren Tagen spielen Musikkapellen auf dem Marktplatze“.

[21] Vgl. dazu auch den Regensburger Ausstellungskatalog von Hermann Altmann u.a., Kriegs­öffentlichkeit und Kriegserlebnis. Eine Ausstellung zum 1. Weltkrieg. Regensburg 1978; hier den Abschnitt „Reklame“, S. 98-101.

[22] „Verflucht sei wer uns nicht glaubt“ (V S. 387), steht auf dem Werbeplakat; und Karl sagt zum Personalchef der Truppe: „ich habe das Plakat Ihrer Gesellschaft gelesen und melde mich wie es dort verlangt wird.“ (V S. 396; Hervorhebung von Th. A.)

[23] Vgl. H. Altmann (Anm. 21); hier der Abschnitt „Kirche, Staat und Tod“, S. 76-97. Weiterhin Klaus Vondung, Von Vernichtungslust und Untergangsangst. Nationalismus, Krieg, Apokalypse. In: Rolf Grimminger u.a., Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 232-256.

[24] Oskar Bie, Kriegskunst. In: Neue Rundschau 25 (1914), H.10, S. 1466. Siehe auch Oskar Bie, Krieg, Kunst, Menschen. In: Die neue Rundschau 25 (1914), H.9, S. 1305-1308; hier S. 1306.

[25] Prager Tagblatt, Morgenausgabe, 11.8.1914, S. 2.

[26] Horst Seferens, Das „Wunder der Integration“. Zur Funktion des „großen Teaters von Oklahama“ in Kafkas Romanfragment „Der Verschollene“. In: ZfdPh 111 (1992), S. 577-593; hier S. 590.

[27] Prager Tagblatt, Morgenausgabe, 27.9.1914, S. 2.