In einer widernatürlichen Gleichgültigkeit gefangen
Inès Bayard legt in ihrem Roman die Fährten zu einem surrealistischen „Steglitz“
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas an dem Werk von Inès Bayar (erschienen 2022 bei Edition Albin Michel in Paris) direkt ins Auge fällt, ist der ungewöhnliche Titel Steglitz. Es handelt sich dabei in der Tat um das gutbürgerliche Viertel im Südwesten Berlins; es ist nicht Mitte oder der Prenzlberg, sondern Steglitz, das bis auf wenige Ausnahmen, man denke etwa an Hans-Josef Ortheils Die Berlinreise oder Ulrich Treichels Menschenflug, sonst eher nicht zum Gegenstand eines Berlin-Romans gemacht wird. Und dann stellt sich darüber hinaus noch die Frage, warum der Kiez ausgerechnet zum Thema eines Werks der französischen Gegenwartsliteratur gemacht wird.
Die Antwort auf die Frage lässt sich nicht einfach mit dem biografischen Hinweis abtun, dass die Autorin, die unter einem Pseudonym schreibt, aber durch ihr Bild im Einband durchaus transparent ist, selbst in dem Viertel lebt, das von ihr im Roman zwar kritisch, aber insgesamt doch liebevoll beschrieben wird. In Anlehnung an Günter Grass‘ Roman Hundejahre könnte man sagen: „Steglitz war so groß und so klein, dass alles, was in Steglitz ereignet oder ereignen könnte, sich auch in der Welt ereignen könnte.” Dieses Viertel bildet im Werk einen eigenen Mikrokosmos, der überaus detailliert beschrieben wird. Darüber hinaus findet sich im Werk eine Vermischung von realistischer Schilderung und surrealistischen Elementen, wie z. B. der Beschreibung von Träumen, wobei vielfach offengelassen wird, was Realität und was Erinnerung oder Assoziation ist. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass Inés Bayards Roman – oder sollte man besser sagen Novelle – in der Gegend spielt, wo Franz Kafka in der Grunewaldstraße 13 eine seiner letzten Wohnstätten auf dieser Erde fand.
Die realistische Darstellung besteht nun darin, dass sie sich sehr genau der Straßennamen bedient und diese sehr präzise beschreibt. Auf diese Weise entdeckt die Erzählerin in dem großbürgerlichen Berliner Viertel in jeder Straße eine andere eigene Welt:
Hinter der langen Reihe von Eingangstoren besaß jedes der Anwesen einen eigenen Garten. Manche waren mit blinkenden Dekorationen geschmückt, deren Funkeln vom weißen Licht durchtränkten Himmel geschluckt wurde. Nur die Kerzenflammen der Weihnachtspyramiden zwischen den Vorhängen der wohlig warmen Heime leisteten noch Widerstand.
Auf der anderen Seite, der surrealistischen Ebene, durchzieht den Roman eine Art von Dunkelheit und Rätselhaftigkeit, etwa in der Art und Weise, wie die meisten Figuren eingeführt werden. Im Grunde dreht sich der Plot um die Geschichte einer Familie: Rosa, der Mutter, Christian, des Vaters, Émile, des Bruders, und der Protagonistin Leni, aus deren Sicht, trotz allwissendem Erzähler, die Geschichte geschildert wird.
Leni lebt in sehr wohlhabenden Verhältnissen, sie ist die Frau des Architekten Ivan Müller, und wird im ersten Teil vorwiegend als seine Frau, als Frau ohne eigene Geschichte, dargestellt. Was auch an Henrik Ibsens Nora oder Ein Puppenheim erinnert, ist für die von der Autorin nahe gelegte Lesart des Romans von entscheidender Bedeutung.
Von vornherein deutet sich die Abhängigkeit zu ihrem Mann an, der zu Beginn des Werks für einige Zeit nach Rügen verschwindet, angeblich um auf einer Baustelle für einige Tage nach dem Rechten zu sehen.
Sehr besonders wird mit der Annäherung an die Figuren verfahren. Die Protagonistin macht ausgiebige Spaziergänge durch das Viertel. In aller Detailfreude wird beschrieben, wie sie im Winter zur Vorweihnachtszeit durch Steglitz geht. Die Personen, der die Protagonistin auf ihrem Weg begegnet, werden auf rätselhafte Weise eingeführt. Es gibt zunächst seltsam unbestimmte Charaktere, von denen es etwa heißt: Sie, die Protagonistin, trifft eine Frau in einer Bar. Und es stellt sich dann plötzlich heraus, dass es sich um ihre eigene Mutter handelt. Oder sie trifft einen Mann, der sich neben sie auf eine Bank in einem Park in der Nähe des Botanischen Gartens in Steglitz setzt. Und mit einem Mal bemerkt sie, dass es sich um ihren eigenen Vater handelt.
Ohne die Geschichte zu sehr zu spoilern, die sich als Lektüre sehr lohnt, soll hier nur verraten werden: Es sind diese Personen, vor allem der Vater, aber auch die Mutter und der Bruder, in ein Geflecht von Verbrechen eingebettet. Die Protagonistin hat aufgrund dessen eine besondere Sehnsucht nach einem ruhigen, etablierten Leben. Immer wieder stehen dem Situationen entgegen: Man hört plötzlich einen Schuss, nachdem die Protagonistin sich von ihrem Vater verabschiedet hat. Ein Mann liegt im Schnee, der von Kindern gefunden wird. Es bleibt offen, ob es sich vielleicht sogar um ihren Bruder oder sie handelt.
Die Konturen der Figuren verschwimmen ganz seltsam. Der Roman arbeitet mit Techniken des Surrealismus, der in der französischen Kunst und Literatur beheimatet ist. Gerade das macht den Zauber dieses Werks aus. Abgesehen vom zuvor erwähnten Kafka gibt es innerhalb der deutschsprachigen Literatur bis auf wenige Ausnahmen, vielleicht Unica Zürn oder Undine Grünther, kaum surrealistische Literatur. Der Reiz dieses Werks liegt vor allen Dingen in seinem realistisch-naturalistischen Schildern und den sehr genauen Beschreibungen von Stolpersteinen, von Einkaufszentren, von Straßen in Berlin, der U-Bahn, von Menschen in U-Bahnen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite in der surrealistischen Darstellung etwa von Schemen der Erinnerung, wodurch die Lebensgeschichte der Protagonistin immer mehr zum Vorschein kommt und zugleich wieder verdeckt wird. Dieser Gegensatz durchzieht das ganze Werk, das darüber hinaus durch detaillierte Beobachtungen beeindruckt, wie Beschreibungen der Menschen in der U 9 bis Rathaus Steglitz oder auf dem weiteren Weg der Protagonistin.
Den Roman zeichnet ein weiteres Alleinstellungsmerkmal aus, womit die Autorin schon bei ihrem ersten Roman Scham von 2020, mit dem sie mit dem Prix Fnac und dem Prix Goncourt des Lycèens ausgezeichnet wurde und sich in die Metoo-Debatte einschrieb, für Furore sorgte. Es ist diese mehr soziologisch als psychologisch gerahmte Darstellung einer „widernatürlichen Gleichgültigkeit“ der Protagonistin, die anfangs immer das Richtige ahnt und dann aber doch in eine Welt gerät, in der sich alles bzw. alle gegen sie verschworen zu haben scheinen: Ihr Bruder Émile verbündet sich mit ihrem Mann Ivan, den er kaum kennt, gegen sie; ihr vermeintlicher neuer Freund Peter bzw. ihre Freundin Hannah, seine Schwester, von der sich später erweist, dass sie mit Lenis Bruder Émile zusammen ist, intrigieren gegen sie; in einem Etablissement in Friedenau, das von Hannahs und Peters Mutter geführt wird und das von einer Art dubiosen Mafiosi, dem „Chef”, kontrolliert wird, gerät Leni mehr oder weniger ohne eigenes Zutun in Verstrickungen hinein.
Das alles ist so ergreifend dargestellt, ohne zu überpsychologisieren, wie Leni – und das ist in der Tat kafaesk –, in Situationen stolpert, ohne die eigentliche Verantwortung dafür zu haben, dann aber doch die schrecklichen Folgen tragen muss, so dass man ihr als Leser*in beistehen, nein besser beispringen möchte. Der Roman endet dann wiederum einigermaßen überraschend und unerwartet, doch davon mögen sich die Leser*innen selbst ein Bild machen, von einem Roman, der von der Konzeption, vom Inhalt und nicht zuletzt von der Sprache, gerade auch was die überraschenden Wendungen betrifft, sicher einzigartig ist, und für ein anspruchsvolles Lesevergnügen mit Tiefgang sorgt. Von daher ist das Werk ganz besonders zu empfehlen, nicht zuletzt wegen der Einkleidung gesellschaftspolitischen Engagements in eine wunderbare Sprache mit gelungenen Metaphern und dem ständigen Aufbau von innerer wie äußerer Suspense.
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