Der dröhnende Klang der Abrissbirne
Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKürzlich titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): „Wer sich mit KI auskennt, braucht kein Germanistikstudium“. Der Seitenhieb war insofern symptomatisch, als es in dem folgenden Artikel mit keinem Wort um das Fach Neuere deutsche Literatur ging. Um es klipp und klar zu formulieren: Die Germanistik wird von der „Qualitätspresse“ mittlerweile anscheinend nicht einmal mehr ignoriert.
Die Krise der Germanistik, die sich in solchen Presse-Mätzchen spiegelbildlich andeutet, hat längst globale Ausmaße angenommen. Sie wird aber an deutschen Unis gerne ignoriert, wo ein Großteil des Lehrbetriebs klaglos von befristet angestellten wissenschaftlichen MitarbeiterInnen aufrecht erhalten wird und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den nun schon jahrelang währenden #IchBinHanna-Aufstand auszusitzen versucht, indem es sich tot stellt. Massen ambitionsloser Lehramtsstudierender oder GrundschuldidaktikerInnen, die nicht einmal wissen, was die FAZ ist, sorgen derweil in der Bundesrepublik weiter für volle Seminarräume und erwecken den Eindruck, alles könne einfach so weitergehen wie immer.
Ernst wird es jedoch anderswo immer dann, wenn die Politik den Universitäten plötzlich das Geld wegnimmt oder irgendwelche seelenlosen Finanzberatungen vorschlagen, zwecks Behebung ökonomischer Engpässe geisteswissenschaftliche Institute mitsamt festangestellten ProfessorInnen einfach abzuwickeln. In Großbritannien, wo man seit dem Brexit eine Art Humanities-Kahlschlag betreibt, als wolle man mit besonderem Eifer belegen, was der eigentliche Gedanke hinter dem EU-Austritt des Landes war, scheint man längst von allen guten Geistern verlassen zu sein. Um nur in aktuelles Beispiel zu nennen: Der hirnlose Plan, an der Universität Aberdeen, einer der ältesten Hochschule Großbritanniens, das gesamte Sprachen-Department zu schließen und Dutzende von AkademikerInnen zu feuern, beschäftigt derzeit sogar das schottische Parlament, dem wohl dämmert, dass dies vielleicht keine so gute Idee sein könnte.
Das Erlernen einer neuen Sprache, das außerhalb deutschsprachiger Länder bekanntlich Voraussetzung zu einem Studium der „Germanistik“ ist, wird von neoliberalen Regierungen weltweit seit Langem als sinnloses Privatvergnügen ohne Job-Aussichten verhöhnt. Die betreffenden Studiengänge gelten als verkopfte Orchideenfächer ohne jede gesellschaftliche Relevanz und werden nach bloßen Zahlen beurteilt. Die Folge ist ein Teufelskreis: Die von immer weiter sich auftürmenden Krisenfaktoren (Klimawandel, Covid, Finanzkrisen, Kriege) verunsicherten jungen Menschen glauben in diesem ideologischen Klima meist selbst nicht mehr an die Möglichkeit, mit einem literaturwissenschaftlichen Studium im Leben irgendwo ein Auskommen finden zu können. Generell meiden immer mehr Studierende in der ganzen Welt das anstrengende Erlernen einer anderen Sprache und interessieren sich schon gar nicht für Literatur, die nicht „gut lesbar“ oder leicht verständlich geschrieben ist – wenn sie denn überhaupt noch wissen, was das ist, Literatur.
Die Entwicklung ist keineswegs neu und hat jenseits des Atlantiks seit Jahrzehnten zu weitreichenden fachlichen Reformen geführt. Um der skizzierten Problematik zu begegnen, hat sich die Germanistik in Nordamerika bereits seit den 1970er Jahren hin zu den kulturwissenschaftlich orientierten German Studies entwickelt, in denen die Literaturvermittlung in sehr viel weiter gefassten historischen, politischen, kulturellen und interdisziplinären bzw. multimedialen Kontexten praktiziert wird, als dies teils noch heute an deutschsprachigen Instituten für Neuere deutsche Literatur der Fall ist.
Im Zuge dessen wurde 1984 die German Studies Association (GSA) gegründet, die bis heute wohl wichtigste nordamerikanische Fachvereinigung von internationaler Bedeutung. Der Verband verbindet die Fächer Germanistik, Geschichte, Soziologie, Politik, Kunstgeschichte, Kulturanthropologie, Film- und Medienwissenschaft sowie die Gender Studies. Bis heute findet man in den Tagungsprogrammen der GSA eine Fülle von Themen, die man auf den Konferenzen des Deutschen Germanistenverbands (DGV) oft immer noch vergeblich sucht: Panels zur Comicforschung bzw. zum Thema Rassismus und Migration in Graphic Novels, Theorieseminare zur Affekttheorie, zu Marxismus oder Geschlechterforschung bzw. race, gender and sexuality, Methoden-Panels zu den Postcolonial Studies, zugleich Antisemitismusforschung, stets viele Foren zu Nationalsozialismus und Holocaust, zur deutschsprachig-jüdischen Gegenwartsliteratur und vieles dergleichen mehr. Im Vergleich dazu beklagte der Mannheimer Seniorprofessor Jochen Hörisch in einem der prominentesten Panels beim letzten Germanistentag in Paderborn, er gelte als „alter weißer Mann“ und habe einen Alptraum gehabt – dass in Zukunft Goethe nirgends mehr vorkomme.
Die Maxime „From Germanistik to German Studies“ führte dagegen in den USA seit den späten 1980er Jahren zu einer grundlegenden progressiven Revision des Curriculums – nicht zuletzt, um sich von dem Label der bloßen „Auslandsgermanistik“ zu emanzipieren, von der an deutschen Unis bis heute oft noch immer eher abschätzig die Rede ist. In den USA wird diese Rhetorik gerne mit dem Witz beantwortet, das Fach leide generell weniger an der „Auslands-“ denn an der „Inlandsgermanistik“.
Wie Florentine Strzelczyk, vormals Professorin für German Studies an der kanadischen University of Calgary und nach mehreren Führungspositionen in Universitätspräsidien in Calgary und an der Memorial University in Neufundland nunmehr Provost & Vice President (Academic) an der Western University in der Provinz Ontario, feststellt, „wurden und werden immer noch die Ergebnisse der zahlenmäßigen recht großen nordamerikanischen Forschung von der deutschen Germanistik nur sehr begrenzt rezipiert“. Auf der anderen Seite gaben die interdisziplinär viel stärker venetztem German Studies Deutsch als Wissenschaftssprache weitgehend auf, nicht zuletzt um „das Interesse von Studenten an deutscher Kultur aufrecht zu erhalten“, wie Strzelczyk betont. Während in Nordamerika die Lehre tatsächlich seit Jahrzehnten weitgehend nur noch auf Englisch durchgeführt wird und Studierende ihre Arbeiten in ihrer Muttersprache schreiben, stellt sich allerdings beispielsweise in Skandinavien die Frage, ob den sinkenden Studierendenzahlen mit einer solchen Wende wirklich beizukommen wäre. Hier wird immer noch auf Deutsch unterrichtet, und viele Studierende betonen, dies sei genau der Grund, warum sie das Studium wählten – weil sie Deutsch lernen wollten.
In jedem Fall ist es in der Situation, in der sich die „Auslandsgermanistik“ heute weltweit befindet, nicht mehr opportun, die Literaturwissenschaft einfach als Selbstzweck auszugeben und sich damit jedweder Reformüberlegung zu entziehen. Die gesellschaftliche Relevanz des Faches muss um seines Überlebens willen reformuliert und neu vermittelt werden. Daraus zieht Strzelczyk einen Schluss, mit dem sie versucht, die Misere positiv zu wenden, indem man diese als Anlass zum Umdenken begreift: „Paradigmen ändern sich erst dann, wenn eine Krise eintritt, die darin besteht, dass die kanonischen Erklärungsmuster der faktischen Realität nicht mehr entsprechen können. Die Auslandsgermanistik steht in einer solchen Krise, in der die intradisziplinären Erklärungsmuster für die Relevanz des Faches im Kontext einer sich rapide wandelnden Hochschullandschaft nicht mehr ausreichen.“
Ähnlich wie in der europäischen „Auslandsgermanistik“ ist in den letzten Jahren der finanzielle Druck auf geisteswissenschaftliche Departments in Amerika und Kanada stark angestiegen. Auch hier werfen die Uni-Präsidien unter der politisch oktroyierten Knute jäher Kürzungen des Bildungsbudgets gerne als erstes einen Blick auf die Auslastung der German-Studies-Kurse, in denen im Master-Studiengang nicht etwa wie in den Naturwissenschaften Hunderte, sondern nur noch 1-10 Studierende sitzen, und beginnen im Ernstfall postwendend mit der Abwicklung der Programme. Ganze Institute werden buchstäblich gecancelt, die Belegschaft gefeuert. So entschied etwa im September die West Virginia University, die immerhin zu den Top 10 der staatlichen US-Unis zählt, insgesamt 143 Lehrende zu entlassen und alle Fremdsprachenprogramme mit BA- oder Masterstudiengängen zu schließen. Mitte Januar 2024 meldete dann das New Yorker Queens College CUNY ohne jede Vorwarnung, 26 Lehrende zu entlassen.
Weniger drastisch anmutende Maßnahmen der Selbstzerstörung werden zu Beginn gerne mit dem Werbe-Sprech von Manager-Assessments verbrämt: Departments werden zunächst zusammengelegt, um „Synergien“ zu ermöglichen – angeblich, damit Studierende bessere Möglichkeiten zu interdisziplinären Abschlussarbeiten bekommen. Wenn es jedoch hart auf hart kommt und man wie in West Virgina Dutzende oder sogar Hunderte Akademiker auf einmal entlassen will, greift man schließlich zu zynischen Slogans wie „Growth Through Focus“ (University of Calgary, Alberta, Kanada), um noch den dröhnenden Klang der Abrissbirne, die bei dieser Art von „Wachstum“ stets als erstes die Geisteswissenschaften trifft, nach Aufbruch klingen zu lassen.
Florentine Strzelczyk berichtet, dass die Regierungen der einzelnen kanadischen Provinzen bzw. US-Staaten die öffentliche Förderung der Universitäten mittlerweile zunehmend von „Resultaten wie Durchschnittsgehältern oder Erwerbstätigenquoten“ der Graduierten zwei Jahre nach deren Abschluss abhängig machten, zumal die Studierenden und ihre Eltern fragten, „ob man mit einem Bachelor in Deutsch überhaupt eine Anstellung bekommen“ könne. Auf der anderen Seite erinnert die Uni-Vizepräsidentin Strzelczyk daran, dass Deutsch nach Englisch weltweit nach wie vor die zweitmeist gebrauchte Wissenschaftssprache sei und dass Forbes das Idiom als eine derjenigen wichtigsten Sprachen liste, die auf dem gesättigten Arbeitsmarkt einen enormen Vorteil bedeuteten. Typische Lernerträge eines Studiums der German Studies sieht Strzelczyk ebensowenig als Nachteile: „Arbeitgeber verlangen Mitarbeiter, die in zunehmend multikulturellen Teams produktiv sein können. Kritisches Denken, interkulturelle Kommunikation und Problemlösungskapazität sind wichtiger als je zuvor.“ Arbeitgeber schätzten die „Forschungskompetenzen der Geisteswissenschaftler, wie z.B. ihre Fähigkeiten, sich in komplexe Sachverhalte einzudenken, kritisch zu analysieren und überzeugend zu argumentieren“. Man könne davon ausgehen, dass „in der globalen Gesellschaft der Zukunft die Nachfrage nach Fremdsprachen- und interkultureller Kompetenz weiter zunehmen“ werde. Nicht zuletzt habe eine Studie gezeigt, dass AbsolventInnen der German Studies innerhalb von fünf Jahren nach dem Abschluss das gleiche Gehalt verdienten wie Graduierte der MINT-Fächer. Kurzum: „Fremdsprachen und Literaturen müssten demzufolge eigentlich boomen.“
An der University of Calgary besteht die German-Studies-Abteilung in der School of Linguistics, Languages, Literatures and Cultures (SLLLC) derzeit jedoch nur noch aus zwei festangestellten Lehrenden und einem DAAD-Lektor, der kurz vor der Demissionierung steht, ohne dass klar wäre, ob für ihn noch ein Nachfolger bestellt werden soll. Die Sorge um die Zukunft der German-Sektion ist groß. Doch auch Charlotte Schallié, Institutsleiterin und German-Studies-Professorin am Department of Germanic and Slavic Studies an der University of Victoria, British Columbia, berichtet von geplanten Zusammenlegungen ihres Departments mit denen anderer Fächer. Schallié hat gerade mit der von ihr herausgegebenen kommentierten Anthologie von Graphic Novels über drei Kinder-Überlebende der Shoah einen sensationellen internationalen Erfolg verbucht, der das von ihr verantwortete Forschungsprojekt „Narrative Art and Visual Storytelling in Holocaust and Human Rights Education“ weit über die Grenzen der Provinz hinaus bekannt gemacht hat.
Mit der Graphic-Novel-Anthologie But I Live: Three Stories of Child Survivors of the Holocaust (dt.: Aber ich lebe Vier Kinder überleben den Holocaust, beide Publikationen erschienen 2022) führen Schalliés Team sowie die an dem Projekt beteiligten Shoah-Überlebenden, ZeichnerInnen und HistorikerInnen praktisch vor, wie eine zukunftsorientierte, reflektierte Geschichts- und Literaturvermittlung heute aussehen kann, um nach dem nahenden Ableben der letzten Überlebenden des Holocaust auch jüngere Generationen in der ganzen Welt weiter zu erreichen. Über die genannten Entwicklungen an ihrer Uni in Victoria zeigte sich Schallié vor diesem Hintergrund in einem Gespräch mit dem Autor dieses Artikels, das im letzten Oktober in Montréal geführt wurde, aus nachvollziehbaren Gründen allerdings eher weniger erfreut.
Es gibt jedoch auch Germanistinnen und Germanisten in Nordamerika, die sich zuversichtlicher geben. Die gebürtige Schwäbin Susanne Vees-Gulani etwa, Associate Professor of German and Comparative Literature an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio, sitzt inmitten einer Gegend von Trump-WählerInnen, berichtet jedoch beschwingt von relativ stabilen Verhältnissen an ihrem Department. Auch der Suhrkamp-Romancier Kevin Vennemann, dessen Holocaust-Roman Nahe Jedenew (2006) dem seinerzeit noch jungen Autor einen überraschenden Durchbruch bescherte, lehrt seit Jahren als Associate Professor of German am Scripps College in Los Angeles, einer kleinen, aber feinen Privatuni für Frauen, und gibt zu Protokoll, er wisse durchaus um die Klagen der Kolleginnen und Kollegen und höre sich diese alltäglich geduldig an. Selbst könne er aber dazu nur sagen, dass sich bei ihm immer nur mehr und bessere, interessiertere Studierende einschrieben und er sich deshalb an seiner Uni keinerlei Sorgen machen müsse.
Bei der letztjährigen Konferenz der GSA, die Anfang Oktober 2023 im kanadischen Montréal stattfand, konnte man beobachten, wie sich Wissenschaftler aus den USA und Kanada darüber unterhielten, wo ihr Fach steht, was falsch läuft und wohin es sich bewegen sollte. Am Tag vor dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober verkündete Jeffrey Herf, Historiker an der University of Maryland, in einem Antisemitismus-Panel etwas überraschend, Studierende beendeten heute ihre Zeit an der Uni mit einem Haufen Wissen über den Nazi-Täter Heinrich Himmler, wüssten aber gar nichts mehr über Immanuel Kant. Es sei eine Schande.
Genaueres zur typischen heutigen Themensetzung an den US-Unis konnte man in dem prominent besetzten Panel „Teaching German Literature for / in the Twenty-First Century“ erfahren. Der rücksichtsvolle Moderator B. Venkat Mani von der University of Wisconsin-Madison formulierte wie nebenbei das Motto: „There is too much Germanic going on here.“ Was zunächst nur wie ein Witz über die Spuren der althergebrachten Germanistik in den Namen von Zeitschriften amerikanischer Fachzeitschriften wie Germanic Review klang, gab den Konsens und die allgemeine Ablehnung der klassischen Zielsetzungen der ‚deutschen‘ Germanistik im Amerika gut wieder. Dass zu viel und nicht zu wenig „Germanistik“ das Problem sei, war dort schließlich schon seit den 1980er Jahren zu einer Gewissheit geworden.
Während manche Ansätze wie etwa die Postcolonial Studies in Deutschland stets immer erst etwa 20 Jahre später als in den USA salonfähig werden, übt man sich in den Staaten seit Jahrzehnten daran, klassische Texte kritisch gegen den Strich zu lesen oder neue Schwerpunkte wie Black German Studies zu setzen, die Erforschung der Literatur und Kultur deutschsprachiger schwarzer Autorinnen und Autoren. Die von B. Venkat Mani vorgestellte Gruppe von „Germanistik“-Professorinnen und Professoren aus den USA stellte bei der GSA letztes Jahr u.a. Seminarkonzepte zu Themen wie Migration, Übersetzung und Jewish Studies vor. Werke wie Grimms Märchen wurden dabei z.B. nur noch als hochproblematische, teils offen antisemitische Texte erwähnt.
Das heißt nicht, dass diese kanonischen Texte gar nicht mehr behandelt würden oder literaturtheoretische Methoden wie die Psychoanalyse ganz aus dem Curriculum verschwänden – man liest oder nutzt sie bloß kritischer als zuvor und weiß, dass sie heutigen Studierenden in Amerika ohne eine solche skeptische Perspektive auch gar nicht mehr zu vermitteln wären. Geradezu erheitert berichteten Carl Niekerk und Laurie Johnson (beide Illinois) in diesem Panel von ihren Lehrerfahrungen mit Sigmund Freuds Bruchstücken einer Hysterie-Analyse (1901), dem Bericht über den sogennanten Fall Dora. Die Studierenden kämen heute zunächst ohne jedes Interesse an Sigmund Freud an die Uni, lachte Johnson. Dies ändere sich jedoch meist schnell mit dem für die jungen Leute bizarr anmutenden, um nicht zu sagen, aus heutiger #MeToo-Sicht schlichtweg empörenden Dora-Text über die sexuellen Neurosen einer Minderjährigen. Der rüstig ergraute, elastisch um das Vortragspult tänzelnde 18. Jahrhundert-Spezialist Carl Niekerk sekundierte, dass sich die studentische Zusammensetzung der Seminarklientel an seiner Uni radikal geändert habe: Im Vergleich zu der Zeit vor ca. 15 Jahren sei sie weit diverser geworden, mit viel mehr Studierenden aus tendenziell bildungsfernen Familien, denen lediglich Förderprogramme den Weg an die Uni ermöglichten. Daher, so der von dem gewinnenden Moderator Mani umrissene Paradigmenwechsel, könne es in amerikanischen Literaturseminaren eben nicht mehr nur darum gehen, was man lese, sondern auch mit wem man lese.
Darüber wird in Amerika aber nicht etwa geklagt, sondern daraus wird eine didaktische Tugend gemacht: Man reflektiert die Problematik ausgrenzend klingender Labels wie „Migranten-“ oder gar „Gastarbeiterliteratur“, während man die notorische Farbenblindheit ablehnt, mit der man in Deutschland den Rassenbegriff zu eskamotieren versucht, um gleichzeitig auf den faktisch herrschenden Rassismus im eigenen Land aus literaturwissenschaftlicher Sicht gar nicht erst einzugehen. Im Gegensatz dazu werden etwa exklusive Konzepte wie „Native Speaker“ im Ansatz der Translation Studies verworfen, während Mita Banerjee, Professorin für American Studies an der Universität Mainz, bei der GSA als interdisziplinärer Gast erneut die Marschrichtung ausgab, dass man im Fach nur außerhalb der Germanistik noch Fragen stellen könnte, die man sonst überhaupt nicht diskutieren könne.
Seit Langem gibt es in den USA eine enge Verknüpfung der German Studies mit den Jewish Studies. Leslie Morrison von der University of Minnesota gab mit gefasster Stimme zu Protokoll, in einer der Hochburgen des Antisemitismus in den Staaten zu lehren. Ihre Studierenden zeigten z.B. eine große Unsicherheit gegenüber dem Wort Jude, das sie für ein Schimpfwort hielten, weswegen man in ihrem Department nur noch von dem sogenannten J-Word spreche.
Aus deutscher Uni-Sicht mag man über derartige Probleme vielleicht ungläubig staunen. Dabei verkennt man jedoch gerne, dass man in der dortigen Germanistik derartige fachliche und didaktische Herausforderungen noch am Vorabend einer drohenden Machtübernahme der „Alternative für Deutschland“ (AfD) oft weiterhin dadurch umgeht, dass man über weltweit pressierende Themen wie Antisemitismus, Rassismus, Ableismus, Anti-Genderismus oder Sexismus kaum je ein Seminar anbietet oder eben einfach gar nicht erst spricht.
Am Ende ließe sich aus internationalen Massen-Konferenzen wie derjenigen der GSA, die letztes Jahr in Montréal stattfand, vor allem eines mitnehmen: Die Zukunft der Germanistik auch in Europa und in Deutschland liegt in einer weiteren Öffnung des Faches. Sie wird nur mit der interpretatorischen Wahrnehmung von Problemen wie dem literarischen Antisemitismus bzw. einer Dekolonialisierung und kritischen Relektüre des Kanons zu leisten sein. Nicht zuletzt liegt die Chance des Faches Neuere deutsche Literatur in der Erschließung aktueller oder vorher kaum je vermittelter Texte jenseits der Literaturgeschichte weißer, ‚muttersprachlicher‘ Autorinnen und Autoren. Kurz: Die Germanistik ist tot. Es lebe die Vielfalt der German Studies.
Literaturhinweis
Florentine Strzelczyk: Generations- und Paradigmenwechsel in der nordamerikanischen Auslandsgermanistik / German Studies. In: Norman Ächtler, Anna Heidrich, José Fernández Pérez und Mike Porath (Hrsg.): Generationalität, Gesellschaft, Geschichte. Schnittfelder in den deutschsprachigen Literatur- und Mediensystemen nach 1945. Festschrift für Carsten Gansel. Berlin: Verbrecher Verlag 2021, S. 133-152.
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