Die mit dem Tod tanzt
In „Wie sterben geht“ erzählt Andreas Pflüger eine Geschichte aus den Zeiten des Kalten Krieges
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNina Winter arbeitet als Analystin beim Bundesnachrichtendienst. Ein Schreibtischjob, mit dem die junge Frau durchaus zufrieden ist, nachdem ihre berufliche Karriere nach dem Studium zunächst einmal stagnierte. Doch eines Tages, im Februar des Jahres 1980, geschieht das Unerwartete – eine Moskauer Topquelle, die den deutschen Auslandsgeheimdienst mit erstklassigen Informationen versorgte, droht plötzlich zu versiegen. Denn der Mann, der den hochrangigen Informanten mit dem Decknamen „Pilger“ vor Ort führte, ist wie vom Erdboden verschwunden. Was tun, fragt man sich in München-Pullach. Und ist erleichtert, als sich die Quelle, deren Beziehungen bis in die obersten Etagen von Partei und Regierung der Sowjetunion reichen, von selbst wieder in Erinnerung bringt. Sie hat allerdings eine Bedingung, sollte der BND an einer weiteren Zusammenarbeit interessiert sein: Fortan soll Nina Winter ihre Führungsoffizierin sein.
Andreas Pflügers sechster Roman hat erneut eine weibliche Hauptperson. Nach Jenny Aaron, der blinden Agentin einer international operierenden, supergeheimen Spezialeinheit der Polizei, die Pflüger zwischen 2016 und 2019 in drei Thrillern auftreten ließ, und Paula Bloom, die als Ritchie Girl im Zentrum des gleichnamigen Romans von 2021 stand, nun also die Analystin Nina Winter, die von einem Tag auf den anderen vom Schreibtisch weggeholt und ins äußerst gefährliche operative Geschäft des deutschen Auslandsgeheimdienstes geworfen wird – mehr als nur eiskaltes Wasser, in dem sich die 31-jährige Ex-Leistungssportlerin plötzlich wiederfindet. Und viel Zeit bleibt nicht, um ihr das Schwimmen in dem lebensfeindlichen Element beizubringen – auch wenn ein Mann Ninas Einführung in ihr neues Metier übernimmt, der sowohl die Kontaktperson „Pilger“ als auch die Verhältnisse vor Ort in Moskau wie kein Zweiter kennt.
Es ist deshalb auch nur normal, wenn „Pilger“ seiner neuen Führungsperson nicht gleich an deren erstem Tag in der sowjetischen Hauptstadt über den Weg läuft. Denn sowohl die Quelle als auch deren deutscher Kontakt riskieren nicht weniger als ihr Leben. Wenn das Nina in Deutschland noch nicht ganz klar war, in Moskau merkt sie es von der ersten Sekunde an. Von früh bis spät überwacht, ihre kleine Wohnung in jener Gegend, wo Michail Bulgakow einst seinen Roman Der Meister und Margarita beginnen ließ und selbst eine Zeitlang wohnte, verwanzt, misstrauische Menschen, wohin sie auch kommt – und erste kleine Fehler, die zum Glück noch folgenlos bleiben, aber deutlich machen, wie neu das Geschäft für sie ist.
Auch bei der deutschen Botschaft weiß man zunächst nicht allzu viel mit ihr anzufangen. Dass sie nicht nur gekommen ist, um schlaue Vorträge über Maxim Gorki zu halten, ist den Diplomaten zwar klar. Aber es dauert, bis Nina und der bundesrepublikanische Vertreter vor Ort eine gemeinsame Linie finden, was den Umgang miteinander betrifft.
Doch schließlich begegnet Pflügers Heldin dem Mann, wegen dem sie ihren Analysten-Schreibtisch in Pullach verlassen hat: Rem Kukura alias „Pilger“. Und merkt sofort, dass sie ihm vertrauen kann, weil er auch ihr vertraut, das Interesse für die russische Literatur mit ihr teilt und dank seiner Position in der Kreml-Nomenklatura tatsächlich über jene Informationen verfügt, die ihn zu einer Top-Quelle machen, zu einem – Pflüger hat die Bezeichnung erfunden – „Pink Star“, dessen Informationen wertvoller sind als die aller anderen Informanten vor Ort zusammen. In Rems Sohn Leo verliebt sich die junge Frau fast sofort. Er, den eine Verletzung die Box-Karriere gekostet hat, bringt ihr bei, wie man sich auch mit schmutzigen Mitteln erfolgreich verteidigen kann und seine Gegner außer Gefecht setzt. Nina kann es kurz darauf bereits gut gebrauchen.
Andreas Pflüger erzählt in seinem mit dem ersten Platz beim Deutschen Krimipreis 2023 geehrten Roman die Geschichte der Nina Winter nicht in ihrer chronologischen Abfolge. Er setzt mit einem Paukenschlag ein, der die grellen Folgen dessen ins Bild rückt, was anschließend, beginnend im Jahr 1980, in der Rückschau erzählt wird. Es ist die Geschichte einer mutigen Frau in einer Männerwelt. Einer Welt, in der Vertrauen und Verrat einander nicht immer ausschließen. Einer Welt, in der Nina, die in Moskau unter dem Decknamen Elsa Opel operiert, nicht nur neu und aufrichtig zu lieben lernt, sondern auch brutal zu töten. Einer Welt, in der über Nacht aus Freunden plötzlich Feinde werden können und in der man manchmal nicht umhinkommt, Allianzen mit dubiosen Typen, die in finsteren Hinterzimmern residieren, einzugehen.
Wie seine Heldin sich hier Tag für Tag durchschlägt, immer beargwöhnt und verfolgt von einem Mann, der sich von ihrer ersten Begegnung an vorgenommen zu haben scheint, sie zu enttarnen und unschädlich zu machen – „Motte“ hat ihn Nina getauft und sein Gesicht, nachdem sie es zum ersten Mal gesehen hat, kommt ihr vor „wie eine Mephisto-Maske“, „so starr, kalt, mitleidlos“ – erzählt der Roman spannungsreich, genau in den Details und mit einer geradezu frappanten Kenntnis der Schauplätze, die den Hintergrund für seine Geschichte abgeben.
Wie sterben geht ist ein großartiger Roman, ein Buch, das die aktuelle deutsche Spannungsliteratur mühelos überragt. Andreas Pflüger nimmt seine Leserinnen und Leser darin mit in eine Zeit, die noch gar nicht so weit zurückliegt und die, wie die weltpolitischen Entwicklungen in unserer Gegenwart es durchaus nahelegen, beileibe auch nicht für immer Vergangenheit bleiben muss. Insofern hat das Buch auch ein höchst aktuelles Anliegen, nämlich vor den Gefahren zu warnen, die sich hinter einer Rückkehr zum Kalten Krieg – ganz gleich, zwischen welchen Seiten dann um eine neue Weltordnung gerungen würde – verbergen dürften.
Was die literarisch-kompositorische Seite seines Romans betrifft, so bleibt festzuhalten, dass der Autor mit seinen vorausgegangenen fünf Romanen die Latte bereits ziemlich hoch gelegt hat. Dass er sie mit seinem sechsten Buch, basierend auf einem inzwischen deutlich wiedererkennbaren Individualstil, sogar übertrifft, ist bei diesem Autor freilich fast keine Überraschung mehr und lässt für die Zukunft und seine nächsten Projekte noch einiges erwarten.
Für den speziellen Pflüger-Ton und das ausgesprochen hohe Erzähltempo jedenfalls sorgen auch in Wie sterben geht kurze, explosive Sätze und eine überraschende Bildlichkeit, die gelegentlich sogar einen Zug ins Lyrische besitzt. Und natürlich baut ein Autor, der in der Vergangenheit über zwanzig Drehbücher geschrieben hat – unter anderem allein sieben in Zusammenarbeit mit Claus-Henric „Murmel“ Clausen für die Weimar-Reihe des ARD-Tatorts –, auf aussagestarke Dialoge und rasant arrangierte Action-Szenen. So bleibt am Ende nur zu konstatieren: Wer dieses Buch gelesen hat, der wird danach nicht nur die Glienicker Brücke schneller und mit einem unsicheren Blick nach unten, ins Havelwasser, überqueren, sondern auch wissen wollen, ob und wie es mit der Figur der Nina Winter weitergeht. Wird sie in Zukunft hinter ihrem Pullacher Analysten-Schreibtisch versauern? Das wollen wir ihr und ihrem Erfinder wirklich nicht wünschen.
|
||