Biosphere und Zynische Vernunft

Zwei Buchjubiläen in der ökologischen Krise und eine TV-Sendung

Von Michael KinskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Kinski

Als Folge der Beschleunigung in allen Bereichen des Lebens und des Anstiegs der Publikationszahlen geraten ältere Bücher schnell in Vergessenheit. Sofern sie nicht Kultstatus erreichen, Bestseller wurden, zur wissenschaftlichen Standardliteratur zählen oder zu einem bestimmten Kanon gehören, finden sie sich zukünftig in Margaret Cohens „great unread“ und Franco Morettis „Slaughterhouse of Literature“ wieder und werden nicht mehr beachtet. Im Jahr 2023 begingen zwei Bücher – großzügig betrachtet – ihren 50. bzw. 40. Geburtstag. Geht man von den Zitationszahlen aus, die sich über Google Scholar ermitteln lassen, spielten sie nie eine Rolle wie etwa Hans Jonas‘ Prinzip Verantwortung, das in demselben Zeitraum erschien. Dies gilt insbeson­dere für die vergangenen zehn Jahre. Trotzdem möchte ich sie mit gegenwärtigen Diskussionen verbinden – das eine, weil es sich als eine Geschichte des Umgangs der Menschen mit ihrer Umwelt lesen lässt; das andere, da es eine herausfordernde Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist beinhaltet, die heute vielleicht noch aktueller ist als bei seiner Publikation. 

Die einbändige, beispielhaft angelegte Weltgeschichte Mankind and Mother Earth des britischen Universalhistorikers Arnold Toynbee (1889-1975) erschien zwar erst 1976 (Oxford University Press), aber das Vorwort trägt die Jahreszahl 1974, und an verschiedenen Stellen nennt der Verfasser 1973 als Endpunkt seiner Auseinander­setzung. Eine Dekade später anzusetzen ist Peter Sloterdijks (geb. 1947) Kritik der zynischen Vernunft in zwei Bänden (edition suhrkamp, 1983). Überlegungen zu den expliziten Anfängen eines kritischen Bewusstseins für die ökologische Krise (zumal in den Geisteswissenschaften) einerseits und zu den Reaktionen auf und dem Umgang mit Warnungen in der größeren Öffentlichkeit andererseits kommen um beide Werke nicht herum.

Sloterdijk hebt an mit dem Satz: „Seit einem Jahrhundert liegt die Philosophie im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist.“ Das mag auch vierzig Jahre später Gültigkeit besitzen. Immer noch zieht sich „ihr Abschied quälend in die Länge“, und man nimmt ihr gerne das Bemühen ab, „angesichts des Endes […] ehrlich werden und ihr letztes Geheimnis preisgeben zu wollen“, wie es zu Beginn des Vorworts heißt. Dabei gäbe es keinen besseren Zeitpunkt, um aufzutrumpfen und die „glitzernde Agonie“ hinter sich zu lassen. Zwar mögen ihre großen Themen – von „Gott“ bis zum „Nichts“ – „vergeblich schöne Höhenflüge“ gewesen sein. Doch sind es gerade die „herbei­gefürchteten Katastrophen“ und „neuen Werte“, die Sloterdijk mit den Momenten der Todeszuckungen der Philosophie verbindet und zu denen er „Friedenssicherung, Lebensqualität, Verantwortungsbewußtsein, Umweltfreundlichkeit“ zählt, welche der vermeintlich Sterbenden neuen Elan verleihen, wenn auch keinen „naiven“. Wie so oft sind es Anstöße aus Frankreich, die lobende Erwähnung verdienen, und da sei vor allem Corine Pelluchon mit ihrer Philosophie der Ernährung, der Umwelt, der „neuen Aufklärung“ und dem Bestreben einer Neufundierung der Demokratie genannt. Aber auch in Deutschland schreibt Markus Gabriel über Mensch als Tier, selbst wenn er sich nicht zu dem Schritt durchringen mag, den Menschen allein als Tier zu identifizieren. Slavoj Žižek hatte schon in der Covid-19-Zeit festgehalten, dass die Aufmerksamkeit sich nun ganz auf die Pandemie richte, wo die Klimakrise doch die viel größeren Gefahren für den Globus insgesamt berge (Pandemic!, 2020). Nun verbindet er in Surplus-Enjoyment. A Guide for the Non-Perplexed (2022) seine Kapitalismus-Kritik mit Ökologie und spricht mit der „Mehrlust“ ein Thema an, das bei der Suche nach Wegen aus der sich ankündigenden Umweltkatastrophe nicht mehr ignoriert werden kann. Dabei dient ihm als Ideengeber auch der junge japanische Philosoph Saitô Kôhei (geb. 1987) – 2016 an der HU Berlin promoviert und 2018 mit dem Isaac and Tamara Deutscher Memorial Prize ausgezeichnet. Ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme des Anthro­pozäns entwickelt dieser Gedanken für die Überwindung des wachstums­basierten kapitalistischen Wirtschaftssystems und eine auf Karl Marx (insbesondere die handschriftlichen und kaum diskutierten Notizen der Spätphase) gestützte Öko-Ökonomie.[1] 

Wie viel naiver, unbekümmerter, aber auch betroffener wirkt da doch Arnold Toynbee. In Mankind and Mother Earth verurteilt Toynbee die eurozentrische Betrachtung der Menschheitsgeschichte scharf („By 1973 it had become manifest that none of the enormous mass of jettisoned history could be written off any longer as being irrelevant.“), und gleichzeitig gibt er die bisherigen Koordinaten seines Geschichts­entwurfs auf – klar identifizierbare „civilizations“ (27 bis 29 an der Zahl) sowie „challenge and response“ als Muster, mit dem der Aufstieg und Fall der Zivilisationen diskutiert wird (siehe A Study of History, 12 Bde., 1934–61). Stattdessen adaptiert er Pierre Teilhard de Chardins (1881–1955) Vorstellung von der Biosphäre – eine dünne Schicht trockenen Landes, Wassers und Lufts um den Erdball herum, welche das einzige gegenwärtige Habitat für alle Spezies lebendiger Wesen sei, einschließlich der Menschheit (S. 5).[2]

Das trotz aller zerstörerischen Eingriffe durch die Gattung Homo in früheren Epochen fortbestehende Gleichgewicht dieser Biosphäre gerät erst aus den Fugen, als die Menschheit infolge der Industriellen Revolution die Möglichkeit gewann, die Lebensumwelt nicht nur zu beschädigen, sondern bis zur eigenen Selbstauslöschung in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Biosphäre sei eigentlich eine selbstregulierende Verbindung gegenseitig komplementärer Bestandteile, und keines von diesen – organisch oder anorganisch – habe je die Macht erlangt, das ihr zugrundeliegende empfindliche Gleichgewicht der Kräfte zu erschüttern. In Toynbees Worten wurden die Spezies von Lebewesen, die entweder zu inkompetent oder zu aggressiv waren, mit ihrer Umwelt in Einklang zu bleiben, gerade durch den Rhythmus der Kräfte, auf denen die Biosphäre aufbaut, ausgelöscht. „Die Biosphäre war unendlich viel stärker als ihre vormenschlichen Bewohner“ (S. 17).

Doch als Folge technischer und ökonomischer Veränderungen, die sich seit dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts im Vereinigten Königreich bemerkbar machten, habe sich das Kräfteverhältnis umgekehrt. Toynbee legt Wert darauf, zwischen Werkzeugen („coeval with mankind itself“) und den nun aufkommenden Maschinen zu unter­scheiden, die nicht nur die Muskelkraft unterstützen, sondern Menschen von der physischen Arbeit selbst befreien – zuerst mit Dampfkraft, seit 1844 auch mit Elektrizität (S. 565). Die bis dahin als Energieträger dienenden Kräfte des Windes und des Wassers besaßen zwei Vorzüge: „Sie waren sauber, und sie waren unerschöpflich“ (S. 565). Dampfkraft muss aber durch das Verbrennen von Treibstoff erzeugt werden, und die Rauchschwaden als Nebenprodukt dieses Prozesses „verschmutzen“. Das war abstoßend, wurde aber als nur lokale Belästigung hingenommen. Doch zweihundert Jahre später ist offensichtlich, dass die Auswirkungen der Mechanisierung drohen, die Biosphäre für alle Lebewesen weltweit unbewohnbar zu machen (S. 566). In den beiden letzten Kapiteln schildert Toynbee in eindrücklichen Worten, was auch für damalige Leser nicht mehr neu sein konnte. Lediglich die Intensität seiner Anprangerungen mag überraschend gewesen sein. Bemerkenswert erscheint mir die Konsequenz, die er schon damals zog. Über die vergangenen zwei Jahrhunderte habe „der Mensch“ seine materiellen Kräfte in einem Maß vergrößert, dass er zu einer Bedrohung für das Überleben der Biosphäre wurde. Doch sein „geistiges Vermögen“ (spiritual potentiality) habe er nicht vermehrt. Der Abstand zwischen diesem und den materiellen Kräften habe daher immer weiter zugenommen – und diese wachsende Diskrepanz sei beunruhigend (S. 575). Eine Steigerung des geistigen, ethischen, moralischen Vermögens hält Toynbee für die einzige denkbare Veränderung in der Biosphäre, die ihre Zerstörung durch die im Kapitalismus entfesselte Gier verhindern könne (S. 575).

Toynbee baut diesen Gedanken nicht weiter aus, wie es Hans Jonas wenige Jahre später dann tat oder wie es Vittorio Hösle versucht mit dem Vorschlag einer „Natur­wissenschaft, die die Autonomie der Vernunft mit einer eigenständigen Würde der Natur zu verbinden trachtet.“ Denn es wäre irrtümlich zu glauben, „durch wirtschafts­politische Maßnahmen allein sei die ökologische Krise zu bewältigen“ (Philosophie der ökologischen Krise, 1991, S. 17). In der Eindringlichkeit der Worte jedoch steht Toynbee nicht zurück.

Einige seiner Sentenzen erinnern an Worte Hoimar von Ditfurths, der sich 1978 – dem Jahr des Erscheinens der deutschen Ausgabe von Mankind and Mother Earth – in zwei Folgen der Sendung Querschnitt unter dem Titel „Der Ast, auf dem wir sitzen“ mit dem befasste, was er schon damals „Klimakatastrophe“ und „Treibhauseffekt“ nannte. Beides wird anschaulich und für ein breites Fernsehpublikum leicht verständlich erklärt. Die Sendungen machen den Zuschauern keine Hoffnung auf ein Entkommen aus dem drohenden Kollaps der Biosphäre. H. v. Ditfurth spricht von der Notwendigkeit einer „globalen Solidarität“ („eine Eigenschaft, zu der sich die Menschen bisher nicht fähig erwiesen haben“); doch Sachzwänge, „die es so schwer machen, den Fortschritt zu stoppen“, sprächen dagegen, dass die Menschheit weltweit auf die technische Weiterentwicklung und die Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger verzichten werde. Es würde sowieso nichts helfen, so meint er, beides zu stoppen und auf Atomkraft umzusteigen, weil die katastrophale Zerstörung der Vegetation (zum Gewinn von Anbaufläche für die Ernährung der vielen Menschen) ohnehin immer mehr CO2 freisetze.

Freilich gibt H. v. Ditfurth am Ende der zweiten Folge eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen, die in die Sackgasse führten: Umweltverschmutzung, Artensterben etc. seien nur Symptome einer einzigen Ursache – der Überbevölkerung; die Erde sei überbesetzt mit einer einzigen Spezies, der Wurzel aller Übel, aller Umweltprobleme. Ob es in der Atmosphäre zu viel CO2 gibt oder immer mehr Tierarten aussterben: „alles nur Symptom der einen Ursache.“ Wer nur an den Anzeichen herumdoktert, provoziere lediglich neue Probleme an völlig unerwarteten Stellen, „wie ein medizinischer Stümper, der versucht das Fieber zu senken, ohne sich um die zugrundeliegende Infektion zu kümmern.“ Die einzige Rettung vor der sicheren Katastrophe sei die Verringerung der Zahl der Menschen (duch weltweite Senkung der Geburtenrate) insgesamt. „Nicht ein einziger Mensch müsste dafür sterben; die Probleme hätten sich in wenigen Generationen in Luft aufgelöst, als hätte es sie nie gegeben.“ Allerdings hatte H. v. Ditfurth nicht die Erwartung, dass sein Lösungs­vorschlag Aussicht habe, umgesetzt zu werden. Schon damals erschien ihm die Hoffnung, trotz einer viel geringeren menschlichen Weltbevölkerung, illusorisch. Heute ist der Spielraum für eine in Generationen rechnende Lösung erst recht nicht mehr vorhanden.

Warum drang Toynbee und warum drangen die Mitglieder des Club of Rome oder H. v. Ditfurth in ihrer Zeit nicht mit den Warnungen durch? Warum fällt es den Menschen (die Frage außer Acht lassend, um welche Menschen es konkret geht) so schwer, sich zu einer Steigerung des geistigen Vermögens aufzuraffen, die Toynbee sich erhoffte? Vielmehr scheint ein gewisser Stillstand zu herrschen, das Arsenal und die Wirkung der eindringlichen Beschreibungen muten erschöpft an. Die heutigen Einsichten und Erwartungen sind nicht soviel anders als die vor fünf Dekaden: Auch Markus Gabriel konstatiert sicher zu Recht, dass es illusorisch sei, die „komplexe Krisenlage der Spätmoderne […] durch mehr vom Gleichen [Naturwissenschaft und Technik] bewältigen zu können“ (S. 11). Der „naturwissenschaftlich-technologische Fortschritt als Treiber rein quantitativen Wirtschaftswachstums“ lasse sich vom „humanen und moralischen Fortschritt“ nicht entkoppeln (S. 20). Ähnlich hatte es Toynbee gesagt.

Müssen wir für eine Erklärung des Stockens doch zurück zu Peter Sloterdijks zynischer Vernunft? Vieles spricht dafür, dass zumindest bei vielen, die dazu in der Lage wären, „kein Funke mehr vom Aufschwung der Begriffe und von den Ekstasen des Verstehens“ ist. Mit Sloterdijk gesprochen: „Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch.“ Vielleicht eher das letztere. Denn die Weitsichtigeren würden sicher nicht den Mechanismen des Verlagerns, die Nils C. Kumkar jüngst diskutierte (Alternative Fakten, 2022; Artikel in Forschung und Lehre, 2023), erliegen und ihre Entrüstung auf die Aktivisten, die sich auf der Straße festkleben, übertragen, anstatt auf die Klimakrise, die Ubiquität der Verbrennungsmotoren, deren Anteil an ersterem und die Verkehrspolitik sowie ihre augenscheinliche Unfähigkeit oder Unwilligkeit, für ein zuverlässiges und flächendeckendes öffentliches Nah- und Fernverkehrssystem zu sorgen, das sich z. B. hinter dem japanischen nicht zu verstecken braucht. 

Oder ist es doch eher aktiver Zynismus, der einen Stimmungs- und Verhaltens­umschwung verhindert? Auf Ebene der Gesellschaften wäre dieser schon schlimm genug. Aber wenn ihn die Vertreter der „Macht“ (Sloterdijk geht es auch um „Wissen ist Macht“) und unter diesen diejenigen in politischer Verantwortung verkörpern, steht es schlecht um die Erfüllbarkeit der Toynbee-Hoffnung. Wie zutreffend erscheinen Sloterdijks Worte doch: „Der Zynismus steht im Hintergrund bereit – bis das Palaver vorbei ist und die Dinge ihren Gang nehmen.“ Und weiter, als habe der Philosoph Sloterdijk an den Historiker Toynbee gedacht: „Unsere schwunglose Modernität weiß zwar durchaus ‚historisch zu denken’, zweifelt aber längst daran, in einer sinnvollen Geschichte zu leben. ‚Kein Bedarf an Weltgeschichte’.“

Was wäre die Alternative, wenn die Deutung nicht zutreffen sollte, dass es die „zynische Vernunft“ ist, die ein Durchdringen der Umweltschutz-Argumente verhindert, die seit Anfang der 1970er Jahre auf dem Tisch sind und heute variantenreich und geschickt von Philosophinnen wie Corine Pelluchon hier sowie von Aktivistinnen wie Greta Thunberg, Luisa Neubauer und anderen dort vorgebracht werden? Gerade Regierungen sind in der Regel doch „gut beraten“. Man muss nur in Gesund leben auf einer gesunden Erde, das im Juni 2023 vorgestellte Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), gucken, um dafür ein exzellentes Beispiel zu finden. Auf 460 Seiten finden sich Analysen ausgewiesener ExpertInnen aus verschiedenen Wissenschaftsfeldern (nur eine Geisteswissen­schaftlerin fehlt), die sich mit Handlungsempfehlungen und bemerkenswerten Zugeständnissen an philosophische Diskussionen verbinden. Positiv überrascht war ich insbesondere von den Grundsatzthesen zum „Eigenwert der Natur“ (auf S. 71 geht es z. B. darum, „der Natur einen Wert unabhängig von ihrem Nutzen für und ihrer Nutzung durch den Menschen zuzuerkennen“). Ja selbst von einer Rechtssubjektivität für Tiere und Pflanzen ist endlich die Rede.

Der WBGU-Bericht sagt jedoch nicht, wie Gesellschaften der „Falle des Wirtschaftswachstums“ und der „Falle der Produktivität“ (von Arbeit)[3] entkommen können, von denen Saitô Kôhei bei seiner kritischen Bestandsaufnahme und seinem Lösungsentwurf ausgeht. Saitô setzt sich in Übereinstimmung mit Wirtschaftswissen­schaftlerInnen wie Kate Raworth und Daniel O’Neill (aber ohne deren Glauben an Lösungsmöglichkeiten im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung) für eine Aufgabe der Wirtschaftswachstumsideologie in den Staaten des globalen Nordens ein, um gleichzeitig ein auf Nachhaltigkeit gründendes Politik- und Wirtschaftshandeln für die Welt insgesamt und gerechte bzw. gleiche Wirtschaftsentwicklung für die Staaten des Südens, die in Prozessen der Verlagerung die „imperialistische Lebensweise“ des Nordens tragen und deren Opfer sind, zu erreichen – auch wenn das Entkommen vor dem Mandat des Wachstums keine Gesamtlösung sein kann und die Zeit, damit alle Folgen der Klimakrise abzuwenden, fehlt (Saitô 2020, S. 99).

Doch auch wenn die Bundesregierung sich die Empfehlungen des WBGU-Gutachtens und – eher nicht vorstellbar – Ideen Saitô Kôheis zu eigen machen und in politisches Handeln umsetzen sollte, ist für den Globus – und nicht einmal für die Bundesrepublik – nicht viel gewonnen, wenn sich nicht das Verhalten jeder einzelnen Person in dieser und anderen Gesellschaften ändert.[4] Worin liegen die Gründe, warum das so illusorisch erscheint?

Apathie war schon genannt worden. Auch Phlegma und Bequemlichkeit spielen gewiss eine Rolle. Sie zu überwinden scheint nicht unmöglich, wenn die Zeit nicht drängte und das Thema nicht fast schon zu alltäglich und damit langweilig geworden wäre. Die Desillusion unter jungen Menschen, wie ich sie unter vielen Studierenden feststellen zu können meine, und ihre Verbindung zu einem hedonistischen Lebensentwurf wären zu nennen. Sind die Vertreter der Umweltphilosophie und -bewegung schuld daran, dass Ökologie für die meisten Menschen nur ein peripheres Anliegen bleibt, weil die Philosophie es versäumte, andere (überzeugendere) Bedeutungszuschreibungen anzu­bieten als die bekannten, die uns in den Besitz der materiellen Güter versetzten, die im Mittelpunkt unseres Lebens stehen, wie Corine Pelluchon vermutet? Diese Sicht, denke ich, enthebt die Gesellschaften und ihre Mitglieder zu sehr der Verantwortung – wiewohl es zum Bild einer weitgehend in Apathie, Hedonismus und Aufklärungs­überdruss erschlafften Menschheit der Industrienationen passte. Dann ist da noch die kaum messbare Bildungsfeindlichkeit, durch die sich etwa die deutsche Gesellschaft seit langer Zeit auszeichnet und für die ich das Verschwinden der großen Buchgeschäfte genauso als Indiz sehe wie die marode Infrastruktur vieler Schulen oder die geplante Reduktion des Etats der Bundeszentrale für politische Bildung – ganz zu schweigen davon, dass man sich immer noch erlaubt, Kinder in ein Dreiklassensystem (Haupt-, Realschule und Gymnasium) zu zwängen.

Oder scheitert Toynbees Hoffnung – wenn nicht am Zynismus – allein an der „atomisti­schen“ (Pelluchon), nur auf Lösung unmittelbar anstehender Probleme ausgerichteten Haltung ‚der Politik’ im Angesicht von Krisenprognosen, die noch nicht in Form unmittelbarer Schmerzen spürbar genug sind? Das mag man angesichts des Spektrums an Ideen in den Parteien und den wissenschaftlichen Beiräten der Regierung nicht glauben.

Doch solche Ideen werden solange nicht zum Tragen kommen, wie nicht ein Ruck durch diese und andere Gesellschaften geht, der die Zivilgesellschaften, die Sektoren der Ökonomie (einschließlich der Weise ihres Funktionierens) und der Politik ergreift. Da sind wir wieder bei Toynbees Hoffnung auf eine geistig-moralische Veränderung. Tatsächlich gibt es viele Menschen in vielen Ländern, die sich sofort mit einer Klimapolitik solidarisch erklären würden. Nur dürfen deren Auswirkungen momentan noch der eigenen Lebensführung nicht zu nahekommen. 

Die Aufregungen um das Heizungsgesetz und die Wärmepumpen in diesem Sommer haben eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, alle ‚mitzunehmen‘. Hat die Regierung die BürgerInnen einfach überfordert? Hat sie nicht Rücksicht genommen auf die Kunst des Umgangs mit der Psyche der Regierten, auf die etwa der japanische Theoretiker Kaiho Seiryô (1755–1817) immer wieder aufmerksam machte? Bei der Analyse der finanziellen und wirtschaftlichen Probleme seiner Zeit (für Seiryô wurzelten diese in unternehmerischem Freigeist und zu großem Wohlstand einer kaufmännischen Mittelschicht einerseits, dem verkrusteten Denken und der Verarmung der gesellschaftlichen Elite sowie der Regierung andererseits) betonte er immer wieder, dass die Bevölkerung viel zu gewitzt sei, als dass die Politik mit kurzfristigen und unverblümten Erlassen zum Ziel kommen könne. Seiryôs Konzepte lassen sich eher mit Nicolo Machiavellis und Bernard Mandevilles Sichtweisen vergleichen und passen nicht in die Zeit pluralistischer und demokratisch verfasster Staatswesen. Und doch liegt in seiner Vorstellung eines „geschickten“ Einsatzes von auf „Techniken“ basierendem politischen Handeln, das die Bevölkerung beim Eigennutz packt und (auf nicht gleich einsehbaren Wegen) zum Notwendigen führt, ein bedenkenswerter Ansatz, der nur vielleicht nicht zu Regierungsformen passt, deren Träger ihre Ziele an kurzfristigen Wahlperioden und dem Bemühen, wiedergewählt zu werden, ausrichten müssen. Dabei wird gerade heute die Wichtigkeit der Vermittlung des Zwecks politischer Maßnahmen immer wieder diskutiert. Wie auch immer – die Stimmung scheint noch nicht reif zu sein für weitreichende, den unmittelbaren Lebenswandel berührende Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise.

Da liegt die eigentliche Aufgabe der Kritik, und für deren Vorbringen sind par exellence VertreterInnen der historischen und philosophischen Disziplinen prädestiniert. Es ist nicht das Ansinnen der Kritik, mit einer Problematisierung des vermeintlich „Vernünftigen“ gleichzeitig auch Lösungen anzubieten. Dafür wäre die Kooperation mit WissenschaftlerInnen ideal, die ihre Expertise in den verschiedenen Naturwissen­schaften besitzen, aber auch auf komplexen Arbeitsfeldern wie Life Cycle Assessment (LCA), Life Cycle Costing (LCC) und Social Life Cycle Assessment (SLCA) tätig sind (sofern Lösungen im Rahmen von Fragen nach den Auswirkungen auf gesellschaftliche Konstellationen gedacht werden).[5] Es geht doch zunächst einmal um Bewusstseins­veränderungen – der einzelnen Bürger wie auch der politischen Verantwortungsträger. Für die Unterstellung, die heutige Politik kümmere sich nur um das unmittelbar Anstehende in kleinen Schritten, um das große Ganze – trotz hervorragender Gutachten – nicht sehen zu müssen, sprechen Indizien aus dem Vergleich mit vergangenen Krisenzeiten. Aber wer hat schon „Bedarf an Weltgeschichte“? Angela Merkel hatte wenigstens Jürgen Osterhammel zu einem Festvortrag anlässlich ihres Geburtstags eingeladen. Wen lädt der Bundeskanzler ein? Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre von Mankind and Mother Earth und Kritik der zynischen Vernunft auch heute keine Zeitverschwendung. „Wenn die Dinge uns brennend auf den Leib rücken, muß eine Kritik entstehen, die das Brennen zum Ausdruck bringt“ (Peter Sloterdijk, an Walter Benjamin angelehnt, Bd. 1, S. 19).

Auswahlbibliografie

Gabriel, Markus (2022): Der Mensch als Tier. Warum wir trotzdem nicht in die Natur passen. Berlin.

Hösle, Vittorio (1991): Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge. München. 

Jonas, Hans (2020 [1979]): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Mit einem Nachwort von Robert Habeck. Berlin.

Kumkar, Nils (2022): Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung. Berlin. 

Pelluchon, Corine (2020):  Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt. Aus dem Französischen von Heinz Jatho unter Mitarbeit von Sophie Dahmen. Darmstadt.

Saitô, Kôhei (2020): Hito shinsei no Shihon ron. Tokyo.

Sloterdijk, Peter (1983): Kritik der zynischen Vernuft. 2 Bd. Frankfurt a. M.

Toynbee, Arnold (1934–61): A Study of History. 12 Bd. Oxford.

Toynbee, Arnold (1978 [1976]): Mankind and Mother Earth. St Albans.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2023): Gesund Leben auf einer gesunden Erde. Berlin. 

Žižek, Slavoj (2020): Pandemic! Covid-19 Shakes the World. New York.

Žižek, Slavoj (2022): Surplus-Enjoyment. A Guide for the Non-Perplexed. London.

Anmerkungen

[1] Saitô wechselte von einer Professur für Wirtschaftswissenschaften an der Städtischen Universität Ôsaka 2022 auf eine am Institut für vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaften der Staatlichen Universität Tokyo. Er machte Markus Gabriel in Japan bekannt, als dieser in Deutschland kaum in einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. – Für die handschriftlichen Notizen bezieht Saitô sich auf noch größtenteils in Arbeit befindliche Bände der MEGA2, Abteilung IV.

[2] Seitenangaben beziehen sich auf die Paperback-Ausgabe, die 1978 bei Paladin erschien.

[3] Von diesen Fallen spricht Saitô in Hito shinsei no Shihon ron (Das Kapital im Anthropozän, Shûei Sha 2020: 68–70).

[4] Bei allem Charme und humanistischem Geist, den Saitôs Argumentation ausstrahlt – in diesem Punkt liegt sicher eine der Schwächen seines Entwurfs. Er operiert ganz im Rahmen einer Systemlösung, ohne die Frage zu stellen, wie jede einzelne Person ihr Verhalten im Sinne (1) eines Verzichts auf die „imperialistische Lebensweise“, die Saitô mit Blick auf Menschen der Nordhalbkugel anprangert, und (2) einer das Fortschreiten der Klimakrise vermeidenden Existenzform verändern müsste.

[5] Große Vermittler naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die gleichzeitig gesellschaftliche Konsequenzen einfordern konnten, wie Hoimar von Ditfurth, konnten noch einen Großteil der fernsehsehenden Bürger erreichen, weil es nur zwei TV-Sender und die drei Programme der ARD gab. Sie gibt es in einer sehr viel aufgesplitterten Medienlandschaft nicht mehr, und ohnedies ist die Lücke zwischen den Fachwissen­schaften und den Konsumenten, Lesern oder Zuschauern außerhalb der Universitäten sehr viel größer geworden. Das Fehlen integrierender Vermittler kommt aber der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft entgegen. Da wäre die Rolle der Geisteswissenschaften – neben dem Journalismus – durchaus wichtig, da durch ihre jeweiligen fachlichen Perspektiven neue Strategien, Ansätze und Aspekte sowie Reflexion aufgrund der historischen Erfahrung in die Diskussionen eingebracht werden können.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen