Philosophie und Faschismus

In seiner Monographie „Heidegger in Ruins“ untersucht Richard Wolin Heideggers Verbindungen zum Nationalsozialismus

Von Gerhard PoppenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Poppenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Diskussion um Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus wird seit der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte (2014-2021) erneut heftig geführt. Richard Wolin, der Philosophiegeschichte vor allem des 20. Jahrhunderts an der City University in New York lehrt, stellt in Heidegger in Ruins (2022) den vorläufigen Stand der Diskussion um Heideggers Verbindung zum Nationalsozialismus dar und bereichert sie durch eigene Untersuchungen, in denen er bestimmte Konzepte im Werk Heideggers – Boden und Raum, Volk und Rasse, Arbeit und Technik – im Kontext anderer Texte der Zwanziger- und Dreißigerjahre untersucht.

Ein leitendes Motiv seiner Arbeiten ist die Kritik der Vernunftkritik, die im Gefolge Nietzsches eine Linie der Philosophie des 20. Jahrhunderts von Heidegger bis zum Poststrukturalismus und zur Dekonstruktion geübt hat. Heideggers Projekt der Zerstörung der Metaphysik gründet in der Hypothese, die Form des Vernunftgebrauchs, die mit Platon und Aristoteles begonnen hat und die Rationalität bis ins 20. Jahrhundert bestimmt, sei verantwortlich für Fehlentwicklungen der abendländischen Zivilisation und die Katastrophen der Moderne. Derrida hat es mit der Dekonstruktion als ein metaphysisch-ontologisches Abrissunternehmen weitergeführt. Für Wolin ist dieses Projekt keineswegs eine Lösung, sondern selbst eine Dimension der katastrophischen Moderne. Seine Stoßrichtung ist nicht philosophiehistorisch und systematisch, sondern ideologiekritisch ausgerichtet. Deshalb sind Heideggers Überlegungen zum begrifflichen Denken und zur Logik einerseits, zur Sprache und zur Dichtung andererseits für ihn keine philosophische Reflexion wert. Heideggers „Gespräch von Dichten und Denken“ ist Teil der Vernunftkritik, die Wolin für verwerflich hält.

Wie andere bestreitet er die denkerische Strenge von Heideggers Spätwerk, das nur „evozierend“ (Ernst Tugendhat) vorgehe. Die einlässliche Auseinandersetzung zeigt aber, dass vom „In-der-Welt-sein“ und der „Entschlossenheit“ bis zur „Gegend“ und dem „Geviert“ Heidegger sehr wohl begrifflich scharf denkt, aber anders als es die metaphysisch-logische Tradition vorgibt. Von der „ousía“ Platons und dem „to ti en einai“ des Aristoteles über die christlichen Theologumena der Scholastik, die „res cogitans“ des Descartes und die „Aufhebung“ Hegels bis zum „Übermenschen“ Nietzsches, der „Passage“ Benja­mins, dem „Nichtidentischen“ Adornos, der „Dekonstruktion“ Derridas oder dem „Rhizom“ von Deleuze und Guattari hat anspruchsvolles philosophisches Denken neue Begriffe gebildet. Heidegger entfaltet das Gefüge seiner Begrifflichkeit in präziser Auseinandersetzung mit der Tradition.

Die Stellen, die Heideggers Sympathie und Parteinahme für die Vorstellungen des Nationalsozialismus belegen, hat Wolin akribisch, bisweilen etwas redundant, zusammengetragen. Vor allem der Begriff des Volks soll das zeigen, der eine lange Vorgeschichte hat, aber von den Nationalsozialisten mit Konnotationen von Blut und Rasse, Boden und Raum belegt wurde. Wieweit Heidegger, der den „vulgären“ Nationalsozialismus ablehnte, in seinem Denken an diesen Vorstellungen Anteil hat, bleibt zu erforschen, denn Wolin hat zwar das belastende Material zusammengetragen, stellt es aber nicht in den philosophischen Kontext der Vorlesungen und Schriften Heideggers. Wenn der in den Arbeiten zu Höl­derlin von Volk und Deutschtum handelt, ist zunächst ungeklärt, ob er das im Sinn des Nationalsozialismus oder Hölderlins oder in einem eigenen Sinn tut. Und die Frage, ob Hölderlin auch in die Reihe der zu Verdammenden gehört, ist damit noch gar nicht berührt. Es gab in den Vierzigerjahren in den USA eine Diskussion über die Ursprünge des Nationalsozialismus in der deutschen Romantik. Zur Analyse solcher ideengeschichtlicher Entwicklungen von langer Dauer reicht ein ideologiekritischer Ansatz nicht aus.

Ein Beispiel kann das zeigen. Mit einer Beobachtung trifft Wolin eine Dimension in Heideggers Denken, die möglicherweise bedeutsam ist. Er hatte keinen Sinn für die Errungenschaften der modernen Demokratie: öffentliche Freiheit, Solidarität, gemeinsame Werte u. a. Wolin belegt das mit Hannah Arendts Bestimmung des Politischen als Teilhabe an der öffentlichen Freiheit. Die damit aufgeworfene Frage ist aber nicht durch Insinuation zu beantworten. Wer Demokratie ablehnt, ist tendenziell totalitär. Wirkliche Kritik wird erst möglich, wenn man Heideggers Begriff der Freiheit theoretisch entfaltet, um zu erkennen, ob er totalitär ist. Denkbar ist immerhin, dass die öffentliche Freiheit im – mit den Demokratien koextensiven – Kapitalismus nichts weniger als frei, vielmehr nur Scheinfreiheit im Verblendungszusammenhang der Kulturindustrie ist, wie zeitgleich die Kritische Theorie befand.

Die Stellen über das Judentum in den Schwarzen Heften sind verstörend und dienen allenthalben dazu, Heidegger für überführt zu erklären. Wenn er das „Judentum“ als Agenten des Rech­­nens – das bedeutet im Weiteren, der mathematischen Deutung von Natur und Welt – be­stimmt, ergibt sich die Frage, warum und mit welchem Erkenntnisinteresse er diesen Prozess der Mathematisierung von Physik und Technik – für ihn stehen Gestalten wie Bacon und Descartes, Leibniz und Newton am Anfang der Neuzeit, die sich in den Na­turwissen­schaf­ten und der industrialisierten Technik bis zu den informationstheoretisch und elektronisch konfigurierten Geräten heute verwirklicht hat – ausgerechnet dem „Judentum“ zuschreibt; aller­dings führt er daneben auch den „Amerikanismus“, den „Bolschewismus“ und die „Moderne“ insgesamt an. Diese Konstellation lässt Wolin außer Acht und führt durchgängig nur das „Judentum“ an, um Heideggers Rassismus zu belegen.

Das Kapitel „Heidegger and Race“ stellt Texte Heideggers mit zeitgenössischen Kontexten zusammen. Das zeigt bisweilen höchst bedenkliche und unheimliche Beziehungen. Heidegger, der begriffsscharfe Denker, war vom Führer und dem neuen Reich derart fasziniert, dass er offenbar alle theoretischen Bedenken fahren ließ. Dazu kam der Pruritus, als Rektor und prospektiver Führer des Führers selbst politisch wirksam werden zu können. Allerdings geht Wolin nicht immer ganz redlich vor, wenn er etwa eine Formel wie „deutsche Art“ mit „race“ übersetzt, um einen rassistischen Punkt zu machen. Andererseits kritisiert er in englischsprachigen Heidegger-Ausgaben die Übersetzung von „bodenständig“ durch „indigenous“, weil sie das semantische Feld von „Boden“ nicht enthält. Sie macht aber vielleicht deutlich, wo die Linien dieser Denkfigur heute verlaufen. In post- und dekolonialen Theorien ist das „Indigene“ auf verdrehte Weise „bodenständig“ und „völkisch“ konnotiert.

Auch eine Parallelaktion von Heidegger mit Werner Jaeger, Max Kommerell und dem Geor­ge-Kreis bleibt unterkomplex; sie berücksichtigt nicht, dass die drei intellektuell nicht einfach über einen Kamm zu scheren sind. Das gilt auch für andere Texte der Zeit. Wenn er Spengler, Jünger, Evola oder Benn anführt, begnügt er sich damit, Ähnlichkeiten über Signalwörter und einzelne Textausschnitte herzustellen, die irgendwie anrüchig sind, ohne den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen: „in rigore, ut iacent“, wie es in der Sprache des Heiligen Offiziums hieß. Eine solche Suche nach einschlägigen „Stellen“ kann man pornographisch nennen. Sie ist nicht auf Erkenntnis aus, sondern auf Erregung. Nach diesem Muster sind große Teile der Texte aus dem ersten Jahrhundertdrittel zu verurteilen. Und womöglich liegt darin das wirkliche Problem. Aber das müsste methodisch ganz anders untersucht werden.

Das Vorgehen Wolins lässt sich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. Wenn Heidegger einen „anderen Anfang“ der abendländischen Zivilisation begründen will und ihn als eine Interaktion von griechischer und deutscher Kultur vorstellt, verabschiedet er die Idee von Weltgeschichte zu Gunsten einer Konzeption von Partikulargeschichte, die jeweils in einzelnen Völkern gründet. Wolin bestimmt das als „völkische“ Konzeption von Geschichte und Kultur und ergänzt, das sei „merely another way of saying, that in order for Dasein to be authentic, it must be conceived in racial terms“. Und wer in den Dreißigerjahren den Volksbegriff rassisch fasst, meint es auch rassistisch.

Eine kritische Einstellung gegenüber dem Konzept von Weltgeschichte und Weltkultur findet sich beispielsweise auch in Erich Auerbachs „Philologie der Weltliteratur“ (1952). Kultur bil­det sich in einer partikularen Sprache und Zivilisation aus, die durch den Austausch mit anderen Kulturen bereichert wird. Dieser Prozess führt auf die Dauer zu einer Neutralisierung der partikularen Kulturen in einer homogenen Weltkultur. Im Hintergrund steht für Heidegger wie Auerbach die Einsicht Humboldts, dass besondere Sprachformen unterschiedliche Denkformen und damit Kulturformen hervorbringen, das Partikulare also für die kulturellen Bildungen wesentlich ist. Wolin bestimmt das Partikulare eines Volks als das Völkische, das durch die NS-Ideologie rassisch und rassistisch konnotiert ist. Es ist zu einem toxischen Begriff geworden, unter den neben Heidegger, folgt man Wolin, auch Humboldt und Auerbach fielen. Heidegger hat aber das Volk nicht durch die Rasse, sondern durch die Dichtung bestimmt. Das Dichterische – für das er Hölderlin als Gewährsfigur anführt – wirkt als eine bestimmte Konfiguration der Sprache eines Volks prägend auf seine Zivilisation. Der Grund der Kultur ist nicht die Rasse, sondern die Dichtung.

Ein langes Kapitel handelt von „Erde“ und „Boden“ im Werk Heideggers. Wolin stellt seine Obsession der „Bodenständigkeit“ von Leben und Denken, Volk und Kultur heraus. Das ist eine topische Figur der Kulturkritik seit der Jahrhundertwende, in der die „freischwebende Intelligenz“ der Großstadtzivilisation allgemein und der Juden besonders als „entwurzelt“ und „bodenlos“ kritisiert wurde. Heidegger hat diese Topoi aufgegriffen, zu der eine grundsätzliche Ablehnung des Großstädtischen und eine unbedingte Verteidigung des ländlich Provinziellen gehörte. Er teilte diese Grundstimmung mit vielen seiner Zeitgenossen; er war zutiefst verwurzelt in den reaktionär-revanchistischen Diskursen und national-chauvinistischen Gefühlslagen seiner Zeit. Seine politische Haltung war eine durch sein Milieu geprägte Gesinnung ohne politische Urteilskraft und wohl auch weitgehend frei von realpolitischen Kenntnissen. Entscheidend ist, ob seine Philosophie auf diese Herkunft zu reduzieren ist oder ob sie kraft einer denkerischen Redlichkeit sich davon freimachen und über sie erheben konnte.

Erkenntnisfördernd wäre es beispielsweise, die Gefühlslage der „Bodenständigkeit“ mit Heideggers Nachdenken über die philosophische Frage des Grundes zu korrelieren. Der Satz vom Grund und die Kausalität als Denkform „gründet“ offenkundig – wie das Dasein im Alltäglichen gründet und aus dessen Gestimmtheit Denkfiguren bildet – in der Beziehung zum Boden der Erde, ist aber nicht auf sie reduzierbar. Kann man Heideggers Denken des Grundes, das sich durch sein gesamtes Werk zieht, aus seiner existenziellen „Bodenständigkeit“ erklären, gar als faschistoid im Sinn von „Volk und Raum“, „Blut und Boden“ bestimmen? Oder ist es gerade eine Abkehr vom schlicht Bodenständigen? Solche Fragen führen zu einer philoso­phi­schen Auseinandersetzung mit Heideggers Denken.

Ein letztes Beispiel kann diese Auseinandersetzung in den Problemkomplex eines möglicher­weise philosophischen Antisemitismus zurückführen. Wenn Heidegger die metaphysische Bedeutung des deutschen Volks betont, zeigt das Adjektiv, dass es sich nicht um eine biologische, sondern eine philosophische Konzeption handelt. Das deutsche Volk, sofern es – von Kant und Fichte über Hegel und Schelling bis zu Hölderlin, Nietzsche und Heidegger selbst – eine besondere Form von philosophischer und poetischer Kultur – und zwar in Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und Poesie – ausgebildet hat, kann aus dieser Konstellation einen anderen Anfang der abendländischen Zivilisation begründen. Ob eine solche Denkfigur mytho-theologischer Tinnef oder – in Anlehnung an die christliche Theologie in ihrem Verhältnis zur jüdischen Antike – figural-typologische Geschichtsphilosophie ist, wäre zu erörtern. Formal ist sie jedenfalls eine Gestalt anspruchsvollen Geschichtsdenkens – das Erich Auerbach und Leonhard Goppelt in den Dreißigerjahren gegen die Eliminierung des Jüdischen in Erinnerung gerufen haben.

Die Tragweite von Heideggers Geschichtsdenken im Horizont von Volk, Raum und Boden wird erkennbar, wenn man die Bestimmung des Judentums hinzuzieht, die Jacob Taubes in Abendländische Eschatologie (1947) – und zwar in Auseinandersetzung mit Heidegger – vorgelegt hat. Er bestimmt das Judentum als das Volk der Zeit und der Geschichte, indem er es von den anderen orientalischen Zivilisationen unterscheidet, die im Raum und im Boden wurzeln. Mit der Konstellation von Raum und Bodenständigkeit, Zeit und Geschichte ist ein geschichtsphilosophisches Problem markiert. Die Frage, ob eine Zivilisation und Kultur auch in den besonderen Eigentümlichkeiten der Geographie, des Klimas, der Landschaft mit ihrer Flora, Fauna und Gastronomie gründet und aus ihr hervorgeht, ist offenkundig nicht nur „völkisch“ zu verstehen und zu verwerfen. Dagegen stellt die Konzeption des Judentums, die Taubes ins Feld führt, einen wahrhaften Gegenentwurf dar. Die Juden sind ein Volk, das in der Zeit als Geschichte lebt und seine Zivilisation und Kultur statt in einem Boden in einem Buch gründet und als Tradition der Auslegung des Buchs entfaltet. Das ist ein Konzept von Kultur, das allerdings dem Heideggers nicht so fern ist. Sein Werk besteht – wie übrigens auch das Derridas – in Auslegungen von Texten der Überlieferung, die diese Überlieferung neu zu begründen versuchen.

Die Darstellung von Wolin ist auf der Grundlage der Texte Heideggers und der zeitgenössischen Kontexte sowie der Forschungs­li­teratur erarbeitet. Ein ausführliches Register sowie zahlreiche Zwischenüberschriften helfen, sich im Buch zu orientieren. Die bibliographischen Belege sind allerdings leider in den An­merkungen versteckt; sie sollten in einer künftigen Auflage in einer gesonderten Bibli­o­graphie aufgeführt werden. Eine deutsche Übersetzung des Buchs ist wünschenswert, weil es das Material zum Fall Heidegger weitläufig zusammen­stellt. Zwar sind Wolins Schlussfolgerungen nicht auf der Höhe von Heideggers Denken sowie der philosophischen Tradition, in der es steht, es stellt aber den antiheideggerischen Komplex in konzentrierter Form und in seiner ganzen Blüte und Pracht vor. Eine philosophische Auseinandersetzung kann jetzt beginnen.

Titelbild

Richard Wolin: Heidegger in Ruins. Between Philosophy and Ideology.
Yale University Press, New Haven/London 2022.
473 Seiten, 26,82 EUR.
ISBN-13: 9780300233186

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