Nicolai Riedel knüpft zwei Ariadne-Fäden durch das Labyrinth der deutschen Lyrik seit 1945

Ein „Bibliographisches Handbuch“

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist „ein zuverlässiger Ariadne-Faden durch die dichten Wälder der mengenmäßig überraschend umfangreichen [deutschsprachigen] Lyrik-Produktion zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem anbrechenden 21. Jahrhundert“ – so poetisch verführerisch beschreibt Nicolai Riedel, dem wir zuverlässige Personalbibliographien zu Schiller, Ernst Jünger, Kunert und Johnson zu verdanken haben, sein neues bibliographisches Unternehmen. Immerhin 12.520 Titel von Gedichtbänden, die in dem Zeitraum zwischen 1945 und 2020 erschienen sind, werden hier (mit Verlags- und Umfangsangaben) verzeichnet, und selbst diese Zahl ist das Ergebnis rigider Selektionen. So wurden beispielsweise – von Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich nicht aufgenommen: Gedichtanthologien, Bände mit Kinder- und Jugend-, Dialekt- und Mundartgedichten, experimentell-visuelle Textkörper (Bildgedichte) sowie Publikationen im Selbstverlag und in digitalen Medien. Auch „Hochpreisige Pressendrucke und bibliophile Editionen in Mini-Auflagen, die keine größere literarische Öffentlichkeit erreichen konnten, mussten ausgeschlossen werden“. Ebenso trifft es viele der Lyrik-Publikationen in Heftchenform, beispielsweise das seinerzeit sehr verbreitete DDR-Poesiealbum, das nur mit wenigen Heften des Jahrgangs 1974 (Gabriele Eckart und Richard Pietraß) vertreten ist, während die in dieser Reihe erschienenen Hefte mit Gedichten von Wulf Kirsten und Bertold Viertel (ebenfalls 1974) fehlen.

Letzten Endes, schreibt Riedel, entschied „das ästhetische Werturteil des Handbuch-Verfassers“ über die Aufnahme oder die Nichtaufnahme eines Titels in diese Bibliographie unter Berücksichtigung des Profils des Autors und seines Verlags, des Titels und Inhaltsverzeichnisses des Gedichtbandes sowie sogar nach „Analyse einzelner Gedichte (Autopsie)“. Riedel hält es aber für durchaus möglich, „dass einerseits talentierte Autoren durch das dichtmaschige Selektionsnetz gefallen sind, andererseits aber weniger kreative Autoren in den Kanon integriert wurden“.

Doch es geht nicht nur um das bibliographische Schicksal einiger talentierter und weniger kreativer Lyriker. Wie geht Riedel vielmehr mit denjenigen Autoren um, die die Lyrik des Zeitraums zwischen 1945 und 2020 maßgeblich geprägt haben, also mit Bertolt Brecht, Gottfried Benn und Paul Celan? Nur für Celan kann Riedels Auswahlkriterium gelten, weil er erst „nach 1945 mit der Veröffentlichung von Lyrik begonnen“ hat und daher aufgenommen werden kann; Benn und Brecht dagegen haben ihre bahnbrechenden Gedichtsammlungen (Morgue und Hauspostille) lange vor dem Beginn des Erfassungszeitraum vorgelegt. Für sie müsste daher das exklusive Auswahlkriterium in Anspruch genommen werden, demzufolge „Schriftsteller der älteren Generation Beachtung finden, sofern sie nach 1945 ihre Lyrik-Produktion mit neuen Monographien fortgeführt haben“. Auch das gilt uneingeschränkt für beide (Statische Gedichte und Buckower Elegien). Umso mehr verblüfft es daher, dass zwar Benn in Riedels Bibliographie mit sechs Titeln vertreten ist, Brecht aber völlig fehlt. Das lässt sich, wie ich meine, weder durch die vorgebrachten Auswahlkriterien noch durch die beanspruchte Subjektivität des Urteils und schon gar nicht mit der Umfangsbeschränkung rechtfertigen, die Riedel anführt: „eine Dokumentation aller erschienenen Lyrik-Bände zwischen 1945 und 2020 hätte den Umfang des Handbuchs mindestens verdoppelt“.

Das soll offenbar abschreckend wirken. Vollständigkeit erscheint hier als Drohung, nicht als bibliographische Pflicht. Natürlich ist Vollständigkeit eine Chimäre, ein letztlich unerreichbares Wunschbild und damit zugleich ein Terrain für Nörgler und Besserwisser. Aber ohne die Bemühung um definierte Vollständigkeit verliert jede bibliographische Unternehmung ihre Legitimation. Und was den Umfang des Handbuchs angeht, so ist es mit 999 paginierten Seiten bereits „verdoppelt“: Alle ermittelten Titel kommen in identischer Form zweimal vor: ein erstes Mal in einem Verzeichnis der Lyrik-Produktionen, alphabetisch geordnet nach Erscheinungsjahren von 1946 bis 2020; und ein zweites Mal in einem alphabetischen Verzeichnis aller Namen der Lyriker mit ihren Gedichtbänden des Erfassungszeitraums.

Zum Vergleich kann man Hans-Jürgen Schlütters Buch Lyrik – 25 Jahre. Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikpublikationen (Band I. Hildesheim, New York: Olms 1974) heranziehen, das – mit anderen Auswahl- und Beschreibungs-Kriterien – fast 10.000 Titel allein für die ersten 25 Jahre des Riedelschen Referenzzeitraums anführt. Schlütter nennt, anders als Riedel, gegebenenfalls weitere Auflagen der verzeichneten Titel sowie Illustrationen und Tonaufnahmen. Er zählt auch die Hervorbringungen der Konkreten Poesie unbefangen zum Gesamtbereich der lyrischen Dichtung: Deren „Vater“, Eugen Gomringer, der bei Riedel, abgesehen von einem Sonettband, völlig fehlt, ist bei Schlütter mit sieben Titeln vertreten – also: Wer einen Titel oder Autor des Erfassungszeitraums sucht, sollte am besten beide Bibliographien konsultieren.

Einzelne Gedichtbände eines Autors sowohl im Kontext der gleichzeitig erschienenen Bände anderer Lyriker als auch im Kontext seiner eigenen Gedichtbände betrachten zu können, ist sicher nützlich und hilfreich. Will man aber beispielsweise wissen, mit welchen Programmen welche Verlage die Lyrik der Nachkriegszeit gefördert haben oder welche thematischen Veränderungen und Sprechweisen der Lyrik aus den Titeln der Gedichtbände aus der Zeit vor und nach der politischen Wende ablesbar sind, dann stößt man trotz der Verdoppelung der Informationen im Handbuch schnell an dessen Grenzen und wünscht sich ein Digitalisat herbei, das über entsprechende Suchprogramme verfügt.

Titelbild

Nicolai Riedel: Bibliographisches Handbuch der deutschsprachigen Lyrik 1945-2020.
J. B. Metzler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.
1010 Seiten , 219,99 EUR.
ISBN-13: 9783662654606

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