Gentleman, Kosmopolit, Arzt, Geheimagent und Bestseller-Autor – aber vor allem ein exzellenter Geschichtenerzähler

Zum 150. Geburtstag von William Somerset Maugham

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich habe nie vorgegeben, etwas anderes zu sein als ein Geschichtenerzähler. Es hat mir Spaß gemacht, Geschichten zu erzählen, und ich habe sehr viele erzählt“, so der englische Erzähler und Dramatiker William Somerset Maugham (meist nur W. Somerset Maugham, 1874-1965) über sich selbst. Und tatsächlich gehörte er mit etwa 20 Romanen, 200 Kurzgeschichten und 30 Dramen zu den produktivsten englischen Schriftstellern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Auch seine Biografie liest sich wie eine phantastische Erzählung. Als William am 25. Januar 1874 als Sohn eines Rechtsanwalts an der britischen Botschaft in Paris zur Welt kam, lag die Niederschlagung der Pariser Commune und die Gründung des Deutschen Reiches gerade einmal drei Jahre zurück. Bereits sein Geburtsort war ungewöhnlich. Da nach 1870/71 alle in Frankreich geborenen Kinder automatisch französische Staatsbürger waren, war Maughams Mutter in der britischen Botschaft niedergekommen und folglich auf englischen Boden.

Die ersten Lebensjahre wuchs William in Frankreich auf in einer Atmosphäre von Wohlstand und Geborgenheit. Die behüteten Kinderjahre nahmen mit dem frühen Tod der Eltern ein plötzliches Ende. Als Vollwaise kam er in Begleitung seines französischen Kindermädchens zu seinem Patenonkel Henry Maugham, einem kinderlosen und engstirnigen Landpfarrer in der englischen Provinz. Ein krasser Gegensatz zu dem unbeschwerten Leben in Paris. Mit 13 Jahren wurde der Junge in das Internat der King’s School in Canterbury eingewiesen. Da er kaum Englisch konnte und außerdem stotterte, war er dem Spott und den Demütigungen von Mitschülern und Lehrern ausgesetzt.

Mit 18 Jahren begann Maugham eine Ausbildung zum Arzt am St. Thomas-Hospital in London. Aber er hatte keine wirkliche Berufung zur Medizin – er wollte Schriftsteller werden, doch das war dem Onkel nicht standesgemäß. Maugham schloss seine Ausbildung jedoch ab und verarbeitete seine Erfahrungen als Assistenzarzt im Londoner Armenviertel Lambeth in seinem ersten, sozialkritischen Roman Liza of Lambeth (1897, dt. 1953). Obwohl der Erfolg des Debuts bescheiden war, gab er den Arztberuf auf. Nach dem Tode seiner Onkels 1897 konnte Maugham seinen Neigungen zum Schreiben und Reisen ungehindert nachgehen. So bereiste er Italien und Spanien. Neben den Romanen Mrs. Craddock (1902, dt. Triumph der Liebe (1957)) und The Magician (1908, dt. Der Magier (1958)) versuchte sich Maugham zunächst als Dramatiker und hatte hier große Erfolge. So wurden 1908 vier Stücke von ihm gleichzeitig in London aufgeführt und selbst am Broadway in New York hatte er Erfolg, was ihm finanzielle Sicherheit verschaffte. In dem Bildungsroman Of Human Bondage (1915, dt. Der Menschen Hörigkeit (1939)) schilderte Maugham den schmerzhaften Erziehungsprozess des Waisenjungen Philip Carey, der mit einem angeborenen Klumpfuß und einer Sprachstörung den Durchbruch zu einem selbstbestimmten Leben schafft. Der Roman ist stark autobiografisch gefärbt; mit schonungsloser Offenheit beschrieb Maugham hier seine leidvolle Kindheit und Jugend. Mit Of Human Bondage, heute ein Klassiker der englischen Literatur, schaffte er den ehrgeizig angestrebten Durchbruch als Romancier.

Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er zeitweise als Sanitäter für den britischen Geheimdienst in der neutralen Schweiz. Die Erfahrungen und Erlebnisse bei dieser Mission verarbeitete er später in den Erzählungen Ashenden (1928, dt. Ein Abstecher nach Paris (1969)). Damit legte Maugham gewissermaßen den Grundstein der modernen Spionageliteratur. Besonders Eric Ambler, Graham Greene und Ian Fleming sind ihm hierin gefolgt.

1916 heiratete Maugham die Innenarchitektin Gwendolen Maude Syrie Wellcome (1879-1955), obwohl er bisexuell war. Das Paar lebte die meiste Zeit getrennt. Maughams eigentlicher Lebenspartner war der Amerikaner Gerald Haxton (1892-1944), der sein Sekretär und Intimus wurde. Wegen seiner homosexuellen Neigung war Haxton mit der britischen Justiz in Konflikt geraten und als unerwünschter Ausländer auf Lebenszeit aus England verbannt.

1919 erschien Maughams Künstlerroman The Moon and Sixpence (dt. Silbermond und Kupfermünze (1927)). Der vierzigjährige Börsenmakler Charles Strickland durchbricht hier seinen bisherigen Lebenskreis. Er gibt seine bürgerliche Existenz auf und verlässt seine Familie, um seinen alten Traum, Maler zu werden, zu verwirklichen. Zunächst führt er in Paris und dann in Marseille ein armseliges Dasein, ehe er auf Tahiti das findet, wonach er verzweifelt gesucht hat. Als Vorlage für die Romanfigur diente Maugham die Lebensgeschichte des französischen Malers Paul Gauguin.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hielt sich Maugham nur wenig in England auf. „Ich kann nirgendwo länger als drei Monate bleiben.“ Mit Haxton lebte er in Frankreich und in Spanien, in den USA und in der Schweiz, gemeinsam reisten sie in den Fernen Osten und in die Südsee. Diese Reisen, vor allem der Ferne Osten, erwiesen sich für Maugham als eine literarische Fundgrube. Von überall brachte er Geschichten mit, die sich zu Erzählungen und Romanen verarbeiten ließen. Für den eher scheuen Maugham war dabei das soziale Talent von Haxton sehr hilfreich. Meist stellte er mit seinem freundlichen Wesen den Kontakt zu den Menschen auf Schiffen, Clubs oder Hotels her. Ohne seine Hilfe wären vielleicht viele Geschichten nicht entstanden.

Die zahlreichen Short Stories, die zumeist in den 1920er und frühen 1930er Jahren entstanden und häufig einen exotischen Schauplatz hatten, publizierte Maugham in acht einzelnen Bänden und später als The Complete Short Stories (dt. Gesammelte Erzählungen). Mitunter spielen die Geschichten in den entlegensten Ecken der Erde, mal in den Chinesenvierteln von Singapur, mal auf einem Kreuzfahrtschiff, im sibirischen Wladiwostok oder in einem vornehmen Hotel an der französischen Riviera. Palmen, Ozeandampfer, Dschungelplantagen, elegante Damen, versnobte Gentlemans, italienische Villen oder Pariser Bohème – das alles waren die Requisiten für seine Romane und Erzählungen. Maugham besaß ein untrügliches Gespür für Geschichten; seine Vorbilder waren Guy de Maupassant und Anton Tschechow. Seine Phantasie und Fabulierkunst waren hier unerschöpflich.

Zu den bekanntesten Geschichten gehören Rain (1921, dt. Regen) und The Book-Bag (1932, dt. Der Büchersack). In Rain begegnet uns ein selbstgerechter Missionar in Amerikanisch-Samoa, der eine unerbittliche Moral predigt, an der er am Ende selbst scheitert. Dabei legt Maugham die Heuchelei und den selbstgerechten Glaubenseifer dieses religiösen Fanatikers offen. Wie von vielen seiner Geschichten fertigte Maugham auch von Rain eine Bühnenfassung an, die erfolgreich am Broadway lief.

In The Book-Bag ist der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, viel auf Reisen, die er nie ohne seinen Büchersack antritt – Lektüre für einsame Quartiere oder langweilige Gastfreundschaften. Doch in einer abgelegenen malaiischen Stadt ist sein ständiger Büchervorrat nicht notwendig, denn sein Gastgeber offenbart ihm eine Geschichte, wie sie nur das Leben oder besser die Liebe schreibt, die aber in einer Tragödie endet. Bekannt geworden ist vor allem der Beginn der Geschichte, wo Maugham seine Bücherleidenschaft offenbart:

Manche Menschen lesen zu ihrer Belehrung, was löblich ist, und manche zu ihrem Vergnügen, was harmlos ist, aber nicht wenige lesen aus Gewohnheit, und das ist weder harmlos noch löblich. Zu dieser beklagenswerten Gruppe gehöre ich. Gespräche langweilen mich nach einer gewissen Zeit, Spiele ermüden mich, und meine eigenen Gedanken, die nie versagende Zuflucht eines verständigen Menschen, wie behauptet wird, neigen leider dazu, zu versiegen. Und dann stürze ich mich auf meine Bücher wie der Opiumraucher auf seine Pfeife.

Viele von Maughams Erzählungen sind verfilmt worden, sogar mehrfach, und meist mit prominenten Schauspieler*innen wie Secret Agent (1936) mit Peter Lorre und Lilli Palmer, The Letter (1940, dt. Der Brief) mit Bette Davies oder Rain (1953, dt. Fegefeuer) mit Rita Hayworth.

Abgesehen von einer Reise nach Indien ging Maughams starke Reisetätigkeit in ferne Länder in der Mitte der 1930er Jahre zurück. Verstärkt hielt er sich in seiner „Villa La Mauresque“ auf, ein riesiges Anwesen auf der Halbinsel Cap Ferrat bei Nizza an der französischen Riviera, das er bereits 1927 erworben hatte. Hier empfing er standesgemäß seine Gäste. Doch nach dem Einmarsch deutscher Truppen 1940 in Frankreich flüchtete er über England in die USA, wo ihn sein amerikanischer Verleger Nelson Doubleday ein geräumiges Cottage auf seiner Plantage einrichtete. In der ruhigen und luxurösen Atmosphäre arbeitete Maugham an seinem autobiografischen, philosophischen Altersroman The Razor’s Edge (1943, dt. Auf Messers Schneide). Im Zentrum steht der junge Kriegsheimkehrer Larry, der als Flieger im Ersten Weltkrieg nach dem Sinn des Lebens sucht. Anhand von Larrys Biografie und Lebensläufen verschiedener Nebenfiguren blickte Maugham hier wehmutsvoll auf die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen zurück. Dabei fungierte der Ich-Erzähler („Mr. Maugham“) als objektiver Beobachter und Kommentator.

Als Maugham und Haxton 1946 nach Cap Ferrat zurückkehrten, fanden sie ihre Villa in einem katastrophalen Zustand vor – eine Folge des Krieges und der unterschiedlichen Besatzungsmächte. Dank seines Vermögens konnte er sie jedoch wieder instandsetzen. Mit den beiden Romanen Then and Now (1946, dt. Damals und Heute) und Catalina (1948, dt. Catalina) versuchte sich Maugham auf historischem Gebiet. Allerdings mit mäßigem Erfolg, es war einfach nicht sein Genre. Mit Creatures of Circumstance (1947, dt. Schein und Wirklichkeit (1959)) publizierte er eine letzte Sammlung von Geschichten. Maughams letzte Veröffentlichung A Writer’s Notebook (1949, dt. Aus meinem Notizbuch (1954)) gilt als eine Art literarisches Testament. In dem Journal, das zu seinem 75. Geburtstag erschien, blickte er auf sein Schriftstellerleben zwischen 1892 und 1944 zurück, angereichert mit Anekdoten, Reflexionen und Porträts.

In seinen letzten Lebensjahren bemühte sich Maugham um eine Gesamtausgabe seiner Werke und publizierte mehrere Essaybände (1958). Mit 85 Jahren unternahm er noch eine längere Reise in den Fernen Osten. Danach verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends; er erkrankte an Tuberkulose. William Somerset Maugham starb, fast erblindet, am 16. Dezember 1965 in seiner Villa an der Riviera.

Mit weit über 100 Millionen Exemplaren in vielen Sprachen zählt Maugham zu den meistgelesenen englischsprachigen Autoren des vorigen Jahrhunderts. Diese Verbreitung seines Werkes zeugt von der großen Beliebtheit in weiten Leserkreisen. Maugham war ein Meister des traditionellen Erzählens, der immer ein Handwerker blieb und dem es gelang, „nie eine langweilige Zeile zu schreiben“. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit spielen in seinen Werken kaum eine Rolle. Ihn interessierten vielmehr die Verhaltensweisen der Menschen, ihre Hoffnungen, Ängste und Enttäuschungen. Seine Geschichten mit den weltumspannenden Schauplätzen sind eine genaue Beobachtung der Wirklichkeit, gepaart mit philosophischen Reflexionen, womit sie nichts an Aktualität und Reiz verloren haben. Von den Kritikern wurden seine Romane und Erzählungen oft als „gehobene Unterhaltungsliteratur“ abgetan, umso mehr waren seine Leser*innen dankbar für die vielen vergnüglichen Stunden, die er ihnen geschenkt hat. Auch zahlreiche Schriftsteller*innen sparten nicht mit Anerkennung: „Der alte Herr von Cap Ferrat hat der Welt im Wesentlichen nur kleine Geschichten geschenkt. Aber sie haben Größe.“ (Jean Améry (1912-1978)) Oder: „Am stärksten beeinflusst unter den modernen Schriftstellern hat mich Somerset Maugham; ich bewundere zutiefst, wie er eine Geschichte gerade und ohne Schnörkel vorantreibt.“ (George Orwell (1903-1950)) Und Marcel Reich-Ranicki (1920-2013): „Was brauchen wir also? Romane, deren Autoren es sich schwer machen, damit die Leser es sehr leicht haben. […] Ein deutscher Somerset Maugham – ist das etwa ein utopischer Traum?“

Der Diogenes Verlag hat sich seit Jahrzehnten um das Werk von W. Somerset Maugham äußerst verdient gemacht. Seit 2005 erscheint eine Neuausgabe seiner Romane und Erzählungen in revidierten Übersetzungen, darunter auch einige Hörbücher und die Gesammelten Erzählungen in sechs Taschenbuchausgaben. Zum 150. Todestag hat er in seiner Reihe diogenes deluxe eine Nachauflage der Erzählung Up at the Villa (1941, dt. Oben in der Villa) herausgebracht. Erzählt wird die Geschichte der wohlhabenden, jungen Engländerin Mary Panton. Nach dem Tod ihres Mannes vor einem Jahr lebt sie in einer wunderschönen Villa in der Toskana, die ihr Edgar Swift, ein alter Freund der Familie, zeitweise überlassen hat. Der 54-jährige Junggeselle macht ihr einen Heiratsantrag, doch Mary bittet sich ein paar Tage Bedenkzeit aus. Aber die Frist gerät unverhofft zum aufregendsten Abenteuer ihres Lebens. Im Laufe der turbulenten Handlung lernt die hübsche Witwe den heruntergekommenen, aber gutaussehenden Rowley Flint kennen, zu dem sie eine kurze Leidenschaft entwickelt. Und dann ist da noch Karl Richter, ein österreichischer Student der Kunstgeschichte und dilettantischer Violinist, mit dem sie eine Liebesnacht verbringt, die jedoch in einer Katastrophe endet. Wie wird sich Mary entscheiden? Eine bewegende Liebesgeschichte mit einem kriminalistischen und einem zeitgeschichtlichen Hintergrund.

Titelbild

W. Somerset Maugham: Oben in der Villa.
Aus dem Englischen von William G. Frank und Ann Mottier.
Diogenes Verlag, Zürich 2023.
176 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783257261769

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch