Alles auf mich oder: Salchers Rache
Christoph Salchers Erzählerfigur versucht sich als Schriftsteller und wäre zugleich gerne Daniel Kehlmann, um ihn dann als Erfolgsautor abzulösen
Von Stephan Wolting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Frage, die sich bei der Lektüre von Christoph Salchers Werk schon nach wenigen Seiten stellt, lautet, inwieweit Daniel Kehlmann oder der Rowohlt-Verlag bei der Fertigstellung des Buchs selbst miteinbezogen wurden. Es gibt nicht wenige Stellen im Buch, die ohne Einverständniserklärung von Autor oder Verlag nicht möglich wären, zu tollkühn und mitunter grotesk-überkritisch erscheint die Haltung des Protagonisten Kevin Fellner, aus dessen Position die Geschichte erzählt wird. Im Anhang findet sich allerdings keine Danksagung oder Ähnliches. Zugleich macht aber genau dieses Vorgehen das große Lesevergnügen aus, das sich bei der Leser*innenschaft einstellt, nicht zuletzt deshalb, weil dem Autor beziehungsweise dem Erzähler nichts heilig ist, nicht mal oder schon gar nicht die eigene Person. Immer wieder kommt einem dabei das Nestroy-Zitat in den Sinn: „Ich habe von den Menschen, mich eingeschlossen, immer das Schlechteste angenommen, und ich bin selten enttäuscht worden.”
Diese zum Teil etwas misanthropische Haltung teilt er mit Daniel Kehlmanns Protagonisten in Ich und Kaminski. Das ist übrigens nicht das Einzige, was sie miteinander teilen: In diesem Werk wird ganz bewusst auf Passagen aus Kehlmanns Ich und Kaminski (etwa mit der Freundin Nina, die er ähnlich wie der Protagonist in eben jenem Buch finanziell schamlos ausnutzt), aber auch auf andere Werke Kehlmanns ansgepielt. Was die Erzählerhaltung betrifft, so lehnt es sich allerdings an jenes Werk besonders an, worauf sich bereits im Titel bezogen wird. Diese Haltung besteht neben der Misanthropie nicht zuletzt in der absoluten Überschätzung seiner selbst, sowie dem Versuch, auf Kosten eines Promis oder eines Bekannten, in dem einen Falle von Kaminski, in dem anderen von Kehlmann, selbst berühmt zu werden, und an dessen Stelle zu treten.
Christoph Salcher betritt mit seinem Werk auf gewisse Weise Neuland. Er nimmt in einer Art von kongenialem Weiterschreiben direkt Bezug auf Kehlmanns Werke, etwa auf Mahlers Zeit, einem „typischen Frühwerk, voll von Fehlern”, Unter der Sonne oder Beerholms Vorstellung unter anderem, insbesondere aber auf Ich und Kaminski, bis in einzelne Episoden hinein. Je weiter das Werk fortschreitet, umso mehr mischt sich auch Kehlmanns Tyll in einer Art Alter-Ego des Protagonisten und mit Zitaten immer mehr in die Handlung ein.
Das Werk fängt etwa auch mit der defekten Birne aus Ich und Kaminski in der Zugtoilette an. Aber auch auf andere Werke wie Die Vermessung der Welt oder Ähnliches wird angespielt. Noch entscheidender ist aber, dass er die Haltung von Kehlmanns Erzählerfiguren übernimmt. Und in dem Sinne weiterführt, so dass auf diese Weise eine ähnliche Komik wie bei Kehlmann entsteht. Dass der Protagonist, in beiden Fällen der Ich-Erzähler, eine komplett andere Weltwahrnehmung – gerade auch im phänomenologischen Sinne – als seine Mitwelt hat, erhöht das Vergnügen an der Lektüre der Beschreibung der Umwelt noch einmal.
Beide Protagonisten sind in ihrer Ich-Blase, in ihrem Ich, nicht zuletzt in ihren eigenen Bedürfnissen, gefangen; freudianisch könnte man sogar von Es sprechen, in dem Sinne, dass wo Es war Ich werden soll. Sie legen jede Bemerkung zu ihren Gunsten aus, sie sind vor allem von sich selbst begeistert, ohne dabei Rücksicht auf andere zu nehmen. Und sie lassen sich in ihrer Begeisterung für sich – bis auf einige wenige Momente, in denen ihre Maske fällt – selten stören. Manchmal allerdings wird nicht ganz klar, wann ist Kaminski bzw. Kehlmann der Widerpart und wann stehen diese Figuren für das Umfeld oder die Umwelt insgesamt, die dann auf die Protagonisten reagiert, etwa in Person der Verlagsredakteure oder eines Praktikanten vom Rowohlt-Verlag, der auf den „Fall Kevin Fellner” angesetzt wird, während sich die eigentlich dafür zuständige Redakteurin nicht blicken lässt.
Darüber hinaus wird das Werk selbst zum Gegenstand des Werks gemacht. Es ist deshalb nicht zuletzt ein Werk über den Literaturbetrieb, etwa in Form der Frankfurter Buchmesse oder der Institutionen und Verlage selbst wie den Rowohlt-Verlag. Aber vor allen Dingen ist es ein Werk über den Versuch des sich Verfügbarmachens eines Schriftstellers oder eines Stars, wie man es eigentlich sonst oft in Nekrologen feststellen kann. Auf diese Weise stellt es prägnant eine bestimmte Haltung innerhalb der literarischen Szene heraus, in Person des Protagonisten, dem es eigentlich nur darum geht, selbst bekannt zu werden. Dabei geht er mit allen Mitteln vor und, zumindest in der Vorstellung, sogar über Leichen. Ähnlich wie es Kehlmann in Ich und Kaminski vorgemacht hat, würde der Protagonist auch über die Leiche Daniel Kehlmanns gehen, wie er mehrfach betont: „Spürte er seinen Fall? Sein Verschwinden, seine Auslöschung, verursacht durch mein Erscheinen?“
Wodurch vor allem Komik entsteht, ist ähnlich wie in Ich und Kaminski, das absolute Aneinandervorbeireden der Personen; sie nehmen zum Teil genau das Gegenteil von dem des anderen wahr, wie es etwa in der Passage mit dem Praktikanten des Rowohlt-Verlags Jürgen Schneider, aber auch im Gespräch mit den Lektoren anderer Verlage vorexerziert wird, denen der Ich-Erzähler frühere Werke, darunter ein Theaterstück etc., „andrehen” will. Aber es wird nicht allein die menschliche Schwäche und Eitelkeit entlarvt, sondern vor allem auf der einen Seite der Buchbetrieb sowie auf der anderen die (österreichische) Gesellschaft in Form der Lift- oder Hotelbetreiber sowie des Personals. In diesem Falle handelt es sich durchaus um eine Art von Gesellschaftsroman und das macht den Reiz oder den „doppelten Boden” des Werks aus.
Es geht also nicht allein um ihn und Kehlmann, sondern letztendlich auch um einen gesellschaftlichen Archetyp eines Protagonisten, der sich absolut falsch einschätzt, viel zu viel von sich hält, in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Institutionen und leeren Gebärden; das kulturell-gesellschaftliche Gehabe wird bis in kleinste Verästelungen desavouiert. Es handelt sich also nicht allein um die Kritik an der Vergöttlichung eines Promis wie Daniel Kehlmann – der auch nur „ein Mensch ist”, an der Rezeption des Hotels Inside die gleichen Probleme wie der Erzähler hat –, sondern um die Herausstellung von Repräsentanten eines eitlen und oberflächlichen Systems, das an sein Ende gekommen ist und sich als nicht mehr überlebensfähig erweist: „Plötzlich erschien mir der ganze Literaturbetrieb nur noch wie eine einzige Krankheit, wie eine einzige Karikatur.“
Die Verbindung zum Ausgangswerk Kehlmanns geht bis in einzelne Szenen hinein. Ähnlich wie Kehlmann wird auch in Salchers Werk ein unsympathischer Protagonist mit seinen aggressiven, oft allerdings nur „innerlichen Bemerkungen“, auch eine der „Techniken“ Kehlmanns, wenn wir beispielsweise auch an sein letztes Werk Lichtspiel denken. Die schon erwähnte Komik entsteht nicht zuletzt dadurch, dass der Protagonist etwas völlig anderes denkt, als das, was er dann sagt. Darüber hinaus sitzt der Protagonist Kevin Fellner zudem einem völligen Missverstehen und einer Fehleinschätung von Situationen auf, an denen er selbst beteiligt ist. Besonders deutlich wird das etwa, als er nicht mehr mit einem Anruf der Verlagsredakteurin Judith Thurner rechnet, diese mit seiner Freundin Nina verwechselt und er erst im Verlauf des Gesprächs checkt, um wen es sich eigentlich handelt. Aber wie jedes Gespräch wendet er auch dieses wieder zu seinen Gunsten im Sinne von „alles auf mich“: Ich werde und kann nichts falsch machen und wenn jemand mich nicht für ein Genie hält, so hat die oder der es nur noch nicht begriffen.
Getragen wird aber der ganze Roman von der Hassliebe des Protagonisten zu dem Autor Kehlmann, die Versuche, so zu werden wie er, indem er zum Beispiel dessen Hotelzimmer – man weiß nicht, ist die Szene real oder nur ein Traum des Protagonisten – bei der Frankfurter Buchmesse durchsucht, mit der Absicht, „diesen Kehlmann“ zugleich zu zerstören, und sich selbst an die Stelle zu setzen. In diesem Zusammenhang treten auch Stalker-Ambitionen und sogar Vernichtungs- oder Mordphantasien beim Protagonisten deutlich zutage, Kehlmann ist zu seiner Obsession geworden. Er glaubt, nur überleben zu können, wenn er sich in einer Art Totalidentifikation an dessen Stelle setzt: „Menschen, worauf es im Leben ankommt, sind wenige.” (im Original kursiv gedruckt)
Dabei erleidet der Protagonist deutliche Realitätssverluste, die sich in tragikomischen Situationen ausdrücken. Während der Frankfurter Buchmesse kriecht er unter den anderen Besucher*innen hindurch, um zur Bühne zu kommen, wo angeblich Kehlmann gerade auftritt – was sich dann als falsche Annahme erweist. Man könnte in diesem Zusammemhang an das berühmte Thomas-Theorem denken: „If men define situations as real, they are real in their consequences”.
Als eine interessante Volte erscheint zudem, dass der Protagonist scheinbar im Traum wieder in seinen Beruf des Lehrers zurückkehrt und dabei auch in den zum Teil komisch-aggressiven Schilderungen seiner Schüler*innen die Position des Lehrers einnimmt. Damit steht er im Gegensatz etwa zu den Beschreibungen des Deutschen Buchpreis-Träger Antonio Schachingers in Echtzeitalter, der die Position der Schüler*innen einnimmt. Besonders grotesk-komisch wirkt die Szene, in der der Schuldirektor den Roman Fellners vor dessen Augen verbrennt und anschließend aus dem Fenster springt.
Insgesamt kann man sagen, dass Salcher ein in sich sehr stimmiges Buch mit satirisch sarkastischen und vielen tragikomischen Situationen geschrieben hat, das sich intertextuell zum Teil auf Stellen bei Kehlmann bezieht, zum anderen Teil aber auch eigene Wege geht, wobei die Perspektive und der Sprachduktus beibehalten werden. Das Buch ist vor allem denjenigen sehr zu empfehlen, die diese Art von schwarzem Selbsthumor mögen. Dabei schimmert zugleich das Tragische einer solchen Existenz durch, was das Werk noch einmal besonders lesenwert erscheinen lässt. Über das einigermaßen überraschende Ende einer das gesamte Buch durchziehenden Reise von Zell am See zur Frankfurter Buchmesse mit allen Implikationen, soll hier nicht mehr verraten werden: Die Leser*innen mögen sich selbst überraschen lassen. Nur soviel sei noch verraten: Sachers Werk endet genau nach XI Kapiteln, er lässt genau das letzte Kapitel weg, das der Protagonist Fellner, der trotz mancher Selbsterkenntnis und einer Art Zusammenbruch dennoch einigermaßen lernresistent bleibt, immer wieder ankündigt, über das er immer wieder stolpert, das er schreibt und das ihm dennoch wieder verlustig geht, sodass man am Ende den Eindruck hat, die Literatur ist wie das Leben: nie zu Ende… solange man lebt.
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