Eintauchen in Fremdheit und den Widerspruch atmen lassen
Dominic Angeloch seziert in „Die Wahrheit schreiben“ die Poetik George Orwells als kritische Schreib- und Lebenspraxis gegenüber den Verlockungen des falschen Bewusstseins
Von Simon Scharf
Am Anfang muss das Geständnis des Rezensenten stehen, dass der eigene Zugang zum Werk George Orwells bisher auf die kanonischen Texte Animal Farm und 1984 beschränkt war. Die Auseinandersetzung des Literaturwissenschaftlers und Psyche-Chefredakteurs Dominic Angeloch vor allem mit dem frühen (und eher weniger bekannten) Orwell erweist sich auch vor diesem Hintergrund als besonders reichhaltig. Sie schärft in ihrer Detailtiefe, ihren close readings, der Zugänglichkeit des Stils und der alles in allem enorm umfassenden Kenntnis ihres Autors das Bild eines Schriftstellers, dessen Wirkmächtigkeit und Bedeutung in Angelochs Analysen dezidiert zum Ausdruck kommen. Augenöffnend ist dabei zum einen die unterschätzte Relevanz des Kolonialismus für das Orwellsche Leben und Werk, aber auch die literaturtheoretische Tragweite seiner Texte, die gewissermaßen ein umfassendes Bild seines kritischen Weltzugangs zutage fördert, dem Angeloch hellsichtig nachspürt.
So wird die Beschäftigung mit George Orwell schlichtweg unpräzise, wenn sie den Kern seiner Auffassung von Literatur nicht fortwährend thematisiert und in einen direkten Zusammenhang mit seinem Werk stellt. Die literarischen Texte Orwells haben so gewissermaßen immer einen integrierten Horizont ihrer eigenen Theorie, sind Modelle von Schreib- und Welterfahrung. Vor diesem Hintergrund zeigt Angeloch, wie Orwell im literarischen Text Lebenserfahrung transformiert, verdichtet, neu konfiguriert und als eigenen, individuell konstruierten Erzählzusammenhang entwirft. Der Text wird als „emotionale Erfahrung im Prozess des Erinnerns“ verstanden und ist dabei Fixpunkt einer Stufenfolge: Aus Lebenserfahrung wird Schreiberfahrung, die wiederum in eine ästhetische, eine Leseerfahrung und final in eine philologische Erfahrung übergeht. Diese Allgegenwart der Erfahrung in ihren verschiedenen Formen zielt am Ende auf den Nachvollzug durch die Lesenden, zielt darauf, einen eigenen Realitätszugang gewinnen zu können – angestoßen durch das literarische Changieren zwischen Fakt und Fiktion.
„Lebenserfahrung“ bezieht sich bei Orwell auf die Irrungen und Wirrungen einer umfassenden Biografie, deren Thematisierung hier nur unzureichend und vor allem additiv sein kann: Seine sicherlich zentralste Erfahrung, die den frühen Orwell möglicherweise zum eigentlichen Orwell werden lässt, bildet dabei die Zeit im Kolonialpolizeidienst in der britischen Kolonie Burma und die entsprechenden Erfahrungen im weitgespannten Netz des kolonialistischen Gewalt- und Unterdrückungsregimes des Empirea als Vertreter der Exekutive. An die danach folgende Zeit als Angestellter bei der BBC schließt sich Orwells Zeit in der „Unterwelt“ an: Über Jahre konnte er in Arbeitervierteln, als Obdachloser, Landstreicher, Erntehelfer und Minenarbeiter gelebte Erfahrungen in Form ideologiekritischer Sozialreportagen dokumentieren – zunächst in einer Beobachterrolle mit der Möglichkeit, sich aufgrund der eigentlichen wirtschaftlichen Sicherheit wieder von den Schauplätzen entfernen zu können, später in Paris (nach dem Wegfall aller finanzieller Rücklagen) ohne eine solche „Rückkehroption“. Bevor Orwell dann als Kriegskorrespondent für verschiedene britische Zeitungen in Deutschland, Frankreich und Österreich arbeitet (und später verwundet nach England zurückkehrt), ist er vor anderer Kulisse aktiv: Im Kontext des Spanischen Unabhängigkeitskriegs gegen den Franco-Faschismus entwickelt er zunächst seine Vorstellungen des Sozialismus weiter und greift auf republikanischer Seite schließlich auch in konkrete Kampfhandlungen ein.
Dominic Angeloch analysiert anschaulich und minutiös diese biografischen Etappen in ihren literarischen Verflechtungen und wirft dabei diverse Schlaglichter auf Orwells handlungs- und eben immer auch werkleitende Überzeugungen, als Matrix seiner Poetik: Seine Zeit in Burma und die dort empfundene Schuld, im Polizeidienst vollstreckender Teil eines imperialistischen Systems britischer Gewaltherrschaft zu sein, werden zum Ausgangspunkt einer massiven Kritik am kolonialen Ausbeutungs- und Unterdrückungszusammenhang, der sich gerade in Form von Kontrolle und Folter manifestiert und Gesellschaften in Herrschende (tyrannische Kolonialbeamte) und Beherrschte aufteilt – wodurch am Ende die individuelle Freiheit des Einzelnen auf der Strecke bleibt. Orwell, der diese Phase seines Lebens als Beginn einer nach und nach literarisch ausgearbeiteten ethischen Grundposition begreift, proklamiert weitergehend die generelle Ablehnung von Herrschaft des Menschen über den Menschen, woraus sich später dann Umrisse eines neuen und eigenen Verständnisses des Sozialismus ableiten lassen.
Die Erfahrungen im Kolonialismus führen Orwell in Leben und Werk unmittelbar in die Auseinandersetzung mit den „Parias vor der eigenen Haustür“, den britischen Arbeitern, Landstreichern und Obdachlosen, die gleichsam als Opfer des kapitalistischen Ausbeutungszusammenhangs erscheinen und im eigentlich dem britischen Bürgertum und seiner hermetisch geschlossenen Welt zugehörigen Orwell Dimensionen der Selbstkritik offenbaren. Hier verdichtet sich – wie Angeloch spannend und detailversessen zeigt – eine für Orwells Werke charakteristische Poetik der Parteilichkeit als Grundprinzip seiner Texte: Fortwährend geht es ihm um das Kenntlichmachen der Lüge, der Ungerechtigkeit und des falschen Bewusstseins; der Wahrheit verpflichtet will er konfrontieren mit dem Unangenehmen, der Angst und den allgegenwärtigen Widersprüchlichkeiten, die die skizzierten pluralen Realitäten durchziehen. Die entscheidende und sämtliche Texte Orwells durchziehende Methode, um das beschriebene Ziel zu erreichen, ist das immersive Eintauchen in fremde soziale Realitäten, das er auf besondere und vielschichtige Weise perfektioniert. Vor allem seine Expeditionen im Rahmen der britischen Arbeiterklasse (in starker Distanz zur eigenen Klassenzugehörigkeit des Bürgertums) leben von der Empathie unmittelbarer Erfahrung, zumal Orwell sich ganz konkret jene Welten aktiv einverleibt und den direkten Kontakt zu den entsprechenden Protagonisten sucht. Sein Ziel ist die permanente und immer wieder korrigierende Arbeit an der Beschränktheit der eigenen Perspektive als nie abgeschlossener Prozess. Für seine literarische Praxis zentral sind dabei sowohl Unmittelbarkeit des Zugangs als auch das Abbilden vielfältiger Perspektiven im Sinne einer Polyphonie der Stimmen, bei der die eigene Stimme nur untergeordnet von Bedeutung ist. Diesbezüglich eindrücklich ist dabei konkret der Nachvollzug des Hungers:
Hunger ist eine körperliche Erfahrung; man muss selbst empfinden, wie er Körper und Denken schwächt und alles andere, das sich vorher so wichtig ausnahm, völlig gleichgültig macht, um zu wissen, was Hunger wirklich bedeutet – eine Grenzerfahrung, die anders, wie etwa mit freiwilligem Fasten, einer Modeerscheinung der oberen Klassen, nicht zu machen ist.
Auch die intensive literarische Darstellung einer Schauexekution, deren Unmenschlichkeit im Lesenden eine transformative Kraft entfalten soll, oder die minutiösen und beim Lesen bereits quälenden Schilderungen gebückten Gehens im Rahmen der Minenarbeit involvieren direkt in das Geschehen, das normalerweise weit außerhalb der Erfahrungswelt der Lesenden liegt. Verstärkt wird der Eindruck des Miterlebens außerdem über Strategien der Mündlichkeit oder des direkten Ansprechens des Lesenden.
Orwell entwickelt nicht nur eine elaborierte Kritik an kolonial geprägten Gewalt- und Ausbeutungsverhältnissen, gerade seine Zeit im Kampf für die Unabhängigkeit Spaniens gegen den Faschismus ist vielmehr geprägt von theoretischen und gelebten Formen der Utopie: In der Ablehnung des Kommunismus sowjetischer Prägung eröffnen sich für den Schriftsteller Denkmöglichkeiten eines Sozialismus ohne Kollektivismus als echter Form desselben. Orwell imaginiert eine Art klassenlose Gleichheit, die auf einer Befehlshierarchie beruht, aber darüber hinaus die Gleichheit der Menschen garantiert und damit das Herrschen über den Menschen negiert. Interessanterweise lassen sich hier Verbindungen in Richtung Gegenwart ziehen, zumal jene Überlegungen Orwells auch substanzielle Zweifel am Kapitalismus offenlegen.
Dominic Angeloch gelingt es in beeindruckender Weise, die Prägungen des frühen Orwell zum Ausgangspunkt einer detailreichen, fundierten und dabei ungemein lesbaren Biografie- und Werkanalyse zu machen und dabei eine Tiefe zu erreichen, die nicht nur das eingeschränkte Bild des Autors von 1984 anreichert, sondern auch zu einer Gesamtpoetologie vordringt, die zugleich literaturtheoretische Tragweite hat. So bleibt zu hoffen, dass Angelochs Buch zum Standardwerk in der Beschäftigung mit George Orwell avanciert und viele seiner bisher eher übersehenen frühen Texte neu gelesen, eingeordnet und als durch und durch ambitionierte und hellsichtige Werke eines immer wieder aktuellen Autors begriffen werden.
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