Wechselnde Mundstücke und melancholische Salamander

Rainer Wieczorek spielt ernst- und meisterhaft mit den Widrigkeiten der Kunst im gesellschaftlichen Grundrauschen – Band 3 seiner Werkausgabe „Kunst und Konflikt“

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Rainer Wieczoreks Texte liest, sieht sich immer mit Anschaulichkeit, Pointiertheit und Kürze konfrontiert, aber auch mit allgegenwärtigen Fragezeichen, mit Brüchen in der Erzählkonstruktion und dem inhaltlich konstant wirkmächtigen Thema des Künstlers/der Künstlerin in der Gesellschaft, weshalb der Titel des Bandes Kunst und Konflikt auch über der Werkausgabe als solcher stehen könnte. Das Konflikthafte beherrscht dabei nicht nur den thematischen Fokus der Texte (vor allem in der untergründigen Diskussion um die Relevanz der Kunst vor dem Hintergrund kapitalistischer Ökonomie), es prägt auf tiefgreifende Weise wesentlich die diskursive Form und Struktur seiner Literatur, bei der das Novellenhafte den Modellcharakter der einzelnen Texte schärft: Hier wird etwas exemplarisch und in bedeutungsvoller Tragweite durchgespielt, angedacht, hinterfragt, doppelbödig in Form immanenter Kritik angereichert, verworfen und/oder präzisiert; Wieczorek ist durchgehend am Glutkern einer möglichkeits- und perspektiverweiternden Literatur verortet, offen für den Wandel und das Spiel des Literarischen in seiner ganzen Kraft.

Schauplatz der Novelle Pirmasens ist der offenbar gläserne Raum eines Künstlerateliers in einer ehemaligen Schuhfabrik im Zentrum einer gleichnamigen rheinland-pfälzischen Stadt. Einst florierendes Zentrum der Schuhindustrie (assoziiert mit dem Namen „Salamander“) seit den Wirtschaftswunderjahren nach 1961, befindet sich die zuvor wohlhabende Stadt im Niedergang: Die internationale Konkurrenz im Bereich der Schuhindustrie hat für entsprechende Einbußen und Abwanderungen gesorgt; „Pirmasens entkommen“ scheint zum Credo derjenigen geworden zu sein, die dem Verlust des Alten nicht einfach zusehen, sondern ein neues Leben an anderer Stelle aufbauen wollen. Mit dieser Form der Deindustrialisierung gewissermaßen als signifikanter Wendepunkt der Stadtentwicklung prägen nun Fitnessstudios, Seniorenheime, Döner-Imbisse und das flackernde Bildschirmleuchten privater Innenräume das Bild in Pirmasens.

Die Künstler Danski, Wajaroff und Amrein sind die Protagonistinnen und Protagonisten dieses Settings – unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehend blicken sie auf eine untergehende, im Verlust begriffene Welt und versuchen sich an Erklärungen. Sie schauen – sinnbildlich und konkret in Form des Fensterplatzes – mit Distanz zum Geschehen und von einer Metaposition aus auf die sie umgebende Welt. Gekonnt und zugleich subtil spinnen sich hier erneut Wieczoreks Fäden einer Reflexion zur ambivalenten Rolle des Künstlers/der Künstlerin in der Gesellschaft ein: Blickt dieser zwar geistig unabhängig und autonom auf die Gesellschaft, sorgt letztere verstärkt für seine wirtschaftliche Benachteiligung und das Existenzgefährdende seiner Rolle, zumal er gesellschaftlich und systemisch weitgehend ignoriert wird. In der permanenten Gefahr, vergessen, übersehen und als irrelevant markiert zu werden, ringt er gewissermaßen um seinen Platz. Die handwerklich tätige Künstlerin Amrein, die mit verschiedenen Materialien arbeitet und sich schwerpunktmäßig mit geometrischen Formen und Strukturen beschäftigt, wird dabei weitgehend ignoriert und als im Hintergrund tätig beschrieben. Die Handlung dominieren die anderen beiden Figuren – Danskis Reflexionen konzentrieren sich auf die Geschichte des Jazz, die prekäre Rolle des Künstlers/der Künstlerin darin, Weiterentwicklungen des Genres oder die Rezeptionsgeschichte des Jazz insgesamt, auch in seiner gesellschaftlichen Relevanz; Wajaroff führt durch die Geschichte Pirmasens’ und integriert dabei vor allem die Historie wichtiger Vereine und Jugendbewegungen (gerade im Zuge des Nationalsozialismus) oder einige vogelkundliche Beobachtungen. Das 20. Jahrhundert bildet insgesamt den zentralen Fixpunkt dieser gewissermaßen „alten“ Welt im Übergang, die hier erzählerisch noch einmal heraufbeschworen und vergegenwärtigt wird, wenngleich – man würde Wieczorek substanziell missverstehen, wenn man hier Eindeutigkeiten erwartete – das Ganze überaus ambivalent in Erscheinung tritt und keinesfalls etwa als reine Kapitalismuskritik diskutiert wird.

Diese Mehrdeutigkeit des Erzählens prägt schließlich die formalen Rahmenbedingungen der Novelle: Mehr und mehr distanzieren sich die Figuren von ihrem elterlichen Schöpfer, den sie als passiven Genussmenschen, welcher autoritär über sie bestimmt, denunzieren. Wenn ein Protagonist fragt „Warum tut Wieczorek das?“, wird der Autor spannenderweise zum ominösen Vierten der Novelle und damit regelrecht zur Disposition gestellt: Kritisiert wird der Handlungsverlauf, die Verteilung der Redebeiträge oder das charakterliche Profil der Figuren; man wünscht sich erotische Begegnungen, Vitalität und Freiheit und begehrt auf gegen Fremdbestimmung und regelrechten Missbrauch. Geschickt baut Wieczorek hier metareflexiv also immer wieder die Kritik an der Novellenform und der Textarchitektur (vielleicht allgemeiner an der Autorposition insgesamt?) ein, die als unlebendig und einengend empfunden werden. Auch das Chronologische der Handlung als fortlaufender Dialog wird – möglicherweise im vorgreifenden Sinne der äußeren Kritik am Text – als problematisch gekennzeichnet, und man verlangt nach Eingriffen des Autors. Dieser Bitte kommt jener am Ende auch nach, indem er kurzerhand selbst die Bühne betritt und die Szenerie insofern auflöst, als dass die handwerklich tätige Künstlerin Amrein Pirmasens verlässt und der Autor die Entscheidung trifft, das Atelier zu schließen. Unter Protest und Streikaufrufen der anderen beiden Figuren verschwinden Künstler und Kunst aus Pirmasens; konsequent überführt Wieczorek den Diskurs um die gesellschaftlich konflikthafte Bedeutung der Kunst auf eine formale Ebene und setzt dem Wirken der Künstler/Künstlerinnen im krisengebeutelten Pirmasens ein jähes Ende.

Interessanterweise führt der Autor – und in diesem Sinne ist die Entscheidung, beide Texte im dritten Teil der Werkausgabe zu versammeln, nur folgerichtig – den in Pirmasens begonnenen Erzählstrang um den Jazz-Experten Danski im Rahmen der biografischen Erzählung zu Heinz Sauer weiter: Im Gegenlicht: Heinz Sauer. Ein literarisches Portrait ist dabei gewissermaßen das fortlaufende Gespräch zwischen – Achtung: Metareflexion – dem Autor und Danski, flankiert von jeweils eingeschobenen Zitaten Heinz Sauers, die ihrerseits zurückgehen auf längere Gespräche zwischen dem Autor und jenem Sauer. Wieczoreks Text erscheint dabei, vielleicht abgesehen von dieser etwas komplexeren Erzählanlage, formal weniger ambitioniert als Pirmasens, wobei der Gegenlicht-Text wesentlich an einer Aufbereitung der Biografie des mittlerweile 86-jährigen Heinz Sauer interessiert ist, der als Saxofonist die deutsche Jazzgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen konnte, dabei allerdings als „Mann der zweiten Reihe“ firmiert, lediglich im Spiel von Licht und Schatten auf der Bühne erscheint. Wieczoreks Blick auf die Improvisationskunst, das zügellose und vitale Spiel, die hartnäckig-perfektionistische Arbeit am Ton und die Suche nach dem Schweben und Freien des Jazzmusikers Heinz Sauer spiegelt dabei Vieles zugleich: die Geschichte des Jazz nach dem Zweiten Weltkrieg, die Geschichte einer künstlerischen Emanzipation von Prägungen und Elternhaus sowie immer zugleich auch die – hier ebenfalls hervorragend gelungene – Metareflexion zur Rolle von Kunst und Künstler/Künstlerin in den engen Rahmungen, Vorgaben und Normierungen einer Gesellschaft.

Heinz Sauer wird innerhalb einer Familie mit starkem Bezug zum nationalsozialistischen Führungspersonal katholisch erzogen und besucht die Eliteschule Napola Schulpforta, eine Erziehungsanstalt der Nazis, von der er sich nach anfänglichem Eifer schnell distanziert und die er fluchtartig verlässt. Nach dem Krieg verschlägt es die Familie nach mehreren Ortswechseln Richtung Kronberg im Taunus: Sauers Vater, der nach einem schweren Unfall berufsunfähig wird und darüber in eine psychische Krise gerät, verliert mehr und mehr seine bisher stark autoritäre Position innerhalb der Familie; überhaupt beginnt sich Heinz Sauer von seiner Familie zu distanzieren – vor allem durch die Musik: Während zuhause Kirchen- und Barockmusik zu hören ist, nähert er sich dem Saxofon, dem Jazz und Boogie-Woogie, was die Familie als Provokation begreift. Auch wenn er in den Anfängen stärker auf das Altsaxofon zurückgreift, um in Form der stärkeren Harmonien die Anerkennung und Liebe des Vaters zu gewinnen, markiert die Liebe zum Jazz nun zunehmend die Abkehr von der Familie, ja, von einer ganzen Generation, die er gerade im Kontext des Zweiten Weltkriegs für erbärmlich hält. Mit der durch die Anwesenheit der Amerikaner sicher beschleunigten Entwicklung von Jazz und Clubkultur wird der Jazz zum Fixpunkt von Sauers Existenz, eine Parallelwelt, die ihn in die Nähe namhafter amerikanischer Jazzmusiker und prominenter Größen der Szene bringt. Das aufgrund erster eigener Erfolge schnell auf Eis gelegte Studium der Mathematik und Physik zementiert die Verachtung des Vaters und den endgültigen Bruch; die „neue Familie“ hingegen eröffnet erste Kontakte zu Klaus Doldinger und Albert Mangelsdorff, der damals eine Autorität mit großer Strahlkraft bis in die USA darstellt. Letzterer ist es auch, der Sauer für 15 Jahre als Tenor in das „Modern Jazz Quintett“ lotst, welches über Jahre Erfolge feiert und neue Maßstäbe innerhalb der deutschen Jazz-Szene setzt, fast zum Sinnbild eines neuen Deutschlands im Bereich einer sich öffnenden internationalen Kultur wird.

Wieczoreks Text wird gewissermaßen gerahmt vom vorläufigen End- und Höhepunkt einer biografischen Entwicklung, die sich in Sauers Spiel mit dem Pianisten Michael Wollny verdichtet, anhand dessen auch die ganze Ambivalenz der neueren Entwicklungen im Jazz wunderbar gezeigt wird. Die professionelle Beziehung der beiden Anfang der 2000er Jahre ist einerseits der Gipfel der Improvisationskunst und der reinen Präsenz im musikalischen Dialog: Genial umreißt der Text an dieser Stelle die Bedeutung der Musik als fortwährendes Gespräch, als Dialog und gelebte Beziehung, wobei eindrücklich sichtbar wird, wie Sauer nach dem Verlust des Gesprächs mit seinem Vater hier innerhalb der Musik etwas Substanzielles zurückgewinnt. Das geschlossene und zugleich unendlich freie Aufeinanderbezogensein im Jazz wird als musikphilosophische Einlassung lesbar und dockt dabei zugleich passgenau an das psychologische Kompensationselement der Sauerschen Biografie an. Auf der anderen Seite steht Wollny für gegenwärtige Entwicklungen im Jazz: die zunehmende Bedeutung des Ökonomischen in der Vermarktung der Musik, die stärkere Konkurrenz eines sich feingliederiger ausdifferenzierenden Genres oder die zunehmende Notwendigkeit der Selbstvermarktung und Dauerkommunikation der Protagonisten. Wieczorek spielt auf diese Weise hellsichtig mit der Gegensätzlichkeit zweier Figuren der Szene: der eine jung, attraktiv und marktgängig, der andere alt, sperrig, eigensinnig und auf Selbstbehauptung bedacht; der eine Teil eines feingliedrigen Förderungssystems, der andere in Abgrenzung und unendlicher Arbeit gegenüber Prägungen, der eigenen Familie und den systemisch einengenden Strukturen. Nur folgerichtig ist es Wollny, der Sauer in puncto Marktgängigkeit den Rang abläuft und die Zusammenarbeit seltener werden lässt – der Mann, der aus dem Schatten kam und immer eher im Hintergrund blieb ist auch am Ende ein Mann des Gegenlichts und verschwindet.

Titelbild

Rainer Wieczorek: Werke 3. Kunst und Konflikt.
Dittrich Verlag, Berlin 2023.
232 Seiten , 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783943941951

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