Kannibalismus als postkoloniale Strategie
Melanie Strasser zeigt, wie der Mythos der Kannibalen in Brasilien den Kolonialismus beflügelte und wie die postkoloniale Repräsentation die Identität Brasiliens bis heute prägt
Von Sebastian Meißner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKannibalen, also Menschen, die Menschenfleisch verzehren, sind der Inbegriff für Unkultiviertheit und Barbarei. Nachdem Christoph Kolumbus Amerika „entdeckte“ und von den dortigen Kannibalen und ihren grausamen Ritualen berichtete, ist die sogenannte „Neue Welt“ unmittelbar mit dem Topos der Menschenfresserei (Fachbegriff: Antropophagie) verbunden. Erstmalige Erwähnung findet der Begriff in einem Logbucheintrag von Kolumbus vom 23. November 1492. Dort ist die Rede von „einäugigen und hundsgesichtigen menschenfressenden Bewohnern“ der Insel Bohío.
Die nackten Wilden mit dem Kochtopf
Es ist nur ein kleiner Eintrag, doch die Auswirkung ist enorm. Fortan macht man sich im kultivierten Europa allerlei Vorstellungen von den Kannibalen. Gerade Südamerika wird als ein ganzer Kontinent voller nackter Wilder imaginiert, die ihre Feinde im Rahmen feierlicher Zeremonien „im Kessel schmoren, ihnen die Gliedmaßen abtrennen, sie auf dem Rost braten und anschließend genussvoll verzehren“. Dass diese Schilderungen Furcht und Ekel verursachten, ist bekannt. Weniger bekannt ist dagegen, welche Auswirkungen diese Beschreibungen auf den Kolonialismus und die europäische Haltung zu Unterdrückung und Unterwerfung dieser Völker haben. Melanie Strasser, die in Wien Philosophie und Übersetzungswissenschaft studierte und aktuell zu den Beziehungen zwischen der Metapher der Einverleibung und dem Prozess des Übersetzens promoviert, beschäftigt sich in der hier vorliegenden Studie genau mit dieser symbolischen Wirkmacht des Kannibalismus im Hinblick auf den Kolonialismus. Sie schreibt, dass der Kannibalismus deshalb ein so wirkmächtiger Topos ist, „weil er die Implementierung eines Systems von Ausbeutung und Unterdrückung von Anfang an mitbegründet“. Der Kannibalismus spricht den Bewohnern der „Neuen Welt“ die Menschlichkeit ab und dient damit als Rechtfertigung für Bekämpfung, Erniedrigung und Ausrottung. Die Überzeugung dahinter: Die einzige Möglichkeit, den grausamen Ritualen der „wild lebenden“ Menschen Einhalt zu gebieten, besteht in der Einflussnahme der europäischen Zivilisation und damit verbunden des christlichen Kreuzes. Was dann folgte, ist bekannt. Mit Verweis auf eine enorme Quellendichte beschreibt Strasser unter anderem die Barbarei der Europäer in den kolonialisierten Gebieten (wie etwa im Essay „Des Cannibales“ von Michel de Montaigne beschrieben, der en detail auch auf die im Namen der Kirche vollzogenen Folter eingeht) oder auf die Unmöglichkeit der pauschalen moralischen Beurteilung von Kannibalismus aus europäischer Perspektive (wie wiederum von Claude Lévi-Strauss mit Verweis auf alimentäre, politische, magische, rituelle oder therapeutische Konnotation beschrieben).
Die Einverleibung des Anderen als Identitätsstiftung
Nun boomt der Postkolonialismus seit einigen Jahren regelrecht, auch und vor allem auf akademischem Gebiet. Seit den 1990er Jahren erlebt postkoloniale Forschung einen enormen Auftrieb und Interessenszuwachs. Dennoch sind es bis heute vergleichsweise wenige Theorien und Konzepte, die das Forschungsfeld bestimmen. Meist handelt es sich um Studien europäischen oder angloamerikanischen Ursprungs. Erst in jüngerer Zeit wurden Studien aus der gegenüberliegenden Perspektive entwickelt: Als brasilianischer Beitrag zum Diskurs über Postkolonialismus ist das Konzept des „kulturellen Kannibalismus“ entwickelt worden. Dabei wird eine kulturelle Praxis mit postkolonialer Ausrichtung herausgearbeitet. Melanie Strasser beschreibt in diesem Buch, wie der kulturelle Kannibalismus als Reaktion auf die europäische Darstellung der brasilianischen Kannibalen entstanden ist – und zwar als bildhafte Darstellung der Einverleibung und Transformation des Anderen, der besonders im Brasilien des 20. Jahrhunderts als poetologisches und kulturtheoretisches Paradigma betrachtet wird.
In der avantgardistischen Kunst wurde parodistisch auf eurozentrische und (neo-)kolonialistische Fremddarstellungen Brasiliens vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert Bezug genommen. Strasser beschreibt, wie zum Beispiel die in den 1920er Jahren im Kontext des Modernismus proklamierte Anthropophagie-Bewegung das Assimilieren europäischer Kulturformen als strategisches Mittel des Widerstands und als Weg zur Konstituierung einer eigenständigen Identität würdigt. Dabei nimmt das rebellische Motiv des Menschenfressers, das als Symbol für Transkulturation fungiert, eine zentrale Stellung ein. Im Bereich der Übersetzungswissenschaft manifestiert sich die Anthropophagie durch das Konzept des „kannibalischen Übersetzens“.
Die vorliegende Studie hat zum Ziel, folgende Fragestellungen zu erforschen: Inwieweit kann das Lesen und Übersetzen des Anderen als ein Akt des Verschlingens konzeptualisiert werden? Ist die metaphorische Verwendung des Kannibalismus aufgrund der inhärenten Gewalttätigkeit nicht zwangsläufig von einem Verlust geprägt, sowohl in Bezug auf das Eigen- als auch auf das Fremdverständnis? Welche Potenziale offeriert der Begriff des kannibalischen Übersetzens und welche Herausforderungen sind mit ihm verknüpft? Und lässt sich die Aporie, in die der Kannibalismus letzten Endes führt, durch die Integration indigenen Denkens auflösen?
Ein Akt der Dekonstruktion
Strasser gelingt die schwere Aufgabe, die Anthropophagie als einen Akt der Dekonstruktion und sogar als Konzept zu denken, das über den Modernismus hinausgeht, also innerhalb eines postmodernen und poststrukturalistischen Kontextes zu verorten ist. Als unerlässlich dafür benennt sie den Prozess der Resignifizierung. In der Mitte ihres Buches kommt Strasser an den Punkt:
So sollte die Trope des Kannibalismus in Kulturtheorien zu Brasilien vermehrt als postkolonialer Theorieansatz gedeutet und propagiert werden. Doch es ist vorwiegend das Feld der Übersetzungswissenschaft, auf dem sich die Anthropophagie als genuin postmoderne oder auch postkoloniale Figur des Übersetzens etablieren würde – und dafür gibt es auch gute Gründe.
Am Ende ihrer Untersuchung meint Strasser, es gelte, die Anthropophagie als „Figur der Dekonstruktion und nicht der Dialektik“ zu denken, als Figur der Überschreitung und nicht als Figur der Aufhebung. Die Dekodierung des Übersetzens als anthropophagen Ritus impliziert, dass dieses nicht mehr ausschließlich als unidirektionales, unvermeidlich zum Scheitern verurteiltes Unternehmen betrachtet wird, sondern als ein reziprokes Wechselverhältnis des Sich-Verschlingens. In diesem Prozess verschwimmt die klare Unterscheidung zwischen dem Agierenden, der assimiliert, und dem Passiven, der assimiliert wird.
Melanie Strassers gründliche Arbeit ist nicht nur vor dem Hintergrund aktueller Aneignungsdebatten wertvoll. Ihre Perspektive ermöglicht ein Anderssehen und ein Anderer werden. Es ist ein Beitrag zur Neu(ein)ordnung.
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