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„Goethes Schweizer Reisen“ in einer exzellenten Edition

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Goethe hat drei Reisen durch die Schweiz unternommen: 1775, 1779, 1797. Hinzu kommt noch die Rückreise aus Italien mit einer Durchreise durch Graubünden 1788. Diese Reisen sind durch Zeugnisse des Autors und seiner Reisebegleiter ziemlich gut dokumentiert, außerdem in vielfältigen Aufzeichnungen festgehalten, die von den Gastgebern und von Goethes Gesprächspartnern vor allem in Zürich, Basel, Bern und Lausanne hinterlassen worden sind; in Zürich z. B. von Johann Caspar Lavater, dem Goethe sehr viele, insgesamt wohl die meisten Kontakte zu Gelehrten und Künstlern in der ganzen Schweiz verdankte.

Dem Basler Schwabe Verlag ist es zu verdanken, dass nunmehr zwei Bände vorliegen, die alle einschlägigen Dokumente, Tagebuch-Notizen, Korrespondenzen, Berichte, Kommentare und vieles mehr versammeln, zwei reich illustrierte Bände, die nicht nur Goethes eigene Zeichnungen und zahllose historische Abbildungen mitliefern, sondern auch aktuelle Fotos: Band I ist Goethe und seinen Zeitgenossen gewidmet, Band II verweist auf 25 Wanderwege bzw. Routenvorschläge, die (soweit das noch immer möglich ist) den Spuren Goethes folgen: von Schaffhausen und vom Rheinfall über Zürich und Einsiedeln, Schwyz und Luzern bis zum Gotthard-Pass, ferner von Basel über Biel und Bern weiter über das Rhonetal bis Leukerbad und hinauf zur Furka und nach Realp, am Ende auch noch vom Dorf Splügen durch die Viamala-Schlucht nach Chur … eine Strecke übrigens, die Goethe am 31. Mai 1788 im Tross des „Lindauer Boten“ auf einem Pferd bewältigt hat; „eine schöne Reise“, notierte der Autor (vor dieser Tour) in einem Schreiben an Karl Ludwig von Knebel.

Das Team der Herausgeber/innen – Margrit Wyder, Barbara Naumann und Robert Steiger, allesamt Vorstandsmitglieder der Goethe-Gesellschaft Schweiz – ist indes keineswegs nur in der Goethe-Gemeinde erstklassig ausgewiesen, sondern ganz offensichtlich auch gut zu Fuß. Die Routen wurden nämlich alle zunächst einmal höchstpersönlich in Augenschein genommen und erst daraufhin sorgfältig beschrieben; mitgeliefert werden darüber hinaus zahlreiche nützliche Hinweise, was z. B. Schwierigkeitsgrade, Denkmäler, Museen oder auch Gasthöfe betrifft. Beachtenswerte Anleitungen finden sich zudem im Hinblick auf unterschiedliche Wetterbedingungen, das Durchqueren von Kuhweiden, das jeweils nötige Schuhwerk und noch vieles mehr; Landkarten und Pläne sind selbstverständlich auch beigegeben. Wer in diesem fabelhaften Wanderbuch, im Band II also, zu blättern und zu studieren beginnt und sich danach noch immer nicht herausgefordert sieht, wenigstens den einen oder den anderen Weg einmal selbst zu gehen, um z. B. zumindest die Erhabenheit der Naturphänomene zu beobachten, die schon Goethe so sehr gefesselt haben, dem ist, mit Heinrich von Kleist zu reden, auf Erden kaum mehr zu helfen, zumal die Website Goethe in der Schweiz die vorliegende Edition noch anschaulich ergänzt.

Zurück zu Band I!  Goethes erste Reise von 1775, nicht zuletzt auch eine Art Flucht, u. a. aus der Verbindung mit Lili Schönemann, mit der er eben noch Verlobung gefeiert hat, führt ihn, gemeinsam mit den Brüdern Christian und Friedrich Leopold Stolberg sowie mit Christian von Haugwitz, zunächst zum Rheinfall bei Schaffhausen, den er auch später bei jeder Gelegenheit aufsuchen wird und bewundert; und dann, auf dem Weg zum Gotthard, vor allem nach Zürich, wo der charismatische Prediger Lavater ihn gastlich aufnimmt, in die Physiognomik einführt und ihm darüber hinaus die Türen zur Zürcher Gesellschaft öffnet. „Unser erstes Begegnen war herzlich“, erinnert sich Goethe noch in Dichtung und Wahrheit. Seine Briefe, die er an Lavater abschickt, eröffnet er gerne mit der Anrede „Lieber Bruder“; und noch 1779 freut er sich, wieder nach Zürich, „nach dir zu“ zu kommen wie Goethe an Lavater schreibt. Später wird er ihm, dem „Propheten“, dem „Kranich“, wie er ihn dann nennt, allerdings nach Möglichkeit aus dem Weg gehen, denn über theologische Fragen kommen sie nicht mehr zusammen, und er wird danach lieber in Stäfa am Zürichsee statt in der Metropole residieren.

Während zur ersten Reise nur relativ wenige Zeugnisse aus Goethes Hand überliefert sind, meistenteils Notizen aus dem Reisetagebuch und Bleistift-Skizzen, ist die zweite Reise, die er, inzwischen schon Geheimrat, gemeinsam mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar antritt, wiederum eine mehrere Wochen dauernde Reise, geradezu vortrefflich dokumentiert. Die Reise führt diesmal über Basel, Biel und Bern zum Genfer See und ins Wallis, schließlich unter winterlichen Bedingungen, im November, bei grimmiger Kälte und scharfem Wind, zum tief verschneiten Furkapass und wiederum zum Gotthard, wo Goethe neuerlich Richtung Italien schaut und sich dann doch vom „gelobten Lande“ abwendet, um via Luzern wieder nach Zürich und Schaffhausen zurückzukehren. Zu den zahlreichen, oft ausführlichen Briefen, die Goethe u. a. an Lavater und insbesondere an Charlotte von Stein adressiert, und zu seinen Tagebuch-Einträgen kommen nun weitere gewichtige Zeugnisse hinzu, Tagebuch-Einträge und Briefe von Carl August an die Herzogin Anna Amalia, seine Mutter, und an seine Frau, Herzogin Luise, wie auch Tagebuch-Notizen von Philipp Seidel, der in diesen Monaten als Sekretär des Geheimen Rats fungiert. Kaum weniger interessant sind die Berichte der Zeitgenossen, die Goethe aufsucht; er sei „nur Goethe, wenn man ihn allein hat“, bemerkt Niklaus Anton Kirchberger in Bern. „Bei seinem Fürsten ist er ein ganz anderer Mann.“

Goethes Briefe aus der Schweiz, die poetischen Texte, die in dieser Phase entstehen und keineswegs nur auf die landschaftlichen Schönheiten und die überwältigenden Eindrücke aller Schichtungen der Natur verweisen, die sich den Reisenden eröffnen oder hin und wieder auch entgegenstellen, haben schon die Zeitgenossen ungemein beeindruckt: Als Goethe, im Frühjahr 1780, in Weimar bei Herzogin Anna Amalia aus diesen Texten vorliest, ist das Publikum förmlich „enthusiasmiert“; und Christoph Martin Wieland schwärmt: „Seine Beschreibung ihres Zuges […] über die Furka und St. Gotthard, womit er uns […] bei der Herzoginmutter regaliert hat, ist mir in ihrer Art so lieb als Xenophons Anabasis.“ Das Manuskript des berühmten Gedichts Gesang der Geister über den Wassern schenkt Goethe seiner Zürcher Freundin Barbara Schulthess, mit der er lange Jahre freundschaftliche Briefe austauscht, ehe er sie eines Tages (nach seiner letzten Schweizer Reise) „sehr betrübt“ zurücklässt; das heißt, um nicht missverstanden zu werden: „betrübt“ ist allein die Frau.

Über die spätere Alpenüberquerung im Zuge der Rückreise Goethes aus Italien erfahren wir aber doch noch am meisten aus den Briefen dieser verwitweten Zürcher Salonnière, die mit ihrer Tochter Dorothea Schulthess in Konstanz auf Goethe gewartet (und sich von ihm wohl weit mehr als nur hin und wieder eine flüchtige Begegnung erwartet) hat; hat er ihr doch aus Italien oft und oft geschrieben. Über die genaue Route dieser Tour informiert sonst lediglich das Ausgabenbuch des Komponisten Philipp Christoph Kayser, der Goethe auf dem Weg von Chiavenna über den Splügenpass und durch die Viamala-Schlucht begleitet hat.

„Ich war ein anderer Mensch geworden und also mussten mir die Gegenstände auch anders erscheinen“, bemerkt Goethe im Rahmen seiner dritten Schweizer Reise, die 1797 wiederum am Rheinfall beginnt und über Zürich und Einsiedeln zum Gotthard führt, wo Goethe zahlreiche Gesteinsproben einsammelt. Über diese Reise informieren sein Tagebuch, seine Briefe, vor allem die Briefe an Christiane Vulpius und Friedrich Schiller, die Korrespondenz mit dem Schweizer Maler Johann Heinrich Meyer (der den Umbau des Goethe-Hauses am Frauenplan leiten wird und ihn nach Stäfa eingeladen hat) und nicht zuletzt das Tagebuch von Johann Ludwig Geist, den Goethe in dieser Zeit als Schreiber und Diener anstellt. Während Goethe sich in seinen Berichten manchmal sehr kurz fasst, an Schiller z. B. schreibt er, sie seien „von Richterswil auf Einsiedeln und von da auf Schwyz und Brunnen“, also bis zum Vierwaldstättersee gewandert, „von da fuhren wir auf dem See bis Flüelen, gingen von da nach Altdorf und bestiegen den Gotthard und kamen wieder zurück“, weiß Geist zeitweise viel mehr zu erzählen. So ist in seinem Tagebuch unter anderem auch festgehalten, was sie bei den Kapuzinern auf dem Gotthard vorgesetzt bekamen:

Nach geendigtem Frühstück wurde sogleich das Mittagessen aufgetragen, das aus folgenden Gerichten bestand:

1. Eine gute Reissuppe, in welcher eine Knackwurst sich befand.

2. Folgte Pökelfleisch mit einer guten Sauce nebst Senf.

3. Fisch, sowohl in Semmel geröstet als mit Essig und Zitronen.

4. Gämsbraten.

5. Nachtisch, der in gutem Schweizerkäs und Most bestand.

Es ist kein Wunder, dass die Eindrücke von diesen Schweizer Reisen Goethe zeitlebens beschäftigt haben. Viele Projekte, die er auf diesen Reisen konzipiert hat, wurden später umgesetzt, manchen Plan, namentlich auch den Vorsatz, einmal einen Wilhelm Tell zu schreiben, überließ er seinem Freund Schiller, dessen Drama dem Dichter noch den letzten großen Erfolg zu Lebzeiten bescheren sollte. Was an Nachklängen in Goethes Spätwerk zu entdecken ist, in seinem letzten Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre wie auch im zweiten Teil des Faust, haben die Herausgeber/innen umsichtig in ihren Einführungs-Texten und Zwischenberichten aufgelistet und kommentiert.

Über eine Entscheidung, die sie getroffen haben, könnte man trefflich streiten. Sie haben sich nämlich darauf geeinigt, auch Goethes Texte durch eine „modernisierte Orthografie“, durch (gewiss behutsame) Angleichungen vor allem im Bereich der Zeichensetzung leichter lesbar zu machen, und damit Eingriffe riskiert, die nicht nötig gewesen wären und nicht überzeugen; gelegentlich werden auch Zitate, aus Dichtung und Wahrheit beispielsweise, mitten im Satz abgebrochen und damit aus Zusammenhängen gerissen, die keineswegs ganz unwichtig sind.

Aber, um endlich zusammenzufassen: Die beiden Bände, wunderbar zusammengestellt und arrangiert, auch mustergültig redigiert und lektoriert, haben sich zweifellos schon ihren Platz in der Bibliothek der Klassik gesichert: auf dem obersten Rang des Genres Reiseliteratur.

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Margrit Wyder / Barbara Naumann / Robert Steiger (Hg.): Goethes Schweizer Reisen.
Schwabe Verlag, Basel 2023.
624 Seiten, 49 CHF EUR.
ISBN-13: 9783796547713

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