Raum der Erinnerung und Raum der Kunst
Jan Peter Bremer kehrt in seinem Roman „Nachhausekommen“ zur Kindheit und Jugend zurück
Von Dennis Borghardt
Geschichten von biographischer Heimkehr erfahren in den letzten Jahren ein ungebrochenes, eher noch gesteigertes Interesse. Seien es die auf Befragungen früherer Weggefährt*innen beruhenden Sommerreminiszenzen in Thorsten Nagelschmidts Der Abfall der Herzen (2018), die Rekurrenz auf Familien- und Kriegsschicksale in Saša Stanišic’ Herkunft (2019), die politisch interessierte Rückreise ins brandenburgische Zehdenick in Moritz von Uslars Nochmal Deutschboden (2020), die kritische Reflexion einstiger Bildungsversprechen in Deniz Ohdes Streulicht (2020) oder auch die Ausstellung adoleszenter Hybris in Timon Karl Kaleytas Die Geschichte eines einfachen Mannes (2021) – im Nachgehen der eigenen Vergangenheit, häufig verschränkt mit Elementen aus Klassismus-Debatten, tritt ein spätmodernes Interesse an Lebenswegen hervor, worin autobiographisches, autosoziobiographisches und autofiktionales Erzählen immer wieder neue Verbundformen miteinander eingehen. Die entsprechenden Romane bzw. Erzählungen (von durchaus unterschiedlicher Qualität) sind mittlerweile ebenso obligatorischer Gegenstand des Feuilletons geworden, wie sie zu den populären Gattungen zu zählen sind.
In der niedersächsischen Provinz spielt eine dieser Geschichten. Die als ein Nachhausekommen betitelte Rückkehr ins Wendland zeigt sich in Jan Peter Bremers jüngstem Roman (2023) als retrospektive Familiengeschichte der 1970er Jahre, die von einem enormen Durchgangsverkehr an Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Journalist*innen im elterlichen (Fachwerk-)Haus geprägt ist. Die Figurenzeichnung – meist nur unter sparsamer Nennung der Initialen – entfaltet sich entlang von Diskussionen über die politische Lage, workshopartigen Arbeitstreffen und der den größten Teil des Freundeskreises einenden Berliner Vergangenheit der 1960er Jahre. Die Eltern treten in diesen Zusammenhängen einerseits als Künstlerpersönlichkeiten (der Vater als Maler und Graphiker, die Mutter als Kunstinteressierte und -involvierte), aber auch als Förderinstanzen hervor, wodurch das Gesamtbild einer Bohème gelegentlich durch bürgerliche Elemente komplementiert wird: „[S]o wie der Mond um die Erde kreiste, so kreiste ich um meine Mutter, und meine Mutter kreiste mit mir um meinen Vater“, und als die schulischen Leistungen des Protagonisten nachließen, bestand sowohl für ihn als auch die Eltern „[a]n der Sinnhaftigkeit der Nachhilfe […] wenig Zweifel“.
Durch die nur sehr vage Abteilung in Erzählepisoden wird Erinnerung vor allem als stromartige Verlaufsform in Szene gesetzt, aus der Praktiken wie die Fernsehrezeption von Boxkämpfen Muhammad Alis, das Hören dauerrotierender Beatles-Songs, das gewohnheitsmäßige Parken oder die ritualisierte Monatsanfrage nach Taschengeld herausragen. In diesem Wechselspiel markanter Symbole, vorgeführt in Form anekdotischer Beobachtungen, die sich in Routinen innerhalb und außerhalb des Raums der Kunst abspielen, scheint zugleich eine Reflexion der eigenen Schriftstellerbiographie auf – nicht zuletzt, da sich der Roman ausdrücklich als autobiographisch versteht.
Grundformen des erinnernden Erzählens sind dementsprechend im Text ubiquitär und in verschiedenen Facetten verbreitet: Die gleichzeitige Hinwendung zur Herkunft, zur Jugend und zur Kunst evoziert eine sich von starren Gattungstraditionen wie Künstler-, Bildungs- oder Entwicklungsroman fortschreibende Haltung. Die bereits in anderen Rezensionen gelobte Abkehr vom minimalistischen Stil verdichtet sich hier zugleich in einer Prosa, die sich nah an dasjenige anschmiegt, was sie selbst beschreiben will, etwa in syndetischen, durch „und“-Reihungen einen kindlichen Stil imitierenden Parataxen. All das gelingt hier mit Fokussierungen auf Einzelmomente, ohne je ins ‚rein‘ anekdotische Erzählen abzugleiten. Die Akribie mancher Beobachtung scheint dabei weniger Verliebtheit ins Detail um des Details willen als vielmehr Zulieferin der Verlebendigung; Erzählbeschleunigungen durch einfache Kommata driften gelegentlich in einen ausufernden, nichtsdestoweniger gut nachvollziehbaren Periodenbau ab. Hierin scheint auch ein poetologischer Aspekt auf: Wenn die im Text mitschwingenden BoBo-Tendenzen der Herkunft auch als Herkunftsgeschichte für den gegenwärtigen Stil des Schreibens zu deuten sind, lassen sich die schriftstellerischen Versuche – die ja dann im Falle Bremers mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (1993, Bertelsmann-Stipendium; 1996), dem Nicolas-Born-Preis (2000, Förderpreis; 2012), dem Alfred-Döblin-Preis (2011) und der Nominierung von Der junge Doktorand (2019) für die Longlist des Deutschen Buchpreises auch bekannt und erfolgreich wurden – ebenso als Befreiung aus dem Abgelegenen, dem Sonderlichen und Unverstandenen, lesen. Dies wird fast durchgängig texturiert mit einer teils erstaunlichen Emphase, die den Familienmitgliedern, allen voran dem charismatischen pater familias, entgegengebracht wird. Und selbst wenn das (scheinbare) Hinterwäldlertum der Provinzbewohner einmal Thema wird, so wird das immerhin noch zu „Penner[n] im Paradies“ symbolisch ausgeweitet und mit erkennbarer Freude an Alliteration und Katachrese vorgeführt.
Die wie so oft gegenüber der französischen Literatur leicht zeitversetzt in Deutschland erfolgreichen auto(sozio)biographischen Erzählformen knüpfen auch bei Bremer insgesamt lose an manche Gattungstraditionen an, ohne dabei zu explizit und repetitiv auf Klassenbewusstsein zu pochen; vielmehr wird hier ein Konstellationsbewusstsein ins Spiel gebracht, das dem Reduktionismus auf Klassenherkunft mit einer Stilistik der Emphase begegnet, die wiederum ein subjektives Erleben ins Bild setzt. Es bietet sich womöglich an, das Corpus dieser Schreibsujets weniger als (Unter-)Gattungen denn als Netzwerk aus Knotenpunkten zu Herkunftsnarrativen zu begreifen. Und genau hierin fügt sich Bremers Nachhausekommen mit einem aus dem Bereich des autobiographischen Erzählens reizvollsten Texte des vergangenen Jahres ein.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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