Vorbemerkungen zum Themenschwerpunkt „Junge jüdisch-deutsche Literatur“
Liebe Leser:innen,
in unserem Februar-Schwerpunkt „Junge jüdisch-deutsche Literatur“ stehen Texte im Zentrum, in denen ‚Jung-und-jüdisch-Sein‘ textintern oder -extern von zentraler Bedeutung ist. Neben den Protagonist:innen – oder etwa einem lyrischen Ich (Wiedergutmachungsjude) – sind natürlich auch zahlreiche Autor:innen der von unseren Rezensent:innen besprochenen Werke selbst ‚jung und jüdisch‘: Dana Vowinckel, Dana von Suffrin oder Daniel Arkadij Gerzenberg – um nur einige zu nennen. Mithin verwundert es nicht, dass deren Werke hin und wieder auch autofiktionale Elemente erkennen lassen.
„Jüdische Autorinnen und Autoren in Deutschland beschäftigt die Suche nach ihrer Identität. Die Älteren prägte die Shoah“[1], stellt Carsten Hueck, Autor der Jüdischen Allgemeinen, sinngemäß in einem Podcast für Deutschlandfunk Kultur fest. Damit wird zutreffend ein Topos identifiziert, der auch in den rezensierten Werken unserer Schwerpunktausgabe wiederholt in Erscheinung tritt: die jüdische Identität. Im Mittelpunkt steht dieses Thema insbesondere in dem von Stefan Hermes rezensierten Debütroman Dana Vowinckels, Gewässer im Ziplock. Darin tritt die 15-jährige Protagonistin Margarita eine Israelreise an und wird immer wieder mit der Frage nach einer jüdischen Identität konfrontiert. Aber auch in dem von Bozena Anna Badura rezensierten Roman Birobidschan von Tomer Dotan-Dreyfus, der das Leben des Fischers Boris in der Hauptstadt der abgeschotteten jüdischen autonomen Oblast Birobidschan schildert, wird unter anderem das Thema jüdischer Identität verhandelt.
Ein weiteres wiederkehrendes Motiv ist – wie Bozena Badura in ihrem Essay Ein Gedankenstreifzug durch die jüngere deutschsprachige jüdische Literatur darlegt – das der Migration von Jüdinnen und Juden, insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion – wo der zweitgrößte Teil der Jüdinnen und Juden in der Diaspora gelebt hat – nach Israel, in die USA oder eben nach Deutschland[2]. Eine Perspektive auf eine solche jüdische Lebenswirklichkeit vermittelt der von Thorsten Paprotny rezensierte Wiedergutmachungsjude von Daniel Gerzenberg. Darin kulminiert eine jüdische Migrationsgeschichte aus der UdSSR in einem überwiegend in Versen verschriftlichten Trauma, das in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch steht.
Neben Dana Vowinckels Gewässer im Ziplock verhandelt auch Dana von Suffrins Debütroman Otto, besprochen von Irmela von der Lühe, einen jüdischen Generationenkonflikt. Darin liefert die Autorin „ein literarisch-autobiographisches Porträt des eigenen Vaters im Horizont der jüdischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und im Bewusstsein der chaotisch-komischen und zugleich grotesk-traurigen Bedingungen einer Kindheit und Jugend als ‚jüdische Millennial‘“[3].
Die vielen überwiegend als Literaturwissenschaftlerin bekannte Elisabeth Bronfen befasst sich in ihrem Debütroman Händler der Geheimnisse, rezensiert von Christine Frank, mit dem Tod ihres Vaters in einer Art Detektivgeschichte, in der es um eine Kultur der Verschwiegenheit und der Erinnerung geht. Ergänzt wird unser Februar-Schwerpunkt durch einen weiteren Essay, in dem die Romanistin Stephanie Bung einen Einblick in das Werk der auch in Deutschland rezipierten jüdisch-französischen Schriftstellerin Cécile Wajsbrot liefert. Darüber hinaus bespricht Susanne Zepp-Zwirner umfassend das Werk des aus Rumänien stammenden jüdisch-deutschen Autors Peter Rosenthal.
Viel Freude beim Lesen wünscht
Ihre Redaktion Gegenwartskulturen
Literatur
[1] o. V. (2021): „Jüdische Literatur in Deutschland. Eine Suche nach Familie, nach Herkunft und Identität“, In: Deutschlandfunk Kultur. Deutschlandfunk, ‹https://www.deutschlandfunkkultur.de/juedische-literatur-in-deutschland-eine-suche-nach-familie-100.html› (abgerufen am 04.01.2024), o. S.
[2] Vgl. Tolts, Mark (2016): „Demography of the Contemporary Russian-Speaking Jewish Diaspora“, In: Gitelman, Zvi (Hrsg): The New Jewish Diaspora. Russian-Speaking Immigrants in the United States, Israel, and Germany, New Brunswick: Rutgers University Press, S. 23.
[3] von der Lühe, Irmela (2024): „‚Unsere Familie war eher ein Klumpen Geschichten‘. Die Erzählerin und Historikerin Dana von Suffrin (geb. 1985)“, In: Gegenwartskulturen. literaturkritik.de, ‹https://literaturkritik.de/suffrin-otto-suffrin-pflanzen-fuer-palaestina-unsere-familie-war-eher-ein-klumpen-geschichten,30227.html› (abgerufen am 11.01.2024), o. S.
Aus dem Archiv
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen