Das Erdbeben findet erst morgen statt
Kristiane Kondrat beschreibt in ihrem Gedichtband „Wer tanzt im Niemandsland“ die Brüchigkeit des dünnen Eises unserer Gegenwart
Von Klaus Hübner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise2017 wurde der 1938 in Reschitz im Banater Bergland (rum. Reşiţa, ung. Resicabánya) geborenen, seit 1973 in Deutschland lebenden Kristiane Kondrat der Spiegelungen-Publikumspreis für Lyrik zuerkannt. 2019 hat sie den Roman Abstufungen dreier Nuancen von Grau und 2021 den Erzählband Bild mit Sprung veröffentlicht. Wiederum zwei Jahre später legt die Augsburger Autorin einen hochwertig ausgestatteten Band vor, der ihre in den Jahren 2015 bis 2021 entstandenen Gedichte versammelt: Wer tanzt im Niemandsland. Ohne Fragezeichen.
Die Erläuterung des Buchtitels im Vorwort ist für das Verständnis der Gedichte äußerst hilfreich. „Niemandsland“ kann bekanntlich vieles bedeuten, hier jedoch bezieht sich das Wort eindeutig auf das, was man irgendwann einmal „Migrationshintergrund“ genannt hat – ein viel zu oft gebrauchtes Kompositum, das man eigentlich nicht mehr hören will. Für die Autorin und ihre Leserschaft wichtig ist die Feststellung, dass man diesen „Hintergrund“ ein Leben lang nicht mehr loswird: „Wer weggeht, einen Ort verlässt, unterwegs ist, um an einem anderen Ort anzukommen, geht durch dieses Niemandsland, er muss es durchqueren, um anzukommen … Wer durch ein Niemandsland gegangen ist, wird mit Vorsicht und mit Neugier den neuen Ort betreten, aus einer anderen Perspektive wird der Ankömmling seine neue Umwelt sehen: Das Niemandsland hat seine Sinne geschärft. Auch später ist das Niemandsland immer präsent, auch wenn der Reisende glaubt, es schon lange verlassen zu haben“. Ob es um Aufbruch und Unterwegs-Sein geht, um Abschied und Ankommen, um Erinnerungen an und Rückblicke auf die Jahre davor, um lakonische, oft satirische Blicke auf die Gegenwart oder um andere Themen – alle Gedichte sind aus der Perspektive einer immer wieder neu Ankommenden geschrieben, aus dem Blickwinkel eines lyrischen Ichs, das ein Niemandsland durchquert hat. Dabei findet Kristiane Kondrat einen stets ganz eigenen Ton, der bisweilen das Surreale und Magische streift und sie von anderen „Niemandsland-Dichterinnen“ wie Ilma Rakusa oder Ursula Haas prägnant unterscheidet.
Realismus, in welchem Verständnis auch immer, ist Kristiane Kondrats Sache eher nicht – verlässliche Kategorien wie Raum oder Zeit gibt es kaum noch:
Der Schaffner pfeift meinen Zug zurück
ich behalte aber die Schienen im Auge
es könnte sein, es war der Zug von gestern
Heute bin ich angekommen
aber woanders
Die Unzuverlässigkeit, das Unsichere und Prekäre prägen ihre lyrische Welt viel mehr und intensiver als jede am Ende denn doch hohle Pseudo-Gewissheit:
SEHEN: Zwei parallele Linien
treffen sich am Horizont
WISSEN: Das ist unmöglich
EINSEHEN: Das Sehen allein ist noch nicht alles
NICHT WISSEN:
Ob es den
Horizont
tatsächlich
gibt
Bei Kristiane Kondrat scheint das Normale darin zu bestehen, dass nichts (mehr) normal ist – das Gedicht Zeitweilige Störung, das durchaus zur zeitweiligen Verstörung der Lesenden führen kann, hält diese existenzielle Unsicherheit bündig fest. Ob es da hilfreich ist, an den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu erinnern?
Dächte er an etwas
könnte man es ihm
nicht verdenken
Doch er hat einen
Zettel in der Hand
an dem er sich festhält
Da steht alles
was er zu sagen hat
und das
was er vergessen soll
Selber denken? Kristiane Kondrats Gedichte mögen dazu ermutigen – Illusionen aber macht sie sich nicht. Viel eher würde sie wohl dem großen Göttinger Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg zustimmen, der einmal über das Selber-Denken geschrieben hat:
Man spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?
Die verblüffende, insgesamt äußerst anregende Vielfalt der Themen lässt pauschale Charakterisierungen kaum zu. Da gibt es „Schweizer Impressionen“ wie Das Matterhorn – „… blendend weiß so / richtig schönkalt / dass es mich wärmt / vor Übermut“ – und „Griechische Impressionen“ wie Sparta, ein Gedicht, das seines lakonischen, für diese Poetin nicht untypischen Tons vollständig zitiert sei:
Wanderer kommst du nach Sparta
du wirst nichts mehr finden
außer einigen Steinen
die auch keine Gewissheit geben
ob da oder einige Steinwürfe weiter
Nur die Erinnerung, dass da jene waren
die damals nicht wissen konnten
dass wir danach suchen werden
Äußerst vielfältig sind auch die lyrischen Formen, was zu erhöhter Aufmerksamkeit der Lesenden beiträgt und Monotonie gar nicht erst aufkommen lässt. Wer würde hier zum Beispiel einen mit auffälligen Merkmalen der „Konkreten Poesie“ spielenden Text wie Im alten Kino knisterte Abenteuer vermuten, der einen Filmriss zum Thema hat und sein Thema, ähnlich wie bei Eugen Gomringer oder Ernst Jandl, zugleich auch grafisch abbildet? Oder ein beeindruckendes Sonett wie Schlägt Uhrzeit zwölf, das so endet:
Schlag sieben kommt der Abend vom Himmel herunter,
und aus dem Keller kommen immer wieder Flaschen,
der Tag ist futsch, die Flaschengeister munter.
Die eher erwartbaren, in der so genannten Migrationsliteratur nicht seltenen Themen finden sich in diesem Band nur vereinzelt, zum Beispiel im Gedicht Temeswar vor längerer Zeit, das so endet:
Sie küssen sich so k.u.k. barock
unter barocken Bögen
Der Polizist in der Innenstadt
zählt seine stiefelnen Schritte
Erinnerungen an frühere Zeiten, „wenn der Zirkus / in unsere Stadt kam“, sind immer verbunden mit einer gewissen Wehmut und einem fast altersweisen Wissen um das Unwiederbringliche:
Den Clown gibt es nicht mehr
Auch Komiker sterben
Sie nehmen es
nicht so ernst
Ja, womöglich findet das Erdbeben wirklich „erst morgen statt“ – Hoffnung aber, durch irgendetwas begründete Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die sieht wohl anders aus und findet sich bei Kristiane Kondrat nicht.
Dass das letzte Kapitel „satirische Texte zu aktuellen Themen der Gesellschaft“ enthält, wie die Autorin im Vorwort schreibt, stimmt nicht ganz – da ist nicht nur Satire, da ist auch Entsetzen angesichts des jüngsten Zeitgeschehens, etwa in Krieg I:
Krallen wuchern aus dem Bauch
der Erde, aus vormenschlicher Zeit
aus dem Schlamm aus dem
Rachen aus irrer Tiefe
das Nimmermehr ist wieder da
zwei Häuser
weiter
ist Krieg
Krieg II endet so:
Wer sagt, dass es
keinen Krieg mehr
gibt auf
friedlichen
Straßen
Das wurde, wie alle Verse in diesem Buch, vor dem 24. Februar 2022 geschrieben – die Sorgen und Ängste vieler Menschen aber, die in den letzten Monaten nicht weniger geworden sind, finden, reflektiert und historisch unterfüttert, schon hier ihren lyrischen Niederschlag:
BIST DU
angeschnallt
kalt zieht es aus
dem Fenster schlag
das Visier herunter
zieh die Zugbrücke ein
es kommt jemand oder
es könnte noch jemand
kommen könnten alle
Gespenster kommen
die durch Europa
gegangen sind
Satirisch wird man auch das letzte Gedicht dieses Buches, das den Titel Spätnachrichten trägt, nicht nennen wollen:
Das Wetter von morgen ist schon festgelegt
einige Diplomaten schütteln noch Hände
Der Krieg auf dem Bildschirm kann
mein Wohnzimmer nicht erschüttern
Die Grenzen aber verschieben sich
und ziehen langsam
durch meine Eingeweide
Wer sich überhaupt noch Zeit für Gedichte nimmt und keine Scheu vor thematischer wie stilistischer Vielfalt hat, wird in Wer tanzt im Niemandsland aufregende Entdeckungen machen. Nur selten wurde die Brüchigkeit des dünnen Eises unserer Gegenwart derart sprachschön gestaltet wie in diesem lyrischen Florilegium, das für unterschiedlichste Leserinnen und Leser ein zu ihnen passendes Gedicht bereithält. Oder, wahrscheinlicher, gleich mehrere. Kann sein, dass der Verlag, der im Klappentext von Kristiane Kondrats „opus magnum“ spricht, nicht zu hoch gegriffen hat.
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