Literatur als Ausdruck des gekränkten Selbst

Ekkehart Baumgartner baut weiter am Mythos des leidenden Künstlers

Von Thomas BollwerkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Bollwerk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Vorwurf, der psychoanalytischen Kreativitätstheorie unterlaufe bei der Untersuchung des literarischen Schaffensprozesses eine ungerechtfertigte Pathologisierung des Schriftstellers, ist beinahe so alt wie die Psychoanalyse selbst. Schon 1907 kritisierte der Musikwissenschaftler Max Graf in Freuds "Mittwoch-Gesellschaft" in einem Vortrag unter dem Titel "Methodik der Dichterpsychologie" die Vernachlässigung der "positiven" Elemente dichterischer Kreativität zugunsten einer Konzentration auf vermeintliche Neurosen des Schriftstellers. Dieser Kritik hat die psychoanalytische Kreativitätsforschung in ihren trieb-, ich- und selbstpsychologischen Varianten bis heute nicht hinreichend Rechnung getragen.

Auch Ekkehart Baumgartner unterliegt in seiner schmalen Studie, in der er sich mit dem Frühwerk von nicht weniger als sechs wichtigen Autoren der literarischen Moderne auseinandersetzt, der Versuchung, aus adoleszenten Krisenerfahrungen der Schriftsteller monokausal auf ihr Frühwerk zu schließen. Zwar bemüht Baumgartner sich, die Werke der untersuchten Autoren auch sozialgeschichtlich zu verorten, indem er die Literatur der Jahrhundertwende in groben Zügen als Abkehr von Naturalismus und Positivismus darstellt; einen Zugang zu den Texten von Thomas und Heinrich Mann, Hesse, Musil, Kafka und Rilke sucht er jedoch ausschließlich über die Anwendung der Narzißmustheorie Heinz Kohuts. Die Selbstpsychologie Kohuts denkt sich künstlerisches Schaffen als analog zum Aufbau eines "Größenselbst" (narzißtischen Ichs), das zusammen mit einer idealisierten Elternimago den Verlust der kindlichen Allmachtsphantasie kompensieren soll.

Baumgartner versucht nun, den einzelnen Autoren eine Ich-Kränkung nachzuweisen, indem er sie als "Opfer einer positivistischen Elterngeneration des Neunzehnten Jahrhunderts" versteht. Die Elternfiguren symbolisieren den Zerfall der bürgerlichen Werte, weshalb den Söhnen ihre Idealisierung verweigert bleibt: Ergo frühe Lebenskrise, ergo Krise im Frühwerk. Um zu diesem wahrscheinlich nicht ganz falschen, aber doch spekulativen und vor allem recht banalen Fazit zu gelangen, ergeht sich Baumgartner in langen Schilderungen allzu bekannter biographischer Fakten, brav mit dem Geburtsdatum des jeweiligen Autoren beginnend. Die Textanalyse kommt dabei entschieden zu kurz, die spezifisch literarische Ästhetik in der Umsetzung der individuellen Problematik findet kaum Beachtung. Mit der Vielzahl der in die Studie miteinbezogenen Autoren hat sich Baumgartner schlicht übernommen; so kommt es zwangsläufig zu ärgerlichen Pauschalisierungen.

Die sehr fragmentarische Forschungsübersicht zu den einzelnen Autoren, die im wesentlichen aus einer Auflistung von Vortrags- und Jahrbuchbeiträgen der letzten Jahre besteht und wahrscheinlich das magere Literaturverzeichnis kompensieren soll, bildet den Anhang einer Studie, die den Leser vor allem mit einer Frage alleine läßt: Wenn die Biographien der behandelten Schriftsteller - wie Baumgartner selbst sagt - zeittypisch, ja paradigmatisch für eine ganze Generation sind, warum wurde dann ausgerechnet diesen Sechsen das Schreiben zur Lebensnotwendigkeit? Es scheint, als sei die Herleitung der Kreativität aus dem Konflikt, für die die Psychoanalyse eine beharrliche Vorliebe hat, nicht hinreichend, um das Phänomen künstlerischer Produktivität vollständig aufzuklären.

Titelbild

Ekkehart Baumgartner: Frühe Lebenskrise und Ursprung künstlerischer Produktivität.
Akademischer Verlag Christoph Hofbauer und Ilia Trojanow, München 1999.
155 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3932965213

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