Vor der Satire gibt es keinen Welpenschutz

Gerhard Henschel verfasst den erhofften neuen deutschen Schelmenroman

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ähnlich wie Laurence Sterne hat Gerhard Henschel sein Lebensthema früh gefunden: sein „Tristram Shandy“ heißt „Martin Schlosser“ und erzählt eine Alter-ego-Biographie von der Wiege bis zur Bahre. Tristram Shandy, wir erinnern uns, hatte seinen Erzählfaden schon etwas zeitiger aufgenommen, nämlich bereits im Uterus seiner Mutter im Augenblick seiner Zeugung, wohingegen Martin Schlosser (alias Gerhard Henschel) mit dem „Kindheitsroman“ seinen Auftakt nahm, doch dürfen wir uns auch bei ihm noch auf einen „Pränatalroman“ freuen. Er soll posthum erscheinen und liegt, soweit uns bekannt ist, bereits im Umbruch lektoriert vor. Ein Osho-Zitat fungiert als Motto und Lesart zugleich: „Seht diesen Punkt! Millionen Narren liebten sich gerade in dem Augenblick, als ihr auf dem Sprung wart, geboren zu werden. Und trotzdem habt ihr euch ein ganz bestimmtes Paar ausgesucht…“

Anders als Tristram Shandy hat Martin Schlosser auch kein Problem mit „angestautem Lebensvollzug“, der peu-à-peu literarisch abgearbeitet werden muss: Er findet sogar Zeit und Muße, seinem Romanzyklus weitere Werkstiftungsideen einzuschreiben. Gerade noch abgewendet werden konnte der, noch zu schreibende, „Soko-Satirekrimi“, in dem die gesamte „Titanic“-Crew während einer Karikaturenausstellung im Palais Greiz massakriert werden sollte. Sujet und Modell der Erzählung folgten dem grobschlächtigen Typus des Überregionalkrimis als dem metafiktionalen „Todesartenprojekt“, an dem der Autor seit geraumer Zeit nebenher und überaus erfolgreich arbeitet: „Einig waren Helmut, Eugen und ich uns jedenfalls darin, daß ein Bombenanschlag auf das Sommerpalais der komischen Kunst in Deutschland in diesen Minuten einen bleibenden Schaden zugefügt hätte.“

Aber was ist sein Programm hinter dieser stupenden Kreativität? Möchte Gerhard Henschel im Bereich der komischen Muse aufräumen und die Spreu vom Weizen trennen? Oder möchte er der schwächelnden Satire hierzulande insgesamt den Garaus bereiten? Deren Niedergang begann, als sich Eckhard Henscheid, der deutsche Enver Hodscha, am verstorbenen Heinrich Böll verging. Einen Scheidepunkt markierte 1982 die Gründung des Zürcher Haffmans Verlages: für die einen gings aufwärts, für die anderen abwärts. Am Ende seines Konkurs-Kurses verscherbelte der Schweizer Verleger Lizenzen an dubiose Taschenbuch-Reihen und zog sich den Zorn seiner prominenten Autorenriege zu: „Ekzem Homo“, schrieb Gerhard Polt treffend.

In seinem Schelmenroman, dem man einmal eine „Schelmenrezension“ widmen sollte, erzählt Gerhard Henschel getreulich, wie sich die deutsch-deutsche Kulturlandschaft nach der Wiedervereinigung entwickelt hat. Günter Grass gebärdet sich als Praeceptor germaniae, was an sich nichts Neues ist: Nicht der Autor ist tot, sondern die Komik, die seine Prosa einmal ausgezeichnet hat. Von öffentlichen Debatten wird nicht Witz, sondern Bekenntnis gefordert: „Irony is over“.

Als deutscher Pfahlbürger erweist sich auch Martin Schlosser, als er einem Anzeigenblatt, das ihm seinen Briefkasten vollstopft, Drohbriefe schreibt. Eine Momentaufnahme zeigt den Schlaks als Zerr- und Spiegelbild Helmut Kohls: Ein bräsiges Leben ohne Glamour, dafür mit Bauchansatz, steht ihm bevor, während das „sinkende“ Flaggschiff deutscher Scherzkultur von Chefredakteur Oliver Maria Schmitt geentert wird. „Kennen Sie das Satiremagazin Titanic?“, fragt Schlossers Zahnarzt seine Assistentin: „Nein“, antwortet sie, „aber ich habʼ den Film gesehen.“

Die Menschheit steuert unbekümmert auf ihren Untergang zu, und mit der verlorenen Spanne einer Generation begreifen wir, wie hellsichtig der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung vor der Klimakatastrophe warnte: „Jährlich müsse die CO2-Emission um ein Prozent verringert werden. Wenn weiterhin die heutigen Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre gelangten, wäre ein Gegensteuern in rund fünfundzwanzig Jahren nicht mehr möglich…“

Ernste und heitere, komische und unfreiwillig komische Lektüren beschäftigen den Vielleser, darunter Victor Klemperers Tagebücher. Authentisch, packend und triftig erzählt auch Hermann Langbein davon, wie er Auschwitz überlebte, und an solchen lebenswahren Zeugnissen liest sich Martin Schlosser fest, wohingegen er den pornographischen Ejakulaten eines Gerhard Zwerenz wenig abgewinnen kann. Dessen Präpotenzphantasie über „eine Ladung Spermien“, die „soviel Rückstoß“ erzeugt habe, dass man damit hätte auf den Mond gelangen können, sei schlichtweg „Müll“. Zwerenz kandidierte damals für die PDS und wollte Bundespräsident werden – nicht auszudenken, was daraus geworden wäre, mit Sahra Wagenknecht (dereinst) als Bundeskanzlerin: „Freuʼ Dich auf den Wechsel, Deutschland?“ Schlossers Kumpel Dietrich zur Nedden scheint jedenfalls eine Neigung zur damaligen Frontfrau der PDS gefasst zu haben: „Das streift bei mir schon an den Rand einer erotischen Obsession.“

Angela Merkel ist damals Umweltministerin, Horst Seehofer Gesundheitsminister. Als solcher will er Sozialhilfe für Asylbewerber auf „Sachleistungen“ umstellen. Währenddessen spricht der chinesische Staatspräsident Jiang Zemin dem Inselstaat Taiwan die Unabhängigkeit ab, wird Jizchak Rabin in Israel erschossen, weil er mit Palästinensern Friedensverhandlungen führte. Und Helmut Kohl warnt vor allzu flotten Natobeitritten des Baltikums, Polens und Tschechiens, denn es werde dabei „zu wenig“ über die „psychologische Situation etwa in Moskau nachgedacht“. Alles schon einmal dagewesen? Und wie man es auch macht, ist es verkehrt?

Vor unserem geistigen Auge ziehen die großen und kleinen Konfliktlinien der neunziger Jahre noch einmal vorüber. Markante Eckdaten sind der Historikerstreit um Ernst Nolte, die Rüschenbluse von Familienministerin Claudia Nolte, die Entführung und Freilassung Jan Philipp Reemtsmas oder der Völkermord der bosnischen Serben in Srebrenica. Und Ernst Jünger steuert tapfer auf sein hundertstes Lebensjahr zu, als habe der Tanz auf dem Vulkan gerade erst begonnen.

Henschels literarisches Programm findet sich in ähnlicher Weise in Jörg Schröders „wüste[r] Chronik der bundesdeutschen Nachkriegskulturgeschichte“ wieder. „Schröder erzählt“ darin von einer „dicken Schleimglocke“, die ihm beim Niesen auf seine Flanellhose geflatscht sei: „Nahezu niemand außer Schröder rückte öffentlich mit solchen Geschichten heraus. Ich verehrte ihn dafür.“ Verehrt wird auch Walter Kempowski, dessen Erzählweise in „Textblöcken“ oder „Snapshots“ hier Pate gestanden haben dürfte. Das ermöglicht es, spielerisch Leitmotivisches und Wiederkehrendes einflechten zu lassen, zum Beispiel kleine, aber treffende Bob-Dylan-Vignetten oder Short Cuts über Modedrogen und Promiskuität, Betroffenheitsprosa und Gemeinschaftslesungen.

Als Mann der Satire muss sich Schlosser einiges bieten lassen: Vera Lengsfeld bspw. zieht gegen einen Fortsetzungskrimi in der tageszeitung zu Felde: Darin werden prominente Bartträger in mehr oder weniger ausgefallener Manier um ihre Rente gebracht, was von der Lengsfeld als „Täterhumor“ im Gefolge der Judenpogrome gebrandmarkt und von Jürgen Fuchs in die Nähe von Zersetzungsoperationen der Stasi gerückt wird. Wiglaf Droste, Co-Autor dieser Geschmacklosigkeiten, wäre demnach eher zu spät als zu früh gestorben.

Zugegeben, das Pennäler-, ja Rüpelhafte, das der Satire mitunter anhaftet, mutet im Rückblick recht schal an; zugleich muss man einräumen, dass hier auch Großartiges entsteht und im Verein mit den dazu passenden Leserstimmen ein lebendiges Puzzle bittersüßer Zeitgeistkritik ergibt. Ein „gläubiger Christ“ wettert da bspw. gegen das „Elfte Gebot“ („Du sollst nicht lärmen“), das Moses seinem Knecht Gernhardt auf dem Feldberg eingegeben hat, und Friedrich Schorlemmer läutet den Klimawandel ein: „Ich will es nicht aufgeben, das Eis zu brechen, das Eis in mir und zwischen uns. Ich stelle mich. Jetzt. Ihnen.“

Das Angebot der Frankfurter Allgemeinen, den neuen Roman von Gabriele Wohmann zu besprechen, schlägt Martin Schlosser aus, nachdem er ihr Buch angeblättert hat: „Ich hielt es nicht aus, so etwas zu lesen.“ Aber das war noch nicht das Schlimmste: Die „verquasten Kriegserinnerungen“ Günter Kunerts finden ebenso wenig Gnade vor seinen Augen. Und im Hamburger Thalia-Theater erklingt wahrlich schauerlicher Gesinnungskitsch von Campino & Co. Konstantin Wecker singt: „Stürmische Zeiten, mein Schatz, Hochzeit der Falken. / Rund um die Insel unserer Liebe giftet ein Sturm. / Lieder und Verse sind am Verkalken. / Die Hunde winseln, Seher fallen vom Turm.“

Bei so viel Realsatire registrieren wir mit Erleichterung, dass sich Schlosser für eine Parodie des Genres Arztroman nicht erwärmen kann. Derweil bekommen die Journalistin Katharina Rutschky, das Autorengespann Droste/Henschel und der Zeichner Chlodwig Poth erste Auswirkungen einer militanten Cancel Culture zu spüren.

Das heutige Gebräu aus Gender-Sprech, esoterischen Theorien „rassische[r] Reinheit“ und obskuren Okkultismen à la Nostradamus führt Schlosser auf eine feministische Neuerscheinung von Murry Hope zurück, und von dort ist es zur Theosophie der Madame Blavatsky und zur Anthroposophie Rudolf Steiners nur ein kleiner Schritt. Aus der Ferne leuchtet Platons Atlantis herüber: „Jedwede Eigentümlichkeit der Rassen, des Blutes, des Glaubens, jedweder Lichtstrahl des Gedankens führt in letzter Linie zurück auf Atlantis“, orakelt ein gewisser Ignatius Donnelly (bereits 1882), und es gibt, scheintʼs, Verlage genug, die solchen „Humbug“ unter die Leute bringen, um damit das Feuer des Irrationalismus weiter anzufachen. In diesen Esoterik-Sumpf ist augenscheinlich auch Lutz Reinecke, Mitbegründer des Zweitausendeins Versands, geraten. Zieht er jetzt Michael Ende in seinen Sog „verbissene[r] Lummerlandforschung“?

Da passt es gut, dass eine „Arbeitsgruppe“ aus Hochschulforschern und „Beamten der Kultusministerien“ eine Rechtschreibreform ohne „öffentliche Debatte“ beschlossen und „in Stein gemeißelt“ haben will. Wir ahnen den Shitstorm bereits, der da auf Günther Drosdowski und seine Duden-Redaktion zukommen wird. Sie haben ihn sich redlich verdient: Die Beispiele fachidiotischen Versagens, die Henschel auf fünf Seiten auflistet, lesen sich wie ein großer Showdown. Ist damit der Untergang des Abendlandes eingeläutet? Oder wird, dereinst, Henschels schelmische Nabelschau auf die Welt von gestern als „Teil der reaktionären Roll-back-Welle gegen die Errungenschaften“ der Moderne zu werten sein? Seine Martin-Schlosser-Saga ist jedenfalls, auch dies ein politisches und ästhetisches Statement, konsequent in alter Rechtschreibung verfasst. Und ich sehe sie schon vor mir, die Seminararbeiten künftiger Studentengenerationen, die beim Zitieren hinter jedes „daß“ ein [sic!] setzen werden, weil sie es für einen Fehler halten. Oder wird künstliche Intelligenz ihnen das abnehmen? „The Answer, mein Kind, musse feife inne Wind.“

Titelbild

Gerhard Henschel: Schelmenroman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024.
608 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783455016642

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