Vom Pinselstrich der Sprache

Martin Seel auf den Spuren von Wittgensteins Sprachspielen

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Alter von drei bis fünf Jahren können wir unsere Muttersprache in der Regel schon recht brauchbar benutzen. Wir können uns verständlich machen, Wünsche äußern, Erlebtes berichten und uns erinnern. Zu verstehen wird so selbstverständlich wie zu atmen oder zu gehen. Wer denkt noch darüber nach, was zu tun ist, um eine Treppe hinaufzusteigen. So verhält es sich auch mit Sprache.

Wie sieht ein Haus aus, eine Kirche, ein Mensch? Ein Segelboot im Wind, ein Baum, Wolken? Wie sehen Bilder aus, auf denen eine Kirche, ein Mensch, ein Segelboot im Wind, Bäume oder Wolken zu sehen sind? Wir betrachten sie und sagen: Das ist ein Mensch, ein Segelboot im Wind, das sind Bäume, und hier sind Menschen zu sehen. Es gibt somit Dinge und ihre Abbildungen, die wiederum auf die Dinge rückverweisen und sich auf dem Bild als diese zu erkennen geben. Genau das macht Sprache.

531 Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig, wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)

Das, was sich in der Sprache wie auch im Denken zwischen diesen beiden Begrenzungen abspielt, nennt Martin Seel „‚Wittgensteins Gedanke‘ (oder auch ‚Wittgensteins Unterscheidung‘). Ihn zu verstehen, bedeutet zu verstehen, warum – mit Herders Worten – ‚das Reich der lebendigen Sprache, Demokratie ist‘.“

Entschieden und im Einklang mit Wittgenstein, wendet sich Seel damit gegen jede Art von Hierarchie innerhalb der Sprache; insbesondere gegen den Gedanken, die eigentliche Aufgabe der Sprache sei ein unmittelbares Benennen frei von allem rhetorischen Schnickschnack, um es salopp zu formulieren. Die Rhetorik in all ihren Ausprägungen,so die Vertreter einer hierarchisch gegliederten Sprache, erscheint diesen als eine Art Schmuck, auf den man zwar nicht (ganz) verzichten kann, der aber doch dazu tendiert, die logisch-eindeutige Funktion der Sprache zu verdecken.

Noch bis zum 18. Februar 2024 sind in der Schirn in Frankfurt Werke von Lyonel Feininger zu sehen. Wie sieht ein Haus aus, eine Kirche, ein Mensch?, haben wir zu Beginn gefragt, und diese Fragen stellen sich auch vor den Bildern Feiningers. „Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)“ Feininger nun zeigt uns Häuser, Kirchen und Menschen, die so, um die Formulierung Wittgensteins zu verwenden und zu variieren, nur auf diesem Bild, nur in dieser Art zu malen existieren. Auf Feiningers Gemälde Marktkirche in Halle aus dem Jahr 1929 lässt sich diese Kirche erkennen, und doch ist es mit diesem Bild wie mit Gedichten: Was es uns zeigt, zeigt es nur dort, auf diesen einhundertfünf mal achtzig Zentimetern Leinwand.

So auch lassen sich Goethes Worte aus dem Gedicht Wandrers Nachtlied „‚Über allen Gipfeln ist Ruh‘“ nicht ersetzen durch die Formulierung „‚Im Gebirge herrscht Schweigen‘“. Denn, wie Martin Seel ausführt, hat der Satz im Gedicht

eine völlig andere Stellung und Bedeutung. Er wird von einem Zeilensprung unterbrochen, das dunkle „Ruh“ reimt sich auf „du“ in der vierten Zeile und wird in dem akustisch und semantisch dunklen „Ruhest du auch“ in der Schlusszeile wieder aufgenommen. „Nur diese Worte, in diesen Stellungen“, drücken aus, was sie zur Gestimmtheit des Gedichts beitragen.

Sprache und Denken kommen nur dann zu sich selbst, wenn sie in ihrer ganzen Fülle und ohne die Unterscheidung eigentlich – uneigentlich verstanden werden. Es ergibt keinen Sinn, die Worte „schwarze Milch der Frühe“ deutend zu übersetzen, so als ließe sich Celans sprachliches Bild gleichwertig auch in anderen Worten ausdrücken. 

Als Emeritus nimmt Martin Seel sich die Freiheit, seine Überlegungen zu Wittgenstein in eine diesen angemessene Form zu kleiden. Eine Fülle von Anmerkungen, wie sie einem das Lesen mancher Promotion oder Habilitation verleiden, sucht man ebenso vergebens wie eine systematische Gliederung. Seel beginnt mit einem „Auftakt“, und hierbei sollten wir vielleicht durchaus an den eines Musikstückes denken. Es handelt sich auf knapp vier Seiten um kurze Aphorismen, die, noch bevor der Autor seine Gedanken entwickelt hat, als eine Art Zusammenfassung eben dieser Gedanken gelesen werden können. Ein Beispiel: „In den Spielen der Sprache geht es darum, wie die Welt uns etwas angeht. Ginge sie uns nur in einem Sinn etwas an, ginge sie uns gar nichts an.“ 

Es folgt, nach einer Einleitung, in der Seel sein weiteres Vorgehen skizziert, ein historischer Rückblick, benannt „Vorgeschichten“. Teil zwei „Wittgensteins Gedanke“ bildet, nicht nur aufgrund seines Umfanges von etwa 180 Seiten, den Schwer- und Mittelpunkt des Gesamttextes. Der dritte Teil mit dem Titel „Nachbetrachtungen“ korrespondiert gewissermaßen mit dem Auftakt. Er ist umfangreicher als dieser und umfasst etwa vierzig Seiten. Wiederum sind es kurze Abschnitte, in denen Seel nochmals seine Beobachtungen im Hinblick auf die Wittgensteins Denken zu Papier bringt.

Diese Beobachtungen sind eher ein erläuterndes Fortführen von Wittgensteins denkerischem Weg als bloße Betrachtungen. So ist es kein Zufall, dass er seinen Überlegungen die gleiche Form gibt wie Wittgenstein den seinen. Dessen Philosophische Untersuchungen gliedern sich in 693 unterschiedlich lange Abschnitte, bei Seel sind es 412. Auch deshalb scheint es angemessen, Wittgensteins bescheidene Erläuterung seiner Gedankengänge im Vorwort auf die von Seel zu übertragen. Die „Natur der Untersuchung“, so Wittgenstein, bedingt ihre Form:

Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedenkengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen. – Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches sind gleichsam eine Menge von Landschaftskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind.

Und was Wittgenstein über sein Werk, erneut bescheiden, uns nahelegt, könnte gleichermaßen gelten für die Gedanken von Martin Seel wie für das hier vorliegende Plädoyer für die Lektüre beider Bücher: „Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen. Sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“ Doch damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Hinweisen möchten wir auf eine eher unscheinbare Bemerkung Wittgensteins, die, soweit wir uns erinnern, der Aufmerksamkeit Martin Seels entgangen ist: „Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit beschieden sein sollte, Licht in ein oder das andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich, – aber freilich nicht wahrscheinlich.“

Datiert ist das Vorwort Cambridge, im Januar 1945. Wittgenstein war jüdischer Herkunft, und für ihn gilt, was Peter Weiss in seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands über Gustav Mahler mutmaßt:

In Wien war auch Mahler zu Hause gewesen, sein Empfinden und Denken war dort geformt worden, von der Unstetigkeit, dem Wandertrieb, der zerrißnen Tiefe und Geistigkeit seiner Widersacher, zu ihrem Vorsänger war er geworden, viele derer, die jenseits der Grenze standen, hatten ihm gelauscht, vielleicht zu Tränen gerührt, bis sie ihn, lebte er noch, aufs Pflaster gedrückt, ihm den Mund am Stein zerrieben hätten.

Eine demokratische Sprache, deren Umrisse Wittgenstein und in seiner Nachfolge Martin Seel zu zeichnen versuchen, kann nur eine sein, welche die Widersprüche, die Fülle und die unabschließbare Vielfalt menschlicher Existenz in den Blick nimmt. Wir wollen hoffen, auch wenn es nicht wahrscheinlich ist, dass einigen von denen, die sich mit der eindimensionalen Weltsicht der neuen und doch so alten Verführer zufriedengeben, das Licht einer vielfältigen Sprache und damit eines vielfältigen Denkens doch noch aufgeht.

Titelbild

Martin Seel: Spiele der Sprache.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
320 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973310

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