Eine biographische Mahnung
Jan Kuhlbrodt schreibt mit „Krüppelpassion“ ein aufrichtiges und ernsthaftes Buch über seine persönliche Geschichte mit Multipler Sklerose
Von Florian Birnmeyer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJan Kuhlbrodts Werk Krüppelpassion: oder vom Gehen wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet. Er hat am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert und zahlreiche belletristische, lyrische sowie dramatische Texte veröffentlicht. Sein Erzählen ist von philosophischen Lektüren geprägt, die er wie einen Referenz- und Orientierungsrahmen mit sich trägt. In Krüppelpassion verarbeitet der Autor seine eigene Geschichte, nämlich seine fortgeschrittene MS-Erkrankung, derentwegen er im Rollstuhl sitzt.
Ich möchte mich in der vorliegenden Buchkritik vor allem auf das Leben und die Geschichte des Erzählers konzentrieren, der eng mit dem Menschen Jan Kuhlbrodt verwoben, aber dennoch nicht identisch ist. Es handelt sich um eine Biographie, erzählt aus der Ich-Perspektive, was die Erzählung der in Karl-Marx-Stadt geborenen Erzählstimme sehr lebhaft und unmittelbar erfahrbar macht. Wir durchleben in mal eine (halbe) Seite, mal mehrere Seiten umfassenden Kapiteln den Weg eines erkrankten Schriftstellers, der in einem atheistischen Umfeld in der DDR aufwächst und früh mit Literatur in Kontakt kommt.
Der Titel Krüppelpassion suggeriert eine leidende, trübe Stimmung, doch im Gegenteil ist der Ton meist wütend und sehr agil. Nie hat man den Eindruck, dass der Ich-Erzähler das Steuerruder aus der Hand gibt oder den Mut aufgibt, stattdessen sind da Zorn, Wut, Ärger, Aufbegehren und Rückzug in die Welt der Literatur. Mal berichtet er von seiner rebellischen Haltung zum Wehrdienst in der DDR, mal erinnert er sich an die Science-Fiction-Romane seines Vorbilds Stanislaw Lem, die seine Kindheit prägten und die Initialzündung für die literarische und philosophische Begeisterung darstellten. Der Berufswunsch Raumfahrer, der daraus hervorging, blieb allerdings nur ein Traum, stattdessen wurde Kuhlbrodt Schriftsteller und entdeckte auf diese Weise ferne Welt.
Wie auch bei der Mutter tauchen beim Erzähler die ersten Symptome seiner Krankheit bereits früh auf. Beim Gehen knickt er als junger Mann während des Studiums hin und wieder um oder verliert das Gleichgewicht, ein frühes Anzeichen der Erkrankung. Im fortschreitenden Stadium greift die Schwäche der Muskeln um sich: Nun muss der Erzähler auf Krücken gehen, hat ab und zu eine Blasenschwäche oder fällt zu Boden. Der Erzähler lässt die Leser*innen daran teilhaben, wie die Erkrankung immer mehr Raum einnimmt, wie sich seine Welterfahrung einengt, wie die Reisen weniger werden und auch die Scham nachlässt, wenn man sich im Institut, das keinen Aufzug hat, zum Beispiel robbend auf den Treppen fortbewegt.
Schließlich wechselt Kuhlbrodt in einen Rollstuhl, als das Gehen zu beschwerlich wird. Von all diesen Einschränkungen bzw. Behinderungen, die ungewollt und als unwillkommene Gäste ins Leben Kuhlbrodts treten, berichtet der Erzähler mit einer angenehmen Pathoslosigkeit, zugleich aber nicht in der Form eines nüchternen Berichts. Vielmehr handelt es sich um eine mal romanhaft erzählende, mal philosophisch nachdenkliche, mal sehr zornige und kämpferische Biographie, die über das Thema Behinderung aufklärt. Zorn kommt bei Kuhlbrodt dann auf, wenn er von außen, durch die Gesellschaft, zusätzlich behindert wird.
Die Gesellschaft in Deutschland könnte die Barrieren für Menschen mit körperlicher Behinderung längst abgebaut haben. Stattdessen kann Kuhlbrodt, wie er berichtet, nur durch Lektüren verreisen, er kann wegen einer fehlenden Rampe nicht mehr unterrichten, er kann keine Lesungen mehr geben. Reisen, sich bewegen, einkaufen, all das wird für den Erzähler mit und in einem Rollstuhl beschwerlicher als ohne. Auch Busfahren wird zu einer Herausforderung. Kuhlbrodt berichtet von diesen Behinderungen, die ihn zunehmend an die Wohnung binden, seinen Bewegungsradius einschränken. Auch dies wird ein Grund sein, weshalb er seine Geschichte niedergeschrieben hat, um sich ihrer zu bemächtigen, um wieder Herr der Situation zu werden und um mehr Kontrolle zu erlangen.
Auch wenn Kuhlbrodts Roman manche Längen aufweist und leider zu viele Rechtschreibfehler, die in der zweiten Ausgabe zu korrigieren wären, ist diese erzählende Biographie sehr lesenswert, vor allem als ein aufrichtiges und ernsthaftes Dokument einer MS-Erkrankung und ihrer Auswirkungen auf einen Menschen. Damit verbunden ist das Leben als Autor, als ehemaliger DDR-Bürger und als Philosoph (und Student der Politischen Ökonomie), was einen reizvollen, vielfältigen und facettenreichen Bericht ergibt. Es ist eine Tour durch die deutsch-deutsche Geschichte, ein Lehrbericht über Erkrankung und Behinderung, ein privates, aber auch ein öffentliches Dokument, das mehrere Schichten umfasst und daraus seine Kraft bezieht.
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